Kind des traurigen Wassers (Child of the sad water)
von illyria_pfyffin, übersetzt von Cúthalion

Die See nannten wir sie, diese riesige, grünlich-braune Wasserfläche, die unsere Lebensader war. Wir lebten an ihren Ufern – schmutzige, felsige Streifen Land, übersät von einem Wirrwarr von Landungsstegen und Mühlen und klapprigen Wasserrädern, die knarrten, während sie schlammiges Wasser in die Kanäle spritzten, die unsere kleinen Kornfelder, unsere kleine Obstplantagen und Gärten tränkten. Wir ruderten unsere Einbäume und unsere leckenden Flöße von einer Seite der See zur anderen, warfen geflickte Netze aus und Schilfkörbe, um Muscheln und den silberstreifigen, schwarzen Fisch einzusammeln, der im Wasser gedieh. Wir badeten am Ende des heißen, erschöpfenden Tages darin, während die Sonne, die langsam in den rötlichgrauen Dunst im Westen hinab tauchte, dem Wasser die Farbe von Ton verlieh, gesprenkelt mit dem Rot und Grün feiner Wassergräser. Vier Ströme ergossen sich hinein, flach von zahlreichen Erdrutschen. Unsere Ziegen tranken daraus, unsere Maultiere und Hunde... und an den stilleren, weniger bevölkerten Abschnitten der Küste stillten kleine sandfarbene Füchse ihren Durst, wachsame, grau gefleckte Hasen, versteckt hinter Binsen und Rohrkolben, braun gesprenkelte Fasane mit ihren Küken und langbeinige Vögel, die sich nur aufhielten, um ihre gebogenen Schnäbel in das Wasser zu tauchen, ehe sie ihre schwarzweißen Flügel weit ausbreiteten und sich mit rascher, herzzerreißender Anmut in die Luft erhoben.

In manchen Jahren blieb der Regen aus, und die See ermattete und schrumpfte zu einem großen, suppigen Tümpel, ihre Ufer brüchige Halskrausen aus toten Flechten, schmutzigem Grün und Dürre. In manchen Jahren, wenn der Regen in schonungslosen Niederschlägen herabstürzte und rotbraunes Wasser, schlammig von weg gespülter Erde, durch tief ausgewaschene Gräben die Berghänge hinab brüllte, verwandelte die See ihre Ufer in Sümpfe. Trümmer und Stücke unserer Hütten trieben in Strömung und Strudeln, und die aufgedunsenen Kadaver toter Tiere verfingen sich darin. Unsere Pflanzen ertranken in schwarzem Schlamm und braunem Wasser. Wir flüchteten in die kleinen Hügel im Norden und drängten uns geduldig und nass aneinander, bis die Wut der See nachließ und es an uns war, die Trümmer fort zu räumen und von vorne anzufangen. Manchmal, wenn wir nach Muscheln, Krabben, Aal und Fisch tauchten, unsere einzige Speise nach der Sintflut, dann fanden wir aufgeblähte Leichen mit zerfaserter Haut und Fleisch, in Wrackteilen unter Wasser gefangen. Manchmal wurde eine Hand ans Ufer gespült, manchmal ein Kopf, die Züge nicht länger menschlich. Aber noch immer kämpften wir um das Recht, unserer Hütten so nah an der See aufzubauen wie möglich; wir umarmten ihre Macht und ihre Reichtümer, ihre Gefahr und ihren Trost mit hungriger Gier.

Zu manchen Zeiten flossen blutig rote Abwässer, bleifarbener Schlamm oder schwarze Brühe, durchsetzt mit unbekannten Klumpen, von den toten, westlichen Bänken herab; sie stanken, dampften und zischten, während sie die Felsen überspülten. Dann schossen Fische an die Oberfläche; ihre Mäuler öffneten und schlossen sich krampfhaft, und am nächsten Morgen fanden wir sie zu Tausenden tot dahintreiben, die Kiemen grau und schleimig. Der Geruch ihrer faulenden Leiber waberte durch das Dorf, sickerte durch die dünnen Wände unserer Hütten, hing in unseren Schilfmatten und in unseren zerfetzten Ledertüren. Das üble Wasser schwärzte die Gräben; es ließ die Bohnen und Flaschenkürbisse in unseren Gärten welken und verfärbte ihre Blätter gelb, kränklich braun und rostrot. Es gab Hunger, Seuchen, Zwietracht und Tode. Dann vergingen die Monate, manchmal sogar ein Jahr, und die See heilte langsam. Die, die das Gift überlebt hatten, begannen damit, aufzuräumen und wieder aufzubauen. Kinder planschten wieder in den Untiefen, Frauen paddelten wieder in ihren Kanus und warfen wieder ihre Körbe aus, und die Männer teilten ihre Grundstücke auf und pflanzten neu an. Stets kehrten wir zu der See zurück, unserer Wiege, unserem Grab... mit dem hilflosen, gläubigen Verehrung eines Kindes für seine Mutter.

*****

Mein Großvater wurde im Westen geboren, jenseits der Berge. Man gab ihn zu dem Kapitän eines kleinen Frachters in die Lehre, als er erst zehn war. Fünf Monate später fiel das Schiff den Korsaren in die Hände, die die Ladung verlosten und jeden körperlich fähigen Mann an die Sklaventreiber verkauften. Keine sechs Monate, nachdem er die Küsten seiner Heimat in Dol Amroth verlassen hatte, fand sich mein Großvater als Arbeiter auf den Feldern wieder, die die See umgaben.

Er hatte nie versucht zu fliehen, denn die Bestrafung für flüchtige Sklaven war schlimmer als der Tod. Er dachte wohl daran, sich das Leben zu nehmen, mehr als einmal, aber dann erinnerte er sich stets an das Schwert seines Vaters. Es hing an der vorderen Wand im Heim seiner Kindheit, vom Alter abgenutzt, hoch geachtet. Vorwurfsvoll. „Hauptmann Thorongil höchstpersönlich hat ihn mir gegeben,“ pflegte seine Mutter ihm zu erzählen, „und er hat den Heldenmut und die Treue deines Vaters gepriesen. Dein Vater, sagte er, kämpfte immer weiter, selbst als er zu Boden geworfen wurde und die Pferde über ihn hinweg trampelten.“

Und so hielt die Vision dieses Schwertes ihn davon ab, zu verzweifeln. Er fand sich mit den Fußfesseln, den Ketten und den Peitschen ab, die ebenso sehr ein Teil unseres Lebens waren wie Land und Wasser, und zu gegebener Zeit lernte er meine Großmutter kennen. Sie hatten sechs Kinder, doch nur mein Vater überlebte das erste Jahr. Mein Großvater ertrug den Verlust seiner Zukunft ebenso schicksalsergeben wie den Verlust seiner Vergangenheit. Ich erinnere mich, auf welche Weise ich an ihn dachte: ein hagerer, grimmiger, dunkler Mann, den Rücken schwer verkrümmt, ein Mann, der nie viel sprach, ein geschlagener, beraubter Mann, so grau und so still, dass er genauso gut ein Geist sein mochte.

