Traumkind
von Cúthalion


Rating: PG-13

Kapitel 3
Im Guten wie im Schlechten

Er trug sie ins Schlafzimmer und Rosie eilte in die Küche, um einen Johanniskrauttee aufzusetzen. Lily brauchte nur Minuten, um wieder zu sich zu kommen, aber Frodo begriff sofort, dass er keine Möglichkeit haben würde, irgendetwas über die Alpträume, das Schlafwandeln und das seltsame Wiegenlied herauszufinden. Abgesehen von einem leisen „Dankeschön, Rosie,“, als sie eine Tasse Tee entgegennahm, wahrte sie ein steinernes Schweigen, und sie wahrte es für den Rest des Tages. Er konnte nur vermuten, was in ihrem Geist vorging, und während die Stunden quälend langsam verstrichen, schien Lilys Schweigen den Smial zu auszufüllen wie eine dunkle Wolke.

An diesem Abend lag Frodo in dem großen Bett, seine Frau eine stumme, atmende Gestalt unter dem warmen Federbett neben sich, Während des Abendessens hatte sie kein Wort gesagt, und er war damit beschäftigt gewesen, ihr müdes, undurchdringliches Gesicht zu beobachten – was jedes mögliche Gespräch zwischen Schweinebraten, eingelegtem Weißkohl und Petersilienkartoffeln zu einer ziemlich zähen Angelegenheit machte. Endlich gaben Sam und Rosie es auf, die Unterhaltung ganz allein in Gang zu halten, und der Herr und die Herrin von Beutelsend sagten ihnen Gute Nacht und traten einen geordneten Rückzug an.

Lily ließ es zu, dass er ihr aus den Ärmeln ihres losen, wollenen Kittels half, aber sobald sie ihr Nachthemd trug, schlüpfte sie ins Bett und wandte sich von ihm ab; ihre Haltung zeigte deutlich, dass sie nicht reden wollte, geschweige denn bereit war, Fragen zu beantworten. Normalerweise hätte er für diese Zurückhaltung ihrem besonderen Zustand verantwortlich gemacht, aber sie hatte nur sehr wenige Anzeichen der Launen gezeigt, die man schwangeren Frauen im Allgemeinen zuschrieb. Was auch immer diesen plötzlichen Rückzug ausgelöst hatte, es war derselbe heimliche Alpdruck, der sie mitten in der Nacht dazu brachte, über einer leeren Wiege zu weinen.

Er lag mit weit geöffneten Augen neben ihr und kämpfte gegen den wachsenden Eindruck an, dass seine Frau langsam aus seiner Reichweite davontrieb… etwas, das er noch vor wenigen Tagen kaum für möglich gehalten hätte. Sie waren jetzt seit fast acht Jahren verheiratet, und sie waren zuvor schon Liebende gewesen, abgesehen von der Zeit, als er den Ring aus dem Auenland fortgebracht und durch halb Mittelerde zu diesem verfluchten Berg getragen hatte. Es gab eine Lücke von nahezu zwei Jahren zwischen ihren heimlichen Begegnungen und der Zeit nach dem Ringkrieg, als sie endlich den ersten Versuch machten, ihre tiefsten Wunden zu heilen. Nun bröckelte die Sicherheit, dass keine Geheimnisse mehr übrig waren, langsam ab und ließ ihn seltsam nackt zurück… und dieses Gefühl sorgte dafür, dass ihm das Blut kalt durch die Adern rann.

Sprich mit mir, dachte er, gefährlich nahe an der Verzweiflung. Fahr nicht fort damit zu schweigen, meine Liebste, oder wir sind beide verloren.

Er erinnerte sich an die Tage nach diesem Brief von Elrond, der ihm einen Ort anbot, wo er vielleicht Heilung von seinen bitteren Erinnerungen finden mochte. Er war geblieben und hatte Bilbo umarmt, bevor er an Bord dieses unfassbar schönen, weißen Schiffes gegangen war. Er hatte das vertraute, geliebte Gesicht seines Onkels betrachtet, aus dem die Runzeln wundersamerweise verschwanden, als ein unschuldiges, kindliches Staunen alle Anzeichen des Alters wegwischte. Er hatte auf dem Pier des uralten Mithlond gestanden, Galadriels Phiole zu einem flammenden Lebewohl in die Höhe gehalten und nicht auf die Tränen geachtet, die ihm über die Wangen strömten.

