Weidwund (Bitter as Willow)
von Nickey, übersetzt von Amber

Anmerkung der Übersetzerin:

Ich danke Nickey für ihre wundervolle Geschichte und ihr Vertrauen in mich. Ich danke Cúthalion für ihr Feedback und diese fantastische Site. Und ich danke meinem Beta Melilot für's gewissenhafte Korrekturlesen, für *etliche* gute Verbesserungsvorschläge und ganz besonders für den Titel.

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Der Alte Weidenmann sieht endlich die Stunde der Rache nahen.

Nur noch ein bißchen... Ja, hier entlang... Hier kommt ihr leichter voran... So ist’s recht.
Ihr seid jetzt müde, nicht wahr? Es ist so heiß, und ihr seid den ganzen Tag lang gewandert und sorglos durch meinen Wald spaziert. Habt ihr daran gedacht? Daß dies hier mein Wald ist? Natürlich nicht. Und jetzt umschwärmen euch Hunderte von Mücken, die beißen und stechen. Aber seht, hier ist es kühl, und ihr könnt ausruhen von aller Müh’ und Plag’. Kühl ist es unter den Bäumen, kühl unter meinem Blätterdach. Ich will euch einwiegen mit meinen Zweigen, die ins Wasser hängen, und euch ein Schlaflied singen vom braunen Wasser, ein Lied von grünen Wäldern.

So ist’s recht. Legt euch ein wenig hin. Ach, ihr habt soviel Kummer und Sorgen. Eure Last ist ja so schrecklich schwer. Aber bei mir könnt ihr rasten. Ich kann alle Last von euch nehmen, wenn ihr mich lasst. Ihr braucht nur zu lauschen. Hört ihr mein Flüstern? Aber gewiss doch. Lasst mich helfen.

Euch erscheint alles so schrecklich wichtig, stimmt’s, meine kleinen Eintagsfliegen? Ihr flattert herum und schnattert, ihr schwatzt und huscht hin und her, schlimmer noch als die kleinen gefiederten Wesen, die kommen und in meinen Zweigen sitzen, die kommen und ihre Nester in meinen Astgabeln bauen. Aber ihr... ihr seid gefährlicher als sie, obwohl ihr so klein seid. Eure Äxte sind genauso scharf wie die der großen Leute. Eure Feuer brennen genauso heiß. Glaubt nicht, dass ich das nach all der Zeit vergessen habe. Es scheint mir kaum eine Sonnenwende her zu sein, dass euer Volk auf seinen Wanderungen hierher kam. Ihr habt euch die Erde untertan gemacht mit eurem geschäftigen Treiben, habt gebaut und gerodet, gepflügt und zerstört. Denkt nicht, ich hätte es vergessen. Für mich ist es, als wär’ es gestern gewesen.

Schlaft jetzt. Es ist jetzt Schlafenszeit. Ihr habt Zeit, oh ja, so viel Zeit. Die Zeit fließt dahin, aber niemals fließt sie davon, so wie mein Bach, meine Weidenwinde, braun und kühl und träge. Ihr seid nur ein kleines Plätschern im Zeitenstrom, kaum ein Kräuseln der alterslosen Oberfläche. Aber das soll euch nicht betrüben, denn welche Eintagsfliege kann sich mehr erhoffen? Und ich will mich eurer erinnern, wenn euer Fleisch meine Erde speist, euer Blut meine Wurzeln tränkt. Ich will mich eures Geschmacks erinnern und eures fröhlichen Geschnatters und eurer grausamen Lieder. Denn nicht alle Wälder lichten sich.

Ihr könnt mir nämlich nicht entrinnen. Ich bin überall und nirgends. Mein Lied liegt in der Luft, durchdringt die Erde, dringt euch durch Mark und Bein. Hier bin ich der Herrscher, und ihr seid zu mir gekommen. Zugegeben, wenn ihr nicht von selbst gekommen, nicht so unbeschwert durch eure Hecke gestolpert wärt, durch Mauerwerk und eisernes Tor, meine Melodien wären nicht so süß, so betörend gewesen wie jetzt. Und da ich das weiß, da ich weiß, wie machtlos ich jenseits meines kleinen Winkels bin, der alles ist, was mir in dieser Zeit noch geblieben ist, da ich all das weiß, merke ich mit einem Mal, wie wütend ich bin. Diese Wut hat sich langsam angestaut, aber sie währt schon so unendlich lang, lang sogar für mich. Und jetzt, jetzt seid ihr zu mir gekommen. Süße Erwartung. Was soll ich nur mit euch machen? Ah, was wohl.