Dann fiel er eines Tages die Steinstufen des Lagerhauses hinunter, während er einen schweren Korb mit Wurzelknollen schleppte, und brach sich das Bein. Wir trugen ihn nach Hause und ließen einen Heiler nach ihm sehen; wir gaben ihm unser gesamtes Essen, aber wir wussten, dass er am nächsten Tag tot sein würde, wenn nicht durch seine Verletzung, so doch aus Schwäche. Die Aufseher gingen jeden Morgen, nachdem all zur Arbeit abgezogen waren, von Hütte zu Hütte. Sie hatten für die Elenden und Kranken kein Mitleid übrig. Allzu oft kam eine Familie von den Feldern zurück und stellte fest, dass ein Älterer, ein Kind oder eine schwangere Frau, die zu elend oder zu krank gewesen waren, um zu arbeiten, aus ihren Hütten fehlten. Niemand redete darüber, aber wir wussten von alten Leuten, die während der Nacht davon schlüpften, von größeren Kindern, die mit offenen Augen auf ihren Matten lagen und dem Seufzen des Wassers lauschten; sie fragten sich, ob sie wohl imstande wären, das letzte, panische Platschen zu hören, das davon kündete, wie das Leben ihrer Eltern verlosch. Sie fragten sich, ob sie den Verlust betrauern oder froh sein sollten über die Erlösung.

Also begriff ich selbst nicht, was mich dazu bewegte, mich in jener dunklen, nebligen Morgendämmerung seiner Matte zu nähern und ihm zu sagen, dass er mit mir auf die Weide kommen würde. Er seufzte, drehte sein Gesicht zur Wand und sagte nichts. Vielleicht belauschte er den geflüsterten Zank zwischen mir und meiner Mutter, als ich zusätzlich Trockenfisch und Brot für den kommenden Tag einwickelte, zwei weitere Wasserschläuche einpackte und eine Schlinge aus einem kostbaren Stück zerlumpter Decke knotete. Aber sie saß nur schweigend in der Dunkelheit, als ich meinen Großvater wortlos in die Schlinge manövrierte. Noch immer versuchte er, meine Anstrengungen zu vereiteln, in dem er sich insgesamt weigerte, mitzuhelfen. Aber er war schwach und hatte Schmerzen, und zusammen gingen wir in den kalten Morgen hinaus, dorthin, wo meine Tiere eingepfercht waren.

Ich erkaufte meinem Großvater zwei Wochen zusätzlicher Zeit. Seine Wunde eiterte, und er wurde Tag für Tag schwächer. Aber am Anfang, als sein Geist trotz der Schmerzen noch klar war, flüsterte er mir eine Geschichte ins Ohr, während wir die vertrauten Pfade zu den Hügeln entlang trotteten, und auf dem Heimweg erzählte er mir eine weitere. Später, als sein Fieber den Höhepunkt erreichte und seine Sprache immer unregelmäßiger wurde, murmelte er Lied- und Gesprächsfetzen, einen fremden Namen, ein fremdes Wort; ich saß neben ihm und wischte ihm die heiße Stirn mit einem feuchten Tuch. Ich konnte nicht umhin zu glauben, dass die Geschichten, die er mir erzählte, alle stimmten, und dass er die Abenteuer, von denen er berichtete, selbst erlebt hatte... ein so fremdartiges Leben, dass es an die Gute-Nacht-Geschichte eines Kindes erinnerte, an einen Traum. Ich wünschte, ich hätte ihn fragen können, ob es wirklich so war, aber ich bekam nie wieder die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.

Mein Großvater starb eines Tages zur Mittagszeit im Schatten eines Felsbrockens, als ich ihn allein ließ, um ein paar Ziegen zusammen zu treiben. Ein Loch zu graben, das tief genug war, nur mit einem kurzen Messer und einem Stock, das war langwierige, schwere Arbeit. Endlich legte ich den kalten, starren Leichnam meines Großvaters in die Erde, und der abnehmende Mond stand hoch am Himmel, als es mir endlich gelang, ihn mit Schichten aus Stein und Sand zuzudecken.

 

*****

Mein Großvater sagte immer, dass nach der Rechnung der Freien unsere See nur eine kümmerliche, bleiche Imitation der Gewalt, der Macht und des Glanzes des wahren Meeres sei. „Und ihre Boote, ihre Schiffe,“ fügte er hinzu, „sie sind so hoch wie Türme, mit riesigen Segeln aus starkem Tuch, richtigem Tuch.“

Ich tat seine Geschichten stets als das Geschwätz eines alten Mannes ab. „Boote wie Türme? Wo finden die genügend Holz, um so ein Ding zu bauen, alter Mann, he? Und riesige Stoffsegel? Ich sage dir: die Frauen würden an Bord gehen und die Segel lange vor der Jungfernfahrt für Kleider in Stücke reißen!“ Und mein Großvater ärgerte sich über meine unverschämten Anmerkungen.

„Frag, wen du willst,“ forderte er mich heraus. Und ich lachte ihn aus. Wen konnte ich schon fragen? Die knurrenden, halb tierischen Geschöpfe, die uns täglich quälten? Den Strom aus verängstigten, verzweifelnden Männern, Frauen und Kindern, die in unsere Mitte marschierten, ausgepeitscht und gefesselt? Manche von ihnen starben in den ersten paar Tagen, an Krankheit, Hoffnungslosigkeit oder Sturheit. Manche versuchten zu entkommen, und man hörte nie wieder etwas von ihnen. Die, die blieben, kamen mehr und mehr aus Ländern, so weit weg und fremd, dass sie unsere Sprache ebenso wenig verstanden wie wir die ihre. Die Alten? Zuerst einmal gab es nur wenige von ihnen, und viele waren in die Sklaverei hinein geboren, hier an den Ufern der See. Was konnten sie mir von dem Land jenseits der Berge erzählen?

