Umgeschrieben (Revision)
von Teasel, übersetzt von Cúthalion

Ein frischer Bogen Papier lag vor ihm; drei frisch gespitzte Federn warteten gleich daneben. Vom Fenster her spiegelte sich das Licht im Tintenfass und in Bilbos Teetasse, und in diesem dunstigen Morgenglanz wirbelten ein paar vereinzelte Staubflocken träge durch die Luft des Studierzimmers. Der Raum roch nach Büchern und alles war still, abgesehen von dem eigentümlichen Knacken und Knistern des kleinen Feuers, das im Kamin brannte. Vielleicht war dieses Feuer im Juni nicht nötig, aber Bilbo hatte herausgefunden, dass er in letzter Zeit morgens fröstelte, und während das Feuer ihn zwar nicht tatsächlich warm hielt, so sah es doch warm aus. Er seufzte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der leeren Seite zu.

Gelächter drang schwach durch die Erdwände von Beutelsend. Bilbo schaute auf und lächelte. Der Junge – nicht mehr wirklich ein Junge; in ein paar Monaten würde er jährig sein – war draußen mit diesem Tunichtgut, seinem jungen Brandybock-Vetter, damit beschäftigt, irgendwelchen Unfug anzustellen. Wenn Bilbo den Hals verdrehte, konnte er durch das Fenster den Garten sehen, leuchtend von grünem Gras und gelben Rosen. Frodo und Jung-Merry waren nirgendwo zu sehen, aber so lange Bilbo sie hören konnte, würden sie wohl kaum viele Schwierigkeiten machen.

Ein guter Junge, und gutherzig noch dazu, trotz all seiner Streiche. Diese kleine Aufgabe, der Bilbo sich gerade unterzog, geschah in Wirklichkeit um Frodos Willen. Nun, da Frodo die Wahrheit kannte, sollte er auch die ganze Wahrheit haben, frank und frei dargelegt, und ohne Widersprüche. Natürlich brauchte Bilbo so etwas nicht für sich selbst. Er erinnerte sich vollständig an alles. Seine Erinnerung war so scharf wie die eines Zwanzigers... helle kleine Bilder in seinem Kopf aus lang vergangener Zeit.

Bilbo rutschte in seinem Stuhl hin und her und spielte mit einem der Messingknöpfe an seiner Weste herum. Das würde leicht sein.... musste es einfach. Wirklich, er konnte sich nicht erklären, warum er es nicht schon früher getan hatte. Das war alles so überaus albern. Er nahm eine Feder. Er schloss die Augen, die Zungenspitze im Mundwinkel, wie es seine Gewohnheit war, wenn er eine Geschichte komponierte. Ja, dies würde leicht sein, jetzt, da er Frodo endlich die Wahrheit gesagt hatte. Seine Hand schwebte über dem Blatt.

„Dieb! Beutlin! Wir hasssssen ihn, wir hasssssen ihn, wir hasssssen ihn auf ewig!“

Ja, das war es.

Bilbos Hand regte sich nicht – abgesehen davon, dass sie leicht bebte. Zu seiner Überraschung lag das Blatt leer vor ihm. Er tauchte seine Feder in das Tintenfass und begann von vorne.

„Dieb!“

Noch immer starrte das Blatt leer zu ihm zurück, und Bilbos Hand schrieb nicht. Bilbo betrachtete sie neugierig, so, wie er ein Vogelküken beobachtet haben würde, ein winziges, hilfloses Geschöpf, das aus einem verlassenen Nest fiel. „Verwünscht!“ bemerkte Bilbo ins Leere hinein. Er zwirbelte den Federkiel zwischen den Fingern, und ein Tropfen Tinte, dick und schwarz und glänzend, bildete sich an der Spitze. Er zwirbelte schneller und der Tropfen zitterte, tanzend wie eine dunkle, nasse Flamme, bis er endlich fiel. Das Studierzimmer war so still, dass Bilbo das leise, flüssige Platsch! hören konnte, als der Tropfen auf das Blatt traf. Bilbo legte den Federkiel beiseite, faltete den befleckten Bogen in perfekte Vierecke und legte ihn in den Korb zu seinen Füßen. Dann öffnete er die Schreibtischschublade und holte ein neues, sauberes Blatt heraus. Er legte es vor sich hin, setzte sich gerade hin und zog an seiner verrutschten Weste. So, (Dieb!), dachte er, (Dieb!) und nahm seinen Federkiel, jetzt bin ich soweit. Ohne innezuhalten, um mit sich selbst zu streiten, bewegte er die Hand. Die Feder kratzte geschwind über die Seite, winzige Tintentröpfchen verspritzend.