Er war nach Hause zurückgekehrt, zurück nach Hobbingen, zu Sam und Rosie und der Frau, die er liebte. Sie hatten seither fast jede Nacht gemeinsam verbracht, und es hatte Zeiten gegeben, da war er sich nicht einmal mehr sicher gewesen, wo seine Träume aufhörten und ihre anfingen. Aber nun spürte er, dass die Tür zu ihrem Geist verriegelt war; die Schwelle, die er immer so leicht überquert hatte, um ihre Gedanken zu durchstreifen, hatte sich plötzlich in eine streng bewachte Grenze verwandelt.

Er spürte, wie der Schlaf sich näherte und war kurz davor, nachzugeben, als seine Frau sich neben ihm plötzlich aufsetzte. Er folgte ihrer Bewegung und berührte vorsichtig ihre Wange.

„Lily…? Was ist denn, Liebes?“

Es kam keine Reaktion, und er schaute genauer hin; ihre Augen waren weit geöffnet und starrten gebannt auf etwas, das er nicht sehen konnte – und dann schwang sie ihre Beine aus dem Bett, stand auf und ging hinaus. Eru, nicht schon wieder, dachte er und spürte einen Schauder hilfloser Resignation, der ihm den Rücken hinab rann… aber dann hatte er einen plötzlichen Einfall. Es war ihm schon einmal gelungen, sie zu überlisten, nachdem sie monatelang nicht mit ihm geredet hatte.* Vielleicht war die Zeit gekommen, es wieder zu tun.

Er folgte ihr den Gang hinunter, mehr oder weniger sicher, dass sie den üblichen Weg zur Wiege nehmen würde. Aber zu seiner Überraschung achtete sie nicht auf das Kinderzimmer und ging ihm voraus, bis sie die Eingangshalle erreicht hatten. Für eine kleine Ewigkeit stand sie reglos in einem Flecken Mondlicht, und er wartete mit angehaltenem Atem. Dann wandte sie sich plötzlich zum Ausgang, wobei sie die Kleiderhaken, wo die warmen Wintermäntel und Schals der Bewohner von Beutelsend hingen, völlig ignorierte. Sie streckte die Hand aus und berührte den polierten Knauf. Im nächsten Moment flog die grüne Tür auf, und ein starker Windstoß blähte ihr Nachthemd und zerzauste ihm das Haar. Die Luft war eiskalt. Er schüttelte die Betäubung ab und hastete an ihre Seite, kurz davor, seinen Plan fallen zu lassen.

Das war Wahnwitz. Er musste sie wieder zurück ins Bett bringen, ehe sie sich und dem Kind Schaden zufügte. Und doch…

Er schloss die Tür, nahm ihre Hand und führte sie zum Kamin hinüber. Zu seiner Überraschung folgte sie ihm ohne jeden Widerstand, aber anstatt sich in den Schaukelstuhl zu setzen, blieb sie daneben stehen, mit halb geschlossenen Augen und hängenden Armen. Frodo nahm einen Schürhaken und stocherte in der Glut, bis die ersten winzigen Flammen aufzüngelten. Er schichtete einen Stapel aus Apfelholzscheiten auf und wartete mit mühsamer Geduld, bis er die Wärme des Feuers auf seinem Gesicht fühlen konnte, dann wandte er sich wieder zu ihr um, halb in Sorge, dass sie wieder verschwunden sein könnte. Aber sie stand noch immer an derselben Stelle. Er zog sie an sich, bis er sie Stirn and Stirn hielt.

Herrin der Sterne, lass es gelingen. Bitte.

"Wo wolltest du hingehen, Lily?” fragte er, die Stimme leise und trügerisch sanft.

Die blicklosen Augen begegneten den seinen. Sie war weit jenseits seiner Reichweite, aber der Teil ihres Geistes, den er noch immer berühren konnte, gab ihm wunderbarerweise Antwort.