Aber das Ziegenhüten war eine ruhige, anspruchslose Arbeit, die mir viel Zeit dafür gab, über die Geschichten meines Großvaters nachzugrübeln. Ich erinnerte mich an seine Erzählung vom ersten Wachstum im Frühling, lebhaftes Blau und Gelb und Rot und Violett auf üppigen Grün, und wie die Milch der Kühe und das Fleisch der Lämmer am süßesten schmeckt, nachdem sie frisch gesprossenes Gras und Blumen abgeweidet haben. Ich versuchte, mir all diese Farben vorzustellen, während ich auf der Spitze eines felsigen Hügels stand und meinen Ziegen zusah, wie sie struppiges Gras rupften, trockene Moosfetzen und die steifen, dornigen Zweige verkümmerter Büsche... und alles, was ich sah, war ein windgepeitschtes, sonnengebleichtes Land in den Farben von Felsen, Sand und Staub, gleißend und blendend bei Tag, verräterisch und gefroren bei Nacht. Ich versuchte, mir den Duft von Blumen vorzustellen, während die Luft rings um mich her in der Hitze der Sonne waberte und buk, aber alles, was ich wahrnahm, war der starke, trockene Geruch der Ziegen. Und ich dachte, dass es solche Dinge wie die, von denen mein Großvater in seinen Geschichten erzählte, sicherlich nicht gab... oder wenn es sie einst gegeben hatte, dann hatten das Auge im Turm und die Meister auf ihren fliegenden Bestien sie schon vor langer Zeit zu Staub werden lassen, oder zu weniger als Staub.

Einmal, als ich auf der Suche nach einer streunenden Ziege meinen Weg in der trügerischen Leere verlor und zu weit nach Norden wanderte, da sah ich den zerklüfteten Rücken eines langen Bergzuges... die nördliche Grenze, schwarzstreifige Asche, von schwer beladenen Wolken gekrönt, und ein Schauder durchzitterte meinen Geist, ein unerwarteter Hunger. Ich bildete mir ein, ich könnte verborgene Wege sehen, mitten in den weit entfernten Tälern und auf den Passhöhen, und ich erbebte unter der plötzlichen Sehnsucht, auf die andere Seite dieses Landes aus Staub und Stein zu gelangen und zu sehen, was jenseits davon lag. Ich hatte meinen Wanderstab, einen Wasserschlauch, Trockenfisch und ein halbes Rund hartes Brot in meinem Beutel, und meinen Umhang, der in der Nacht gleichzeitig als Decke und Bettrolle diente. Ich konnte einfach gehen.

Aber dann traf eine sinnlose Furcht mein Herz, ein verkrüppelndes Entsetzen. Je näher ich den Bergen kam, desto heftiger zitterte ich, desto langsamer ging ich, zusammen gekrümmt, gebückt, die Arme um den Leib geschlungen, so dass mein Schatten sich nicht so lang neben mir ausstreckte und mich an den lidlosen Blick verriet, der mich mit stiller Bosheit zu verfolgen schien. Die Berge ragten weiter und weiter entfernt auf, bis endlich ein Schleier aus Staub und Nebel sie vor meinem Blick verhüllte. Ich stand da, bebend vor Verwirrung, und ich dachte an Zuhause, wie warm das Dungfeuer in meiner Hütte war und wie friedevoll die Nacht, erfüllt vom Blöken der Ziegen, dem Knarren der Wasserräder und das Klatschen des Wassers gegen die Kanus, die am kieselbestreuten Ufer ruhten.

Ich fing an zu rennen, zu stolpern und zu kriechen, unsehend in der Blindheit, die nicht Finsternis war, in dem Unlicht, das nicht Nacht war... wie viele Tage, das weiß ich nicht mehr. Dann, am Ende, konnte ich das vertraute Aroma vom Menschen und Tieren riechen, die zusammen gepfercht in notdürftigen Heimstätten lebten, an den Stränden der See entlang. Ich konnte sie hören, konnte sogar spüren, wie der Boden in meinen Händen und unter meinen Knien weich wurde. Ich schrie auf, ich stöhnte und wimmerte vor Freude und Furcht, während ich auf den Klang von menschlicher Sprache und Tierlauten zu stolperte. Ich fiel mit dem Gesicht voraus in ein Beet mit kleinen, kränklichen Kohlköpfen. Die Erde war frisch gehackt und roch kräftig nach Dünger. Die grobkörnigen Klumpen drangen mir in die Nase, in den Mund und die Augen. Ich wischte mir den Schmutz aus den Augen und sah durch den Tränenschleier meine Hütte. Meine Mutter war draußen und schrie meinen Bruder an; er schrie etwas zu ihr zurück, ehe er sich der See zuwandte, geschmeidig, braun und nackt, und im Davonlaufen lachte er.

Ich hastete schluchzend auf diesen vertrauten Anblick zu. Die Leute sahen mich, zeigten auf mich und lachten mich aus. Meine Mutter warf mir einen Blick zu und ließ einen Strom an Schimpfwörtern los. Sie schlug und trat mich, bis ich in Richtung See wankte. Dann versetzte sie mir einen harten Stoß und ich stürzte klatschend in die braunen, schmutzigen Untiefen. Das Wasser zerrte verführerisch an mir, spielte mit meinem schlaffen Körper, gefährlich, zärtlich, machtvoll und heiß ersehnt. Ich unterwarf mich willig und in freudiger Demut. Seither war ich nicht mehr von seiner Seite gewichen.