So ist’s recht. Lehnt euch an mich, kuschelt euer weiches Fleisch an meine starke Rinde, und ich will für euch singen, von der Zeit, vom vorbeifließenden Wasser eines nie versiegenden Stroms, von lang vergangenen Zeiten, als der Wald noch dem Land gehörte und es liebevoll in seinen Mantel hüllte, als der Alte Weidenmann noch stolz und aufrecht dastand und seine Zweige nur aus Liebe zur Erde neigte, um ihre Krume ehrerbietig zu streicheln. Kommt, legt euch zu mir und schlaft ein Weilchen. Für immer.

Da sind doch wahrhaftig noch zwei, die sich mir widersetzen. Was kann euch eine alte graue Weide schon tun? Genau, der Boden unter meinen Zweigen ist mit Blättern weich gepolstert, grauen und gelben, gelben und grauen, und die Sonne scheint so grell. Schließt nur kurz die Augen, nur ganz kurz. Ah, einer von euch hat sich ergeben, die Glieder so schwer und schläfrig, und nun liegst du an meinen Boden geschmiegt, das Gesicht zur Erde gewandt, und ich kann dich fühlen, warm und geschmeidig, und dein kleines Herz schlägt so schnell wie das einer winzigen kauernden Maus. Aber da ist noch einer. Dich kann ich nicht so deutlich fühlen. Du allein stehst mit beiden Beinen fest auf dem Boden, auf großen Füßen, groß selbst für einen von euch, und sie schützen dich vor der Erde, vor meiner Umarmung. Hörst du mein Flüstern nicht? Vom Säen und Wachsen, vom Winterschlaf, wenn die Äste nackt in den Himmel ragen und vom kommenden Frühling träumen? Du schwankst wie ein Schössling, und doch weiß ich nicht, ob du mich hörst.

Es ist nicht wichtig. Wenigstens drei von euch habe ich, das muss mir für den Augenblick genügen. Auch du, du Großfuß, du Kleingeist, der du die Ohren verschließt und meinen Sirenensang nicht hörst, auch du wirst dich mir am Ende ergeben. Am Ende. Doch zuvor will ich ein wenig in mich gehen. Was erscheint mir als passende Strafe, da mir jetzt endlich ein kleiner Teil meiner Rache vergönnt ist? Was ist billig und recht, was dem Verbrechen angemessen, nun, da ich in aller Ruhe darüber nachsinnen kann? Wie soll es enden?

Ihr zwei, die ihr so vertrauensvoll an mich gelehnt schlaft, die ihr seufzend ein wenig hin und her rutscht und die Hände nacheinander ausstreckt, die ihr nach meiner Rinde greift, als sei es die Mutterbrust, wie soll ich mit euch verfahren? Du, der Kleinste, du hast Haar vom leuchtenden Braun der Haselnuss, liebreizend jung und schön. Fast möchte ich bei diesem Glanz lächeln, müsste ich nicht an Schösslinge denken, abgeholzt in voller Blüte, das frische Grün vernichtet, an junge Triebe, grausam beschnitten, oder an Birken, hochgewachsen und weiß, die verzweifelt an buschbewachsenen Hängen ums Überleben kämpfen oder die der Wind auf kahlen Höhen niederdrückt. Nein, ich habe kein Mitleid. Jetzt nicht mehr. Ich bin verrottet bis ins Mark, schwarz bis ins Herz, und ich falle nicht herein auf die Schmeicheleien eines hübschen, unschuldigen Gesichts und den Glanz der Haselnuss auf ungebändigten Locken. Dennoch...

Ich kann es wenigstens kurz machen. Wenn es soweit ist, will ich dich schnell packen, mein Kleiner, schnappen und packen und dich in Wärme und Dunkelheit hüllen und an meinen Busen drücken, bis dir die Sinne vergehen. Wenn ich vorsichtig bin, wirst du vielleicht nicht einmal wissen, wie dir geschieht, und wenn das auch nicht die vollständige Genugtuung ist, wie ich sie mir erträumte, stört es mich seltsamerweise nicht. Ich raschle etwas unbehaglich mit den Blättern und denke wehmütig an meine geliebten Wälder, vor unendlichen Zeiten, als die Welt noch so jung war wie dieses liebe Haselkind...