Müssen wir ihm dasss Ding geben, Schatzzzz? Ja, dasss müsssen wir! Wir müssssen esss holen, Schatzzzz, und müsssen ihm dassss Geschenk geben, wie wir verssssprochen haben.

Bilbo starrte bestürzt auf die Seite herunter. Das war nicht geschehen, nein, nein, nein. Das was, was er den Zwergen erzählt hatte; das war, was er in sein Buch geschrieben hatte, aber so war es absolut nicht gewesen. Er schaute seine Hand an, und dann wieder die Seite. Wirklich, solch eine Narretei! Er konnte es nicht begreifen. Mit einer ungeduldigen Bewegung strich er aus, was er geschrieben hatte, Dann faltete er das Papier in Vierecke, legte es in den Korb und holte ein neues.

Die ausgeklügelte Zwergenuhr in der Halle schlug die Viertelstunde an, und wie immer schien ihr leises Ticken lauter zu sein, nachdem die Uhr auf sich aufmerksam gemacht hatte. Tick, tack, tick, tack: ein gedämpftes, monotones Messen von Augenblicken, von Stunden, von Tagen, immer gleich. Bilbo verdrehte den Hals, um wieder aus dem Fenster zu schauen, und sein Garten strahlte wie immer grün und golden. Tick, tack, tick, tack – wieder schaute er hinunter. Während er das tat, flackerte etwas in seinem Augenwinkel; die Farben des Gartens verschwanden. Bleiche Schatten flimmerten unter schwarzem Licht, aufzuckend in einem stillen Schrei.

Er blickte jäh auf. Der Garten sah aus wie gewöhnlich.

Er lehnte sich in den Stuhl zurück. Mit zitternden Fingern langte er in seine Westentasche, zog ein schneeweißes Taschentuch heraus und betupfte seine Stirn damit. Sein Atem kam in Stößen, so, als wäre er gerannt. Er blickte aus dem Fenster: alles war in Ordnung. Er schaute hinunter, dann wieder hoch. Genau das selbe.

„Zur Hölle mit diesen verwünschten Träumen!“ sagte er. Er dachte, dass er vielleicht mehr Tee nötig hatte. Tee wäre großartig. Etwas anderes wäre genauso großartig: nur für einen Augenblick seinen Ring anzusehen. Er zog ihn aus der Tasche. Wie überaus hell er war inmitten seiner feuchten Handfläche: heller als der dunstige Sonnenschein, heller als das fröhliche, kleine Feuer. Während er das hübsche, glänzende Ding anstarrte und mit dem Daumen rundherum über seine Härte fuhr, verblasste das Zimmer um ihn herum zu einem Kreis der Düsternis, die um das goldene Licht des Ringes pulsierte. Er starrte und starrte, bis sich seine Augen heiß und trocken anfühlten.

Die Zwergenuhr schlug die halbe Stunde an.

Bilbo schreckte hoch. Wenn das so weiterging, würde er keine Zeit haben, den Elf-Uhr-Imbiss vorzubereiten, und er hatte diesen jungen Tunichtguten ein paar von seinen Saatkuchen versprochen. Er schaute das Pergament an und runzelte die Stirn, als könnte er sich nicht mehr recht erinnern, wofür es gedacht war. Dann schob er den Ring wieder fest in seine Tasche, zog seine Weste gerade, kämmte sich das Haar mit den Fingern und schob die silbernen Locken sauber hinter seine Ohren. Er räusperte sich. Er nahm seinen Federkiel auf und dachte Dieb! und schrieb:

Wir wollten ihm unssser einzzzziges einzzzzziges Geschenk geben...