*****

Dann, eines Tages, stöhnte und seufzte die ganze Erde. Der Himmel war kohlschwarz, von flammendem Rot gesäumt. Die See brodelte, die Oberfläche kochend von Wirbelstürmen; das Wasser färbte sich von grünlichem Braun zu Dunkelbraun und schließlich zu Rot. Dann sank eine Finsternis herab, die schwärzer war als irgend eine, an die ich mich erinnern konnte. Die Welt erbebte, Regen fiel in heißen, schweren Tropfen und Blitze zerrissen den Himmel. Jedermann rannte schreiend umher. Eine Hütte fing Feuer. Kinder weinten, Frauen klagten, Männer brüllten und unsere Tiere wurden wahnsinnig vor Angst. Dann war über dem Tumult, über dem Getöse ein durchdringendes Kreischen zu vernehmen. Ein Blitzschlag offenbarte riesige Schwingen, die sich gegen den feurigen Himmel abzeichneten. Wie heulten in Verzweiflung und Panik und verstreuten uns auf der Suche nach Zuflucht, denn wir kannten die kalte Grausamkeit der Neun nur zu gut. Aber die Gestalt, majestätisch und fürchterlich, kreiste nur über uns, während wir in dumpfem Entsetzen starrten. Dann schrie sie nochmals in einer Zunge, die keiner von uns verstand, ihre Flügel schlugen einmal und sie segelte durch die aufgewühlte Luft, den Hagel und Sturm nicht achtend, und raste westwärts.

Ein Rumpeln tief im Boden. Und ein schockierendes Gefühl der Erleichterung... als ob die Erde die ganze Zeit die Luft angehalten hätte, und als ob sie jetzt mit einem Mal ausatmete.

Dann endlich Stille.

Am nächsten Morgen ging die Sonne auf.

Ich erwachte lustlos und verwirrt. Ich brachte die Ziegen in die Hügel, weil ich es nicht ertrug, den verwirrten Blick in den Augen meiner Mutter zu sehen, in den Augen aller. Etwas war dahin gegangen und hatte ein Nichts zurück gelassen. Die Ebenen schienen tausendfach stiller, leerer zu sein. Selbst die Geister waren scheinbar verschwunden.

Niemand kam, um das Essen einzusammeln. Das Gemüse welkte in der Sonne. Fliegen summten über den Bergen aus faulendem Fisch und geschlachteten Ziegen. Niemand kam.

Ostlinge und Männer aus dem Süden ritten oder liefen eilig in vereinzelten Gruppen am Dorf vorüber; sie sahen uns nicht an und hielten sich nicht auf. Orknachzügler schlichen sich des Nachts vorbei, stahlen Essen und alles, was herum lag... Seile, einen Korb, ein Beil, und dann verschwanden sie in der Dunkelheit.

Die Sonne ging auf und unter, auf und unter. Es gab kein Zeichen von den Aufsehern. Eines Nachts kletterten wir auf den Getreidespeicher und fanden ihn unbewacht; wir plünderten ihn und setzten ihn in Brand. Binnen Tagen brach Streit aus, Männer gegen Männer, Familien gegen Familien, um die Beute dieser bemerkenswerten Nacht. Ich bemerkte, dass die Schmiede anfingen, grobe Schwerter und Speere zu fertigen. Zuvor hatten sie nur Spaten und Pflüge gemacht.

Leute fingen an, fort zu gehen, vor allem die, die nicht lang versklavt gewesen waren und vielleicht noch einen Ort hatten, den sie Heimat nannten. Sie gingen, einer nach dem anderen oder in Gruppen, zuerst des Nachts, dann in hellem Tageslicht. Die leeren Hütten, die sie zurückließen, standen da wie Brunnen der Finsternis. Neue Sklaven gab es nicht mehr.

Die Erde bebte wochenlang mehrmals täglich, nicht genug, um viel Schaden anzurichten und uns in Panik flüchten zu lassen, aber es reichte aus, dass wir uns nachts entsetzt zusammendrängten, es reichte, um Fragen und Gerüchte auszubrüten. Waren wir tatsächlich im Stich gelassen worden, um zu krepieren? Wenn das so war, was würde geschehen, wenn wir fortgingen? Was geschah mit denen, die es taten? Waren unsere gefürchteten Herren endlich besiegt? War alles, das geschehen war, eine bloße Einbildung, ein allgemeiner Aufstand, oder eine Falle?

Wir arbeiteten weiter in den Feldern und Obstgärten. Wir brachten die Ziegen zum Grasen in die Hügel. Wir paddelten in unseren Kanus, um Muscheln und Fisch zu fangen. Wir besserten unsere Pflüge und Netze aus. Wir kehrten heim und kochten unsere Mahlzeiten über den Dungfeuern, wir aßen, wir schliefen, manche von uns träumten unruhige, wirre Träume. Wir wachten morgens auf und gingen an die Arbeit, Tag für Tag für Tag. Es schien keine andere Wahl zu geben. Wenigstens bewahrten die harte Arbeit und die Erschöpfung uns davor, am Ende des Tages zu grübeln und uns Sorgen zu machen. Die Sonne ging auf und unter, auf und unter.

Dann kamen die Männer. Ihre Kleider waren aus gewebtem Stoff, aus fein gefärbtem und bemalten Leder, polierten Metallplatten und glänzenden Metallketten. Manche von ihnen trugen Banner, die im Wind knallten, deren Farbe so tief, dass sie in den Augen schmerzte. Die Männer waren hochgewachsener, viel größer als wir, größer noch als sogar die Orks. Ihre Stimmen waren gleichmäßig und fest. Ihre Worte fielen merkwürdig in unsere Ohren; ihnen fehlten die groben Ecken und Kanten der Schwarzen Sprache, sie klangen auf merkwürdige, fast obszöne Weise sanft. Sie saßen auf großen, mächtigen Pferden und blickten auf unsere Verschläge hinunter, unsere zerlumpten Kleider, die Brandmale auf unseren Gesichtern und Gliedern, auf die See, grünlichbraun und tranig.

Einer von ihnen verkündete mit klarer, durchdringender Stimme – in mehreren Sprachen, außer der der Orks – dass das Auge des Turms gefallen, die Neun umgekommen waren. Die Herrschaft des Dunklen Herrschers hatte ein Ende. Wir waren frei.

Wir lauschten, aber wir konnten es nicht begreifen. Die meisten von uns waren in die Sklaverei hinein geboren worden und waren aufgezogen worden, während wir nichts anderes kannten... daran gehindert, irgendetwas anderes zu kennen. Freiheit war ein fremdes, unvermessenes Gebiet. Wie kamen wir dort an? Was sollten wir als nächstes tun?

Ein hochgewachsener, ernster Mann mit klaren, grauen Augen stieg vom Pferd und kam mit langen Schritten dorthin, wo wir zusammen gedrängt und still beieinander standen. Eine ganze Anzahl seiner Gefährten beeilte sich, ihm zu folgen, aber er winkte sie weg.