Genug davon. Kommen wir jetzt zu dir, mein Jüngling mit dem rostroten Haar. Du bist rosig und strahlend wie ein blühender Kastaniebaum, so ansehnlich und gelenkig, und doch ist dein Blut so schwarz wie das des übelsten Ork. Dachtest du, ich hätte dich nicht erkannt? Dachtest du, ich hätte deine fröhliche Stimme nicht schon früher gehört, deinen Atem im Wind gefühlt, deinen scheuen Schritt am Rand meines Reichs? Dachtest du, ich würde das schwarze Mal der Brandybocks nicht an dir sehen? Baumschlächter! Du und deine Sippe. Mir ist, als sei es gestern gewesen, als ich den Tod meiner Brüder in den Wind hinausschrie und die Flammen quälend laut in der reglosen Luft prasselten und die Asche sich wie ein schwarzes Leichentuch auf meine Äste legte. An diesem Tag trauerte ich, eine Trauerweide fürwahr. Ich werde es nie vergessen. Ich werde es nie vergeben. Und nun, meine kleine Kastanie, so sorglos und unbeschwert, so kühn, dass du zu wissen glaubst, was es mit meinem Wald auf sich hat, nun kommst du endlich durch eure Hecke in mein Reich und ringelst dich zwischen meinen Wurzeln zusammen und bist ganz in meiner Gewalt.

Nein, mit dir habe ich kein Mitleid, hier bin ich gnadenlos, so gnadenlos wie deine Familie der meinen gegenüber war. Du sollst meine Rache zehnfach zu spüren bekommen, wenn ich mit dir fertig bin, kleine Kastanie, ich will dich aufschlitzen und dein fahles Fleisch über den Waldboden verstreuen. Stück für Stück will ich dich auffressen, und du sollst jeden einzelnen Bissen spüren. Unablässig will ich dir ins Ohr flüstern und du sollst meinen Zorn fühlen. Die Rache wird mein sein und süß, oh, so süß.

Zuletzt will ich mich um dich kümmern, auch wenn du nicht der letzte bist. Du liegst so dicht am Boden, dass meine abgefallenen Blätter von deinem Atem rascheln, und ich fühle deinen Pulsschlag, nichts als schwarzes Haar und ein ungezähmtes Herz, die Furcht dein ständiger Begleiter. Was soll ich mit dir tun? Dich umgibt ein Winterhauch, immergrün doch kalt, er strömt aus dir heraus wie Nebel, meine kleine Tanne. Du bist gertenschlank und doch zäh wie ein knorriger Hagedorn, das spüre ich in meinen Wurzeln. Aber ich kann noch mehr spüren. Dunkelheit umgibt dich, mein Kleiner, und es wäre dir schlimmer ergangen als mit dem alten Weidenmann, wärest du nicht vom Weg abgekommen. Vielleicht wirst du mir noch für meine Rache dankbar sein, so seltsam das jetzt auch klingen mag.

Denn ich kenne auch dich. Glaube nicht, dass ich deine vorsichtigen Erkundungen an meinen Ausläufern nicht bemerkt hätte. Vor Jahren schon habe ich deinen Atem geschmeckt, als du leichtfüßig durch das Tor gehuscht bist, um am Rande meines Waldes umherzustreifen und meine Pilze zu sammeln, du hast meine Bäume erklettert und gesungen wie das gefiederte Volk, hell und süß, während du hoch droben von morschen Ästen geschwungen bist. Du bist beherzter als die meisten deines Volks, aber ich kenne dich. Ich weiß, was du im Dunkel der Nacht in den Wald hineingeflüstert hast, ich weiß, was der Fluss dir nahm, und was du fürchtest. Ich denke, es ist nur angemessen, dass ich dir das gleiche Schicksal angedeihen lasse. Denn obwohl bei dir das schwarze Mal der Brandybocks etwas verblasst ist, gehörst du doch zu denen, die ich am meisten hasse, und es erscheint mir nur gerecht. Ja, oh ja...

Auf mit dir, mein ungezähmtes Kind, mein düsterer Knabe. Spürst du nicht das Wasser, braun und kühl und träge? Auf mit dir, und schlepp’ dich die wenigen Schritte ans Ufer, dir ist doch so heiß, nicht wahr? Das Wasser ist kühl und wird dich erfrischen, und dann wollen wir dich heimführen in die Tiefe, dorthin, wo sich meine Wurzeln laben, wo die Elritzen schlafen und die Wasserpflanzen sich zum Abschied wiegen, und wir werden dich nie mehr gehen lassen. Die Welt wird dir nicht fehlen, das weißt du, denn du wirst nie mehr allein sein. Ich weiß, was dich am meisten ängstigt, und auch, was dir am meisten fehlt. Ja, so ist’s recht...

Ah, ich wusste nicht, wie befriedigend Vergeltung sein kann. Es ist ein herrlicher Tag, die Sonne durchdringt voll Freude meine Rinde mit ihrer Wärme. Ich schmecke die Süße der Luft und weiß, es ist gut. Und doch, und doch... Wo ist der Vierte? Du mit den großen Füßen und dem breiten Rücken, wo bist du denn? Du suchst auf meinen Pfaden nach deinen entlaufenen Tieren – wie fürsorglich du bist! Es wird dir am Ende nichts bringen, aber weil dir so viel daran liegt, will ich sie sicher zum Tor geleiten. Kein Leid soll sie treffen, denn sie sind ohne Schuld. Deine Tiere haben niemals eine Axt geschwungen oder die verfluchten Flammen entzündet. Ich werde mich um sie kümmern. Hörst du mich rufen? Komm, meine starke junge Eiche, glaub mir, du kannst gefahrlos zurückkehren...