Nein, nein, nein. Er strich es aus. Nein. Dies sollte einfach sein, dies sollte leicht sein. Er hatte Frodo die Wahrheit erzählt. Frodo hatte die Augenbrauen gehoben, sein Gesichtsausdruck irgendwo in der Schwebe zwischen einem Lächeln und einem Stirnrunzeln, und gesagt: Das klingt viel wahrscheinlicher, Bilbo, und aus irgend einem Grund hatte er hinzugefügt: Aber was hättest du auch sonst tun können?

So einfach, dies sollte so einfach sein. Viele Dinge waren einfach, erinnerte Bilbo sich selbst; das Leben selbst war wirklich einfach. So viele gute Dinge. Er rief sich Frodos Gesicht ins Gedächtnis, Frodos Augen, blau und offen und frei wie der lächelnde Himmel über der Wässer; den Mond, von Sternen umgeben, angeordnet wie eine glitzernde Silberkrone; er hörte elbische Stimmen, hoch und klar, singend und lachend in einem weit entfernten Tal. Er hielt seinen Federkiel fest in der Hand, fester, fester... als fiele ein Teil von ihm ins Leere, kreiselnd wie ein totes Blatt im Wind – aber dieser Federkiel war sein Grund, seine Erde, sein Heim und all die guten Dinge ; Frodos Augen und der Mond und die Sterne und die süßen, elbischen Stimmen. Er klammerte sich daran, schloss die Augen und dachte: Plötzlich setzte sich Gollum hin und fing an zu weinen, ein pfeifendes, gurgelndes Geräusch, schrecklich anzuhören.

Mit enormer Erleichterung spürte er, wie sich seine Hand über die Seite bewegte. Er öffnete die Augen, schaute hinunter auf das, was er geschrieben hatte, und erbebte.

Ich weiß nicht, wie oft Gollum Bilbo um Verzeihung bat.

Nein. Das war nicht geschehen.

Bilbo legte seinen Federkiel beiseite. Er faltete das Papier in Vierecke und legte es in den Korb. Bedächtig schob er den Stuhl vom Tisch zurück und stellte sich ans Fenster, sanft auf den Zehen wippend und eine wortlose, kleine Weise vor sich hinsummend.

Er sagte: „Ich verstehe nicht.“ Er schaute in seinen Garten hinaus – seinen Garten, der in Wahrheit nicht mehr sein war – denn die bleichen Schatten und das schwarze Licht lagen nun immer am Rande seines Blickfeldes. Jetzt warteten sie auf ihn, und eines Tages, wenn er aus seiner Tür trat, würde er sich selbst nackt unter der dunklen Sonne und den dunklen Sternen wiederfinden.

Bilbo holte tief und schaudernd Atem. „Ich brauche Ferien.“ flüsterte er.


ENDE


Notiz von Teasel:

Die Zeilen, die Bilbo niederschreibt, wurden der ersten Ausgabe des „Hobbit“ von 1937 entnommen (neu gedruckt in „Der kommentierte Hobbit“). In dieser frühen Version der Geschichte bot Gollum an, Bilbo ein Geschenk zu geben, falls Bilbo den Rätselkampf gewann. Bilbo gewann, obwohl er den Ring schon aufgehoben hatte, als das geschah. Er sagte es Gollum nicht, und Gollum, der Bilbo das Geschenk, das er ihm versprochen hatte, nicht geben konnte, erklärte sich damit einverstanden, Bilbo den Weg aus den Orkhöhlen zu zeigen. Tolkiens Revision für spätere Ausgaben ist bedeutend anders, viel besser, und natürlich bildet sie eine Einheit mit der Handlung des Herrn der Ringe. Im HdR selbst hatte Tolkien die geniale Idee, die erste Version der Geschichte als eine bizarre, verwirrende Lüge darzustellen, die Bilbo im Roten Buch erzählt hatte, um seinen Anspruch auf den Ring zu rechtfertigen.


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