Als er näher kam, machten wir einen allgemeinen Schritt rückwärts und duckten uns. An seinem Gürtel trug er ein langes Schwert in einer schönen Lederscheide. Ein dünner Silberreif lag um seinen Kopf, besetzt mit einem leuchtenden, grünen Stein. Dann ließ er sich auf ein Knie nieder und sein schwerer Mantel schleifte auf dem Boden. Er streckte die Hand nach einem schmutzigen Bengel mit geschwollenem Bauch aus, der mit geweiteten Augen dastand und sich an den Rock seiner Mutter klammerte. Der Junge wimmerte, zerrte an seiner Mutter und versuchte, sich davonzumachen. Seine Mutter starrte finster und versuchte, eine abwehrende Hand zwischen ihn und das Kind zu bringen, aber der Mann blieb hartnäckig, bis seine Hand, groß und kraftvoll, auf der Wange des Jungen ruhte.

„Tut es sehr weh?“ fragte er.

Der Junge blinzelte. „Ja,“ brachte er flüsternd heraus. „Woher... woher weißt du das?“

Der Mann blickte auf. Die Mutter des Kindes starrte wachsam zurück, aber mit einem schwachen Hoffnungsschimmer in den Augen. „Er kann nachts nicht schlafen.“

Der Mann nickte. Er legte seine andere Hand auf den Bauch des Jungen, gleich unterhalb seines Herzens; er schloss die Augen, den Kopf gesenkt. Die Frau umfasste die kleine Hand, die sich immer noch an ihren Rocksaum klammerte. Das Kind starrte den Mann an, und ein Wirbel an Empfindungen zuckte über sein schmales Gesicht: Furcht, Verblüffung, Neugier, Friede. Er berührte die große Hand, die noch immer sein Gesicht umschloss und seine Augen schlossen sich flatternd.

„Is’ warm,“ murmelte er.

Der Mann hob sein Gesicht. Er war um eine Schattierung bleicher, aber er lächelte den Jungen an. „Ist es jetzt besser?“

Der Junge öffnete die Augen, lächelte scheu zurück und nickte leicht. Seine Mutter packte ihn an den Schultern und tastete seine Arme und seinen Rücken hinab; sie hielt ihre Augen misstrauisch und doch hoffnungsvoll auf den fremden Mann gerichtete, der immer noch auf der Erde kniete. „Wer bist du...“ flüsterte sie. Dann, ein furchtsamer Nachgedanke: „...Herr?“

„Ich werde Aragorn genannt, Sohn des Arathorn,“ erwiderte der Mann. „Der Elessar meines Volkes.“

*****

Er war gekommen, um uns zu sagen, dass das Land rings um die See unter uns aufgeteilt werden sollte, um unser Auskommen zu sichern. Wir begegneten seinem Dekret mit einer Mischung aus Freude und Angst, denn wir hatten so lange mit den Gesetzen der Speichellecker des Auges gelebt, und durch sie. Jeden Morgen wurden wir in die Felder und Obstgärten getrieben, oder uns wurden unterschiedliche Pflichten befohlen: Bäume in dem kärglichen Waldstück zu fällen, Schuppen und Pferche zu bauen, Korn zu dreschen und die Mühle anzutreiben. Wir waren bloße Muskeln und niemals das Hirn. Einige der älteren, schwächeren Sklaven... Aber nein, wir waren nicht länger Leibeigene, oder nicht? Und doch flüsterten die Älteren und Schwachen unter uns aus Furcht vor einer anderen Art der Unterjochung, die durch andere, freie Menschen, die jungen, die starken, die mit raschem Verstand.

Aber Elessar sagte – und dann erfuhren wir, dass er König war, Herrscher von Gondor und dem nördlichen Königreich von Arnor – dass Männer, denen er diese Aufgabe zutrauen konnte, bleiben würden, um zu helfen, um uns bei der Verteilung des Landes anzuleiten und dabei, ein gewisses Recht und Ordnung herzustellen. Hilfe würde kommen, sagte er, sobald sichere Wege durch die Berge gebahnt werden konnten, um die Reise zu erleichtern. Es würde Handwerker und Baumeister geben, Lehrer und Ratgeber.

„Doch ich traue darauf,“ sagte er zu uns in jener Nacht, und in seinem Augen spiegelte sich das Licht der Fackeln und Kochfeuer, „dass ihr mehr als imstande und dazu begabt seid, euch selbst zu heilen, zu wachsen und zu herrschen und zu gedeihen. Ihr habt ungeahntes Leid überstanden, ihr habt selbst dann noch überlebt, als man euch das Recht auf ein eigenes Selbst, eine Wahl und die Freiheit verweigert hat. Ihr habt vielleicht keine Macht, aber Durchhaltevermögen, selbst in der Abwesenheit von Hoffnung. Und ich habe gesehen, was das bewirken kann.“

In jener Nacht machten wir ein großes Feuer am Strand und saßen im Kreis, während die neuen Männer und davon erzählten, wie die Welt, wie wir sie kannten, ein Ende fand und neu geboren wurden. Wir hörten zu und flüsterten miteinander, obwohl es nur noch wenig zu sagen gab. Ein Mann stand auf, ging zu seiner Hütte und fing an, die steife Tierhaut auseinander zu zerren, aus der das Dach gemacht war, die grob gewebte Schilfwand, die mottenzerfressene Ledertür. Während seine Frau und seine Kinder ihm schweigend zusahen, trug er alles zum Feuer und warf es in die hochschießende Flamme. Das Feuer ließ wieder ein wenig nach und brannte langsam nieder, diese gesamte, stille Nacht hindurch, in der nicht viele von uns schliefen; es knisterte und zischte, während die Hütte, die der Mann während all der Jahre erbaut hatte - seine Zuflucht, sein Stolz, sein Heim - zu Asche zerfiel.

*****

„Herr,“ flüsterte ich zaghaft und furchtsam. „Herr...“

Elessar wandte sich um. Seine Männer warfen mir wachsame Blicke zu, aber sie regten sich nicht von der Stelle weg, wo sie saßen.

„Ja, Mann, was willst du?“

„Herr, kennt Ihr Hauptmann Thorongil? Hauptmann Thorongil von Gondor?“

Elessar lächelte.

*****

Meine Mutter war wütend, als ich ihr von meinem Plan erzählte.