Was ist das? Wer wandert so sorglos singend auf meinen Pfaden? Oh nein, du bist es, Herr des Waldes. Warum jetzt? Wenn ich so dicht vor dem Ziel bin, dass ich den Schlag ihres Lebens beinahe im Herzen schmecken kann. Andererseits: Warum nicht jetzt? Du weißt stets, wann es an der Zeit ist, ob für Wind, Sonnenschein oder sanften Frühlingsregen, und stets bist du der Meister. Rasch jetzt, ich muss handeln, bevor es zu spät ist, muss schnell und hart zuschlagen, und bald hab ich euch alle. Auch wenn der Starke noch auf dem Pfad ist, könnte ich ihn doch noch in die Falle locken, er wird den Geräuschen nachgehen, und du gehst vielleicht vorbei, die Hände voller Lilien und in Gedanken bei deiner Herrin, dein Herz erfüllt vom Duft der Blumen und dem Geschmack des Honigs. Nur rasch jetzt...

Ich hatte Recht, was dich betrifft, junge Eiche, großfüßig bist du und engstirnig, aber kräftig und willensstark. Es war leichtsinnig von mir, dich entkommen zu lassen, das weiß ich jetzt, leichtsinnig, dich umherstreifen zu lassen, fort von meinem Lied und der schweren Luft, solange mein einschläferndes Wiegenlied noch auf taube Ohren stieß. Du wirst mein Untergang sein, das meine ich zu wissen, und ich verfluche dich dafür... Du hast deinen düsteren Hagedorn wieder; das Wasser rinnt an ihm herab und tränkt meine Wurzeln, aber nie wird sein Blut nun meine Weidenwinde nähren, und ich beweine den Verlust, und in mir brennt Wut, eine schwelende, unauslöschliche Glut. Aber ich habe deine anderen Kinder, und die sollst du nicht zurückbekommen, den Brandybock-Schlächter und die kleine Haselnuss, nein, die nicht! Und magst du auch zu scharf geschliffenen Metall greifen und das grausame Feuer entzünden, so, wie ich es von Anfang an vermutet habe, denn ich wusste, daß du nicht besser bist als die anderen. Ich werde sie nicht hergeben!

Oh nein... Bitte, Herr des Waldes, soll mir denn nicht einmal ein ganz kleiner Teil meiner Rache vergönnt sein? Gönnst du mir nicht einmal den blühenden Kastanienjungen, der sich selbst so unbesorgt an meinem Fuße niedergelassen hat. Süß wie eine Nuss wird er sein, und ich will ihn ganz sanft zermalmen, er wird es nicht einmal spüren, wenn du es so wünschst. Bekomme ich nicht einmal diesen einen, als Wergeld für all meine Brüder, die man in ihrer Blütezeit so erbarmungslos abgeholzt hat? Gewährst du mir nicht einmal diesen schwachen Trost? Oh, du bist grausam, Herr des Waldes, so grausam...

Ich bin der Alte Graue Weidenmann, und ich versinke langsam. Die Sonne scheint mir blasser, und mein Wald ist fern. Ich fühle den Sog der Erde, des Wassers an meinen Wurzeln, braun und kühl und träge. Ich versinke in Schlaf, und ich weine um meine Wut, die ich ertränken, meinen Schmerz, den ich begraben muss. Ich bin der Alte Graue Weidenmann, und es werden viele Jahre ins Land gehen, ehe ich mich wieder rühre. Die Sterne werden über mir kreisen und die Zeiten werden vergehen, und es mag sein, dass man mich vergisst, dass der Herr des Waldes mich vergessen macht. Aber auch wenn man mich jetzt zur Ruhe schickt, auch wenn man mich dazu verdammt, in der Finsternis die Zeitalter zu verdösen, tief im Herzen, meine Kleinen, weiß ich, daß dies nicht das Ende ist. Unendlich oft habe ich den Sommer vergehen, den Winter weichen sehen, und wahrlich, ich sage euch, euer kurzes Leben wird euch Eintagsfliegen nichts nutzen. Einst werdet ihr zu mir zurückkehren, und wenn nicht ihr, dann eure Kinder oder eure Kindeskinder. Und dann bringen wir dies hier zu Ende, meine Herzchen. Denn ich bin der Alte Weidenmann, und ich kann warten. Und ich werde nie vergessen und nie vergeben. Denkt daran.


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