Das Versprechen in ihren Augen (The promise in her eyes)
von Edoraslass, übersetzt von Cúthalion

Ich schwöre, ich wusste nicht, wer sie war, als ich sie geküsst habe.

Also gut, ja, sie trug ein grünes Kleid mit so einem Motiv von weißen Pferden rings um Kragen, Saum und Ärmelbündchen – aber das war Edoras! Diese Leute sind von Pferden besessen! Da hat jeder irgendwo etwas Pferdemäßiges an den Kleidern!

Ja, ja, ich weiß, sie war von edler Geburt – einfache Leute tragen keinen Stoff, der so üppig oder so verziert wäre – aber Edelfräulein fallen ebenso rasch auf ein spitzbübisches Grinsen und ein Zwinkern herein wie nur irgendeine Bauerntochter, und das macht sie zu leichter Beute, jedenfalls was mich angeht.

Nebenbei, wer hätte denn auch gedacht, dass die Nichte des Königs ohne jede Eskorte auf dem Jahrmarkt herumwandert? Ich habe sie über den Tag hinweg mehrmals gesehen – wie sie durch die Zelte der Händler spazierte, mit hochgeborenen Leuten sprach und mit niedrig geborenen, wie sie mit zwei kleinen Jungen einen ausgerissenen Hund jagte – und nicht einmal habe ich sie mit irgendeiner Art Anstandsdame gesehen!

Und Ihr hättet sehen sollen, wie sie getanzt hat – ah, sie war ein Anblick, wie ich ihn nie zuvor gehabt hab, und ich habe ein oder zwei schöne Mädchen tanzen sehen. Goldenes Haar, das flog, während sie herumwirbelte, rauschende Röcke, ein Gesicht, lachend und gerötet – ich hätte beinahe mein Bodhran fallen gelassen, als dieses kecke Mädel ihre Knöchel in meine Richtung blitzen ließ. Das Glitzern in ihren Augen hätte so manchen Mann, der älter war als ich, innehalten und über gewisse Möglichkeiten nachdenken lassen, obwohl sie nicht älter gewesen sein kann als fünfzehn.

Ihr seht doch, wie es kam, dass ich dachte, sie wäre bloß die Tochter von jemandem aus niederem Adel, nicht wahr? Ihr würdet nicht erwarten, dass die Herrin Éowyn so unverschämt herumtändelt, oder?

Und dann, als unser Auftritt an diesem Abend vorüber war, da kam sie auf mich zu. Glaubt es oder nicht, ich hatte nicht geplant, meine Verführungskünste auf sie loszulassen. In Wirklichkeit – und ich schäme mich, das zu sagen – hatte ich nicht den Mumm dazu. Ich war siebzehn und hatte Mädchen von Minas Tirith bis Bree flachgelegt, seit ich alt genug war, zu wissen, dass man sie flachlegen kann, aber sie war anders.

Obwohl ich keine Ahnung hatte, wer sie war, und obwohl die Art, wie sie beim Tanz meinen Blick eingefangen hatte mir sagte, dass sie auch ein Auge auf mich geworfen hatte, wusste ich, dass sie nichts für mich war. Dies war ein Mädchen für jemanden von Stand, jemanden, der ihr alles schenken konnte, was sie jemals gewollt hatte, und noch ein bisschen mehr. Nicht ein Mädchen, das von irgendeinem schmuddeligen, herumziehenden Musikus ohne Wurzeln umworben und im Stich gelassen werden sollte.

Und um die Wahrheit zu sagen, ich war ein bisschen – nun, ich glaube nicht, dass ich jemals vorher ein hübsches Mädchen angeschaut und nicht mit mir selbst Wetten abgeschlossen hatte, wie lange ich brauchen würde, um ihr wenigstens einen Kuss zu rauben. Aber als ich sie sah, kam mir ein solcher Gedanke nicht in den Sinn. Deswegen wusste ich, dass es mich ordentlich und wahrhaftig erwischt hatte. Ich wollte nicht einmal einen Kuss – gut, also schön, ich wollte einen, aber ich würde ganz sicher nicht versuchen, einen zu bekommen.

Wie auch immer, sie kam zu mir herüber und lobte mein Spiel, obwohl ich wusste, dass ich ein paar Mal beschämend aus dem Rhythmus gekommen war, „dank“ ihrer wohlgeformten Knöchel. Ich schaffte es, nicht über meine Zunge zu stolpern – ich bin nicht sicher, wie – und ich brachte sie sogar ein- oder zweimal zum Lachen. So ein süßes und freimütiges Lachen habe ich nie zuvor und nie seither gehört – es machte, dass mir die Haut prickelte.

Ich hätte merken sollen, dass ihr Lachen ein oder zwei Blicke auf sich zog. Ich hätte den jungen Reiter sehen sollen, der uns misstrauisch beobachtete, aber ich war so gefangen von ihrer Schönheit, dass es mir nicht aufgefallen wäre, wenn ein Balrog aus dem Boden hervorgesprungen wäre und mir den Kopf abgebissen hätte.

Deshalb nehme ich an, dass das blaue Auge wirklich mein eigener Fehler war. Üblicherweise war ich ein bisschen geschickter, wenn ich mit einem Mädchen davonstahl, und ich nehme an, dass es ein bisschen offensichtlich war, sich mit ihr hinter eine Scheune zu schleichen, aber das Versprechen in ihren Augen lenkte mich zu sehr ab.

Ihre Lippen waren weich und warm; sie schmeckte schwach nach Honigmet und roch nach Zedern. Ich merkte, dass sie noch nie zuvor jemanden geküsst hatte, und ich passte mich kunstvoll der Gangart an, die sie vorgab – was eine ziemliche Geduldsprobe war, lasst Euch das versichern.

Ihre Zurückhaltung begann dahin zu schmelzen, sie lehnte sich an mich, und – oh grausames Entzücken – ihr Mund öffnete sich ganz leicht unter meinem, als sie seufzte…

… und natürlich war das der Augenblick, als der Herr Éomer um die Ecke gepoltert kam, auf der Suche nach seiner abhanden gekommenen Schwester.

Selbstverständlich bin ich davongerannt. Nach meiner Erfahrung ist es immer besser, vor einem wütenden Bruder zu flüchten, als ihm entgegenzutreten und den Versuch zu machen, sich zu verteidigen. Die hören nie zu.

Als er mich eingeholt hatte, war er netter zu mir, als er es hätte sein müssen. Manche Männer hätten mich grün und blau geschlagen; manche hätten mir die Nase oder die Hand gebrochen – der Herr Éomer schlug mich bloß einmal (obwohl ich ihn für einen Moment gleich dreimal sah), und erklärte mir unmissverständlich, dass ich meine Sachen packen und beim ersten Tageslicht Edoras verlassen würde.

Ich gehorchte ihm mit Freuden, und nebenbei – ich hatte schon ganz gutes Geld verdient, und da ist immer irgendwo eine Truppe, die einen guten Bodhran-Spieler brauchen kann. Natürlich habe ich Éowyn nicht wiedergesehen, es sei denn, wenn ich von ihr träumte. Und ich träumte von ihr, bis zu dem Punkt, an dem ich anfing, nur noch Augen für schlanke Mädchen mit Haaren wie die Sonne zu haben.

Aber als ich das nächste Mal meinen Instrumentenkoffer aufmachte, da fand ich darin das Taschentuch einer Dame, grün, und rings um den gesamten Rand bestickt mit weißen Pferden.

ENDE

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Ein Bodhran ist eine große, irische Trommel, mit Ziegenfell bespannt. Sie wird entweder mit der Hand oder mit dem Holzklöppel gespielt.


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