„Endlich bekommen wir ein eigenes Land,“ sagte sie und warf einen Stoß Pfähle unnötig hart in ihren Schulterkorb. „Unseren Anteil an Ziegen, vielleicht sogar ein Maultier. Wir könnten endlich ein anständiges Haus haben. Aber wer wird mir helfen, das Land zu bestellen, sich um das Vieh kümmern, unser Heim schaffen? Wer?“

Eine Schaufel knallte geräuschvoll in den Korb. Ein dumpfer Aufprall, als eine schwere Seilrolle folgte. „Was denkst du eigentlich, was du jenseits der Berge tun willst?“ Sie band sich ihren Hut heftig unter dem Kinn zusammen. „Du siehst doch diese Männer, oder nicht? Wie willst du mit ihnen wetteifern? Wozu bist du schon gut, ein dummer Ziegenhirte, ein Sklave...“

„Das bin ich nicht mehr, Mutter.“

„Was?“

„Ich bin kein Sklave mehr. Und du auch nicht. Ich bin frei, mir auszusuchen, was immer ich tun möchte.“

„Frei zu sein, heißt nicht, dumm zu sein. Wozu ist die Freiheit gut, wenn du verhungerst oder erfrierst?“ Meine Mutter lud den kleinen Beutel mit Brot und Trockenfisch für das Mittagessen in den Schulterkorb, wuchtete ihn hoch und ließ mich vor der Hütte stehen.

„Aber wenn frei sein nicht das selbe ist, wie dumm zu sein, dann heißt das, ich kann lernen, Mutter, ich bin schlau genug, zu lernen, wie man ein besserer, freier Mann wird!“ schrie ich hinter ihr her.

Meine Mutter starrte mich über die Schulter hinweg böse an. „Dann mach doch, was du willst!“ knurrte sie, bevor sie davonstampfte, meine verängstigt dreinschauende Schwester im Kielwasser.

Ich verbrachte diesen Tag damit, meinem Bruder die Feinheiten des Ziegenhütens beizubringen. Die Männer aus dem Westen würden nur noch eine Nacht bleiben, ehe sie zu einem anderen Teil der See aufbrachen und dann weiter nach Süden reisten, zur Grenze von Harad. Eine kleine Gruppe würde allerdings mit Elessar nach Minas Tirith zurückkehren, und mit ihnen würden die unter den Freigewordenen gehen, die den Westen des Anduin besuchen oder dort hinziehen wollten. Wir kamen bedrückt und still nach Hause. Meine Mutter sprach kein Wort mit mir.

Ich packte ein kleines Bündel aus meiner Decke, einer Ersatz-Tunika und dem Wanderstab und stellte es neben mich, als ich mich in dieser Nacht schlafen legte, so dicht an der Tür wie möglich, damit ich niemanden weckte, wenn ich morgens davon schlüpfte. Ich träumte von meinem Großvater in dieser Nacht; er flüsterte von turmhohen Schiffen.

Die Sterne standen noch immer blass über dem westlichen Horizont, als ich mich aus der Hütte stahl und mich Elessars Männern anschloss, die bereits mit den Reisevorbereitungen angefangen hatten. Die Leute von der See, die mit ihnen reisten, waren angewiesen worden, in der Mitte zu laufen, umgeben von einem Ring aus Reitern und Speerträgern zu Fuß. Man sagte uns, wir sollten so viel Wasser mitnehmen, wie wir tragen konnten.

Und so fand ich heraus – als ich mein Bündel öffnete, um einen Extra-Schlauch Wasser hinein zu tun – dass meine Mutter mir einen Brotkanten eingepackt hatte, drei hart gekochte Eier, einen kleinen Beutel Nüsse und den Dolch meines Vaters in seiner Lederscheide. In der Menge, die uns an jenem Morgen verabschiedete, sah ich sie allerdings nicht.

*****

Während wir die Trostlosigkeit von Mordor durchquerten, dämmerte es mir, dass ich mir nie in meinen gesamten achtzehn Jahren vorgestellt hatte, dass es so riesig war. Es kam mir lachhaft vor, dass ich Angst davor gehabt hatte, nachts im Freien zu sein, weil ich fürchtete, in dem ausgedehnten Irrgarten des Landes rings um die See verloren zu gehen. In meinem Geist schrumpften diese Orte immer mehr, während ich sie weiter und weiter hinter mir zurück ließ.

Tage vergingen, und doch schien kein Ende in Sicht zu sein für das Elend, das wir mit ansahen. Das Land war eine fortgesetzte Wunde, von Spalten zerrissen, von Trümmerbergen verkrustet, und noch immer blutete es Rauch. Gruben gähnten vor uns, in der Erde, in den Berghängen, zerfetzt, verheert, schwelend. Männer hatten diese Orklager gestürmt, sagte man uns, um die Mauern nieder zu reißen und sie in Brand zu setzen. Feuer reinigt, sagten sie.

Der Gestank nach Tod und Verwesung hing dick in der Luft. Das erste Mal, als wir auf einen hohen Berg aus Leichen stießen – Orkleichen, von einem stacheligen Zaun aus Speeren abgeschirmt – da heulten manche von uns und rannten davon, andere standen da wie erstarrt, wieder andere übergaben sich, während ein paar wenige sich auf den brennenden Berg stürzten, um auf jeden verkohlten Körperteil einzustechen, zu treten und zu spucken, den sie erreichen konnten. Aber dann kamen wir an einem anderen Berg wie diesem vorüber, an noch einem und noch einem. Am Ende beobachtete sie niemand von uns mehr, obwohl nachts einige davon alpträumten. Es war die Provinz der Geister.

An manchen Tagen regnete es, und wir versuchten, das Wasser in jedem Gefäß aufzufangen, das wir besaßen. Wir standen in Dauerguss und ließen das Nass das klebrige Gefühl von Schmutz und Schrecken abwaschen. Der Borden würde kalt und feucht sein, wenn wir uns am Ende des Tages müde hinlegten, aber in der Morgendämmerung war er wieder trocken. Sogar noch während wir nordwärts marschierten, sah ich bleiche, grüne Flecken auf der Erde... ein zarter Schössling hier, ein Grashalm dort. Die Regentage waren die besten Tage auf unserer Reise. Flammen mochten reinigen... aber das Wasser, es schenkte neues Leben.