„Ich muss sie finden,“ flüsterte sie; ihr Ton war unendlich traurig. „Sie ist fort.“

„Wer ist ,sie’? Und wo ist sie hin gegangen?“

„Das Baby,“ Er konnte kaum verstehen, was sie sagte; die Worte waren kaum mehr als ein lautloser Hauch warmer Luft. „Das kleine Mädchen.“

Er hatte zu kämpfen, dass sein eigener Tonfall ruhig blieb. „Wo… wo ist sie hin gegangen?“

„Wo ich sie hingeschickt habe,“ erwiderte sie. Der Körper, der in seinen Armen zusammenschauderte, was ihm vertraut; aber die Frau, die sprach, hätte ihm nicht fremder sein können. „An den Ort, von dem niemand zurückkommt. Unter dem Hügel.“

Plötzlich erinnerte er sich an die Worte des beängstigenden Liedes, das Rosie ihm wiederholt hatte, und jetzt war es, der zitterte. Er räusperte sich und verstärkte seinen Griff um ihre Schultern.

„Unter dem Hügel?“

„Sie kann nicht schlafen,“ wisperte Lily. „Sie kann nicht schlafen, und ich höre, wie sie weint. Ich muss sie finden.“ Eine lange Pause; ihr Atem ging schneller. „Folco… ich konnte es ihm nicht sagen. Ich konnte ihm nicht sagen, was ich vorhatte. Es roch nach Obst, so frisch und süß... aber der Geschmack war so bitter wie Galle. Und dann bin ich davongetrieben… in diesem Boot…“ Tränen stiegen in ihre seltsam blinden Augen und liefen ihr langsam die Wangen hinunter. „Sie kann nicht schlafen…“

Frodo schluckte; ihm fehlten die Worte. Das Bild, das diese gequälte Stimme vor seinem inneren Auge malte, sorgte dafür, dass sich sein Magen zu einem schmerzhaften Knoten zusammenzog. Das Weinen einer kleinen Stimme mitten in der Nacht… kein Wunder, dass Lily im Schlaf herumgewandert war, von Träumen heimgesucht.

Folco Gutleib… war es das, was sie dem hilfsbereiten jungen Bauern nie erzählt hatte? Er hatte die junge Hebamme so sehr geliebt, war ihr so sehr ergeben.

War es Folcos Kind gewesen?

Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf und führten ihn auf einen dunklen Weg, den zu verfolgen er nicht die Ansicht hatte. Frodo trat zurück, die Hände noch immer fest um ihre Schultern geschlossen; er holte mehrmals tief Luft, bis er sicher war, dass er seine Fassung zurückgewonnen hatte. Lily befand sich noch immer in diesem eigenartigen Zustand der Abwesenheit; ihr Gesicht war ausdruckslos und leer. Er hob sie auf die Arme und trug sie langsam ins Schlafzimmer zurück. Sobald er sie auf die Matratze gelegt und die Decke bis zu ihrem Kinn hochgezogen hatte, seufzte sie leise und öffnete die Augen.

„Frodo?“ Sie blinzelte. „Fehlt dir etwas? Wieso bist du aus dem Bett?”

Er beugte sich über sie und küsste ihr die Stirn.

„Es ist nichts, meine Indil. Ruh dich aus, Liebes… ich mache mir eine Tasse Tee und lese ein bisschen.“

Unter normalen Umständen hätte sie es nie dabei belassen. Er kannte ihre liebende Einsicht, wie instinktiv sie wahrnahm, wenn er sich durch irgendetwas belastet fühlte; sie war zur Expertin geworden, wenn es darum ging, Heilung für einen betrübten Geist zu finden und alte Dämonen auszutreiben. Aber jetzt lagen die Dinge anders… schmerzhaft anders.

„Bleib nicht zu lange im Studierzimmer,“ sagte sie schläfrig. „Das letzte Mal, als du dort mitten in der Nacht hingegangen bist, habe ich dich nach Sonnenaufgang im Sessel gefunden und du hast dich den Rest des Tages über schlimme Rückenschmerzen beklagt.“

„Keine Rückenschmerzen, ich versprech’s,“ flüsterte er und streckte die Hand nach dem Leuchter aus. „Ich bin bald wieder da.“

Er blies die Kerze aus, ließ sie in dem stillen, dunklen Schlafzimmer zurück und schloss die Tür hinter sich.