*****

Mehr Bäume. Mehr Bäume als ich in meinem ganzen Leben je gesehen hatte. Die Wipfel streiften den Himmel, man konnte die Stämme kaum mit den Armen umfassen. Der Boden darunter war weich und federnd und feucht. Trockene Blätter tanzten, während sie auf dem Wind dahin trieben. Mit diesen Bäumen, dachte ich, konnte man ein mächtiges Boot bauen. Ein Schiff. Ein turmhohes Schiff.

Eine Frau kam zu mir und fragte, warum ich weinte. Ich konnte ihr nicht sagen, dass es deswegen geschah, weil ich mich plötzlich an meinen Großvater erinnert fühlte. Was für eine Kraft hatte er besessen, dass er weiterlebte, nachdem er einst dies hier gehabt hatte.. und es dann verlor, für immer verlor?

In Ithilien sah ich meine erste Wiese, so überschwänglich grün, so überreichlich üppig, so zügellos saftig, so verschwenderisch lebendig. Blumen in Massen... Wie nannte man sie? Ich wollte in ihren Farben waten und mich in ihrer zerbrechlichen Schönheit vergraben. Ich versuchte, eine Blume zu essen und spuckte sie aus, als sie sich in meinem Mund zu bitterem Brei auflöste. Die Lieder fremder Vögel, die schimmernden Schattierungen fremder Insekten... ich wankte voran, mit offenem Mund, lachend und weinend, trunken vor Staunen.

*****

Der Anduin war... groß, es gab kein anderes Wort dafür. Vom östlichen Ufer konnte ich kaum die vagen Umrisse von Klippen und Grün auf der anderen Seite wahrnehmen. Das Wasser strömte mit unaufhaltsamer Majestät flussabwärts, so ruhig, und doch mit einer immensen, einschüchternden Macht, die Steine auflösen und das Land formen konnte wie eine Skulptur.

Das Schiff... Es sah gleichzeitig beeindruckend und zerbrechlich aus. Ich begaffte den polierten Rumpf, den Wald aus Masten und sauber aufgerollten Segeln, den wasserdichten, großzügigen Laderaum. Aber dann entrollten sie die robusten, schweren Taue und überließen diese stattliche Schönheit der Gnade des Flusses, und das Schiff driftete davon, scheinbar so hilflos und so verletzlich wie ein Blatt. Das Gleichgewicht und die glatte Leichtigkeit seines Dahinfahrens kamen mir bedenklich und zerbrechlich vor. Es schien, dass der Fluss über all diese großartige Handwerkskunst lachen mochte, die mich noch Augenblicke zuvor so in Ehrfurcht versetzt hatte. Wie konnten bloße Planken und Bohlen, von Nägeln, Bolzen und Tauen zusammen gehalten, über Wasser bleiben? Wie steuerte man es in der starken Strömung? Das Schiff fühlte sich lebendig an rings um mich her. So solide es auch war, ich hörte das schwache Stöhnen und Knarren im Holzwerk, während das Schiff das Wasser durchschnitt, mit ihm rang und tanzte. Die Schilfkörbe kamen mir in den Sinn, die die Mütter benutzten, um ihre Babys zu wiegen, während sie in der See wateten, mit ihren Kanus darauf paddelten und Fisch und Muscheln fingen; der Kontrast zwischen den rauen, knorrigen Knoten, dem ausgefransten Boden und dem sich dehnenden Gewebe – und wie tief ein Baby darin schlief, wie behaglich und warm es darin war. Ich dachte, dass ich nun verstand, weshalb Seeleute von ihrem Schiff sprachen, als wäre es eine Frau.

„Wohin möchtest du jetzt gehen?“ fragte König Elessar an diesem Abend.

„Ich möchte meine Verwandten sehen, Herr. Großvater sagte mir, dass sie in Dol Amroth leben.“

„Das haben sie einmal getan,“ sagte Elessar König – der auch Hauptmann Thorongil war. „Aber viel ist geschehen seit der Zeit, als dein Großvater gefangen genommen wurde. Deine Verwandten mag es dort nicht mehr geben.“ Er schwieg eine Weile, der Blick seiner Augen abwesend. „Viele Häuser haben ihre Söhne im Krieg verloren. Bist du darauf vorbereitet?“ Bist du auf die Möglichkeit vorbereitet, dass du am Ende mit nichts anderem wiedervereinigt wirst als mit Namen, eingraviert in das Tor einer Gruft, oder mit grünen Hügeln über zu Grabe getragenem Heldenmut?

Ich nickte. Nach dem, was ich durchlebt hatte, konnte ich nicht sehen, was für einen Sinn es haben sollte, sich auf etwas vorzubereiten, das so ruhmreich war wie die Geschichte und die Zukunft der Freiheit. Ich, der gesehen hatte, wie man Gräber öffnete und die Leichen geliebter Menschen schändete. Ich, der das mitleiderregende Flehen von Kindern gehört hatte, die man beim Diebstahl im Kornspeicher erwischt hatte... sie rannten und rannten und rannten, bis sie nicht mehr rennen und sich nur noch zusammen kauern konnten, während ihre Jäger aufholten und grausam über gute Beute und noch besseren Fraß lachten. Ich, der Frauen gekannt hatte, die ihre neu geborenen Babys lieber töteten, als ihnen dabei zuzusehen, wie sie in Sklaverei aufwuchsen, der die aufgetriebenen Leichen schwangerer Mädchen gefunden hatte, die sich lieber das Leben nahmen, als die Kinder ihrer Vergewaltiger auszutragen... der Menschen getroffen hatte, die schlimmer waren als Orks, um sich ihren Vorteil zu sichern. Welche mögliche Trauer, welcher vorstellbare Widerwille konnte mich jetzt noch bekümmern?

Aber nichts, weder der unaussprechlichste Schrecken noch scheinbar unübertreffliche Schönheit, hatte mich auf das Meer vorbereitet.

Es brach plötzlich am Horizont aus, ein wachsender Streifen von sternengeschmücktem Blau, der die Ufer des grünbraunen Flusses zurückstieß, bis da nur noch diese Weite war, diese Endlosigkeit, der Rand der Welt, hinter dem die Herrschaft der Menschen ein Ende fand.

„Was ist das?“ flüsterte ich dem Fahrer des Karrens zu, der neben mir saß.

„Das Meer natürlich,“ schnaubte der. „Hast du es denn noch nie gesehen? Oder davon gehört?“

„Ich lebe... ich habe an der See gelebt...“ murmelte ich; meine Stimme schwankte. Die See meiner Kindheit, die See meiner Jugend kam mir in den Sinn: die wechselnde Farbe ihres Wassers, ihre kleinen Wellen, ihr Plätschern und Murmeln. Sie war bekannt, und mehr noch als bekannt... vertraut, bemeistert. Sicher.

Sie war kümmerlich. Sie war bescheiden.

Ich sprang stolpernd aus dem Karren und ging wankend auf den grasbewachsenen Rand des Kiesweges zu; halb lief, halb rollte ich den Abhang hinunter, auf diesen Anblick zu, der mich anzog.

„Wo gehst du denn hin?“ rief der Karrenfahrer.

Auf dem Hang gab es kleine Bodenwellen, und sie brachten mich zum Stolpern, während ich dahin hastete, ohne mich umzuschauen. Das Gras war struppig, die Erde locker und sandig, und ich verlor ständig das Gleichgewicht; ich fiel hin, stieß gegen Felsbrocken und schürfte mir Hände und Gesicht an den kleinen Steinen auf. Ich drängte weiter voran.

Halb den Abhang hinunter fing ich an, das Brausen zu hören. Unerbittlich, überschwänglich, ein schwerfälliger Rhythmus... es war wie der Herzschlag des Meeres. Ein donnerndes Rumpeln, ein Krachen, ein gurgelndes, gewaltiges Seufzen.

Und dann peitschte der Geruch, von der steifen, strafenden Brise herangetragen, auf mich ein. Es war anders als jeder andere Geruch, den ich je wahrgenommen hatte, mit vage vertrauten Duftnoten, aber alles in allem frisch und fremd; er flüsterte von unbekannten, weit hinaus geworfenen Welten und noch merkwürdigeren Geschöpfen. Ein Geruch, der vom Leben erzählte, seinen Schwächen und Niederlagen, und von all seiner atemberaubenden Schnelligkeit, seinem Ausmaß und Ruhm.

Der Sand, sahnefarben und gelb und leicht rötlich von zahllosen, blinkenden Sternchen, war mit Klumpen aus schlaffen, glänzenden Merkwürdigkeiten übersät, mit knochenweißen, ascheweißen, verdrehten Holzbruchstücken. Ich versank darin bis über die Knöchel; die feinen Körnchen hielten meine Schuhe gefangen, und als ich herausschlüpfte, rieselten sie neckend zwischen meine Zehen, heiß und rau und kitzelnd. Ich stolperte und stürzte, und die Sandkörner streiften mein Kinn, meine Wange und meine Handflächen. Ich lag eine Weile auf dem Boden und betrachtete schielend eine vollkommene, weiß-braun gestreifte Muschel vor mir. Ihre Form, mit weißen Armen, die sich in jede Richtung ausstreckten, war wild und ungebändigt und exquisit. Ich saß auf, hob sie hoch und barg sie in meinen Händen, und ich würgte einen Laut heraus, der halb Lachen war und halb Aufschluchzen. Ich umklammerte sie und kroch weiter, dann sprang ich auf die Füße; ich lief, ich rannte taumelnd hin zu der weiten Ausdehnung von rollendem, krachendem, sprühenden Weiß.

Ich komme. Ich komme. Ich komme. Nach Hause.

Ich stand da, gebückt und zitternd, unter kleinen, wimmernden Schluchzern. Das Wasser wirbelte um meine Füße, um meine Knöchel, steigend, steigend, bis es meine Beine liebkoste, meine Knie, beinahe milchwarm, schäumend, dick und schlüpfrig. Der nasse Sand glitt verräterisch unter meinen Füßen weg, als das Wasser sich zurückzog, und ich schwankte und fiel auf die Knie. Warte, warte, warte! Ich krabbelte hinter der zurückweichenden Welle her, aber sie bewegte sich so rasch, zischte spielerisch auf dem dunklen, glitzernden Sand und ließ mich nach Luft ringend hinter sich. Ich saß auf der Erde und hatte nur einen knappen, atemlosen Moment der Ehrfurcht und Verzweiflung, in dem ich zusah, wie eine andere Welle Geschwindigkeit aufnahm, eine Wand aus blaugrünem Wasser, bevor sie über mich hereinbrach.

Sie nahm mir die Sicht, noch ehe ich mich an der Art weiden konnte, wie Himmel und Sonne unter dem wirbelnden, schäumenden Wasserschleier aussahen. Sie nahm mir das Gehör, füllte mir die Ohren mit einem Dröhnen und rauschendem, gurgelnden Klang, ein merkwürdig lebendiges Geräusch. Sie flutete in meine Nase und erfüllte sie mit scharfen Aromen noch über dem Duft des Wassers, und in meinen Mund, vage nach Tränen schmeckend, nach Blut. Sie spielte mit meinem Leib, rollte ihn herum, prügelte auf ihn ein, riss mir die Glieder weg. Ich war hilflos, ängstlich, entsetzt, ich litt Schmerzen.

Nimm mich hin, nimm mich hin. Lass mich mit dir verschmelzen, lass mich dich anbeten...

Das Wasser verschwand allzu schnell, und weniger sanfte Hände packten meine Arme und Beine und zogen mich ans Ufer. Ich stellte fest, dass ich lachte und würgte, lachte und weinte.

Das Gesicht des Karrenfahrers blickte auf mich hinunter, von der Sonne umstrahlt. „Bist du verrückt?“ schnappte er. Ein anderer Mann, ein anderer Passagier aus unserer kleinen Gruppe von Reisenden, stand ihm gegenüber und schielte auf mich herab.

Noch immer konnte ich das Meer in meinem Mund schmecken, es auf meiner Haut spüren, es riechen, es hören.

„Ich will hier leben,“ keuchte ich und schloss die Augen.

„Geht es dir gut?“ fragte der Mann, der Passagier; er bückte sich und kniete sich neben mich.

„Das tut es,“ sagte ich ruhig. Mein Körper fühlte sich leicht an und gelöst, angenehmer, ausgeruhter, friedlicher, als ich mich in meinem ganzen Leben je gefühlt hatte. Ich fragte mich, ob es sich wohl so anfühlte, wenn man geboren wurde. „Jetzt schon.“


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