*****

Natürlich kam Frodo nicht bald wieder zurück. Er ging in die Eingangshalle, ließ sich in dem Schaukelstuhl vor den fröhlich brennenden Flammen nieder und starrte in die gleißende Helligkeit, bis seine Augen anfingen zu tränen. Er wollte nicht zu der Flasche im Wandschrank Zuflucht nehmen; er brauchte jetzt einen klaren Kopf.

Er grübelte stundenlang und brachte zornig die Stimmen in seinem Geist zum Schweigen, die von Lügen und Betrug keiften, bis das Chaos seiner Gedanken sich langsam zu einem deutlichen Muster formte und der Sog von Fragen zu einem Handvoll Geheimnisse schrumpfte, die er zu lösen hatte.

Hatte Lily ihn angelogen? War mehr gewesen zwischen Folco Gutleib und ihr als ein tiefes Band der Freundschaft? Und hatte es gewisse Folgen gegeben, von denen er nichts gewusst hatte – ebenso wie Folco?

Er erhob sich aus dem Schaukelstuhl; er konnte nicht länger stillsitzen. Tief in seinem Herzen wusste er, dass er nicht das Recht hatte, sie zu verurteilen, wenn sie sich einem liebevollen Freund zugewandt hatte, nachdem er für so lange Zeit fort gegangen war. Sie konnte nicht sicher sein, dass er ins Auenland zurückkehrte, trotz seines Versprechens während ihrer letzten Begegnung. Die Zeiten waren finster gewesen, und Lily verzweifelt allein, dazu gezwungen, für einen gebrechlichen Vater zu sorgen und unter der ständigen Bedrohung durch jemanden, dem es bereits gelungen war, sie zu missbrauchen und zu demütigen. Was wäre verständlicher gewesen, als Hilfe und Schutz in Folcos Armen zu suchen – nachdem er selbst weit weg war, höchstwahrscheinlich nie wiederkommen würde und völlig unfähig war, ihr beides zu bieten?

Frodo rieb sich die Stirn und spürte einmal mehr den alten, bitteren Geschmack des Versagens im Mund. Wenn er hier gewesen wäre…

Nein. Er hatte seinen eigenen Kampf gekämpft, unfähig, mehr zu ertragen als die Besessenheit durch den Ring, die ihn von innen her auffraß und seinen Geist vernebelte, bis er kaum noch seinen eigenen Namen wusste. Und er hatte seine eigenen Kompromisse mit dem Schicksal geschlossen, seine eigenen Fehler gemacht. Er konnte es Folco nicht übel nehmen, dass er sich in die Frau verliebt hatte, der sein Herz gehörte. Er konnte nicht einmal auf Lily wütend sein, falls sie versucht hatte, etwas Liebe und Zärtlichkeit zu finden – nachdem ihre letzte Erfahrung mit körperlicher Liebe die von grausamer Brutalität und von Schmerz gewesen war. Aber---

Ich höre sie weinen, das kleine Mädchen. Ich muss sie finden. Sie kann nicht schlafen.

Er fuhr zusammen, das geisterhafte Echo ihrer untröstlichen Stimme in den Ohren.

Dort, wohin ich sie geschickt habe. Zu dem Ort, von dem niemand zurückkommt.

Wie sollte er mit solch einer Sache umgehen? Wie konnte er erwarten, die Wahrheit herauszufinden, während Lily sich immer noch weigerte, mit ihm zu reden? Rosie hatte keine Ahnung von der ganzen Angelegenheit – sie war so verwirrt und erschreckt gewesen wie er selbst.

Plötzlich stand Frodo ganz still und starrte ins Leere. Nach einer Weile straffte er sich, ging zum Schrank hinüber und holte die Flasche heraus. Er goss sich ein kleines Glas der dunkelgoldenen Flüssigkeit ein.

Er wusste, wer ihm vielleicht die Antworten geben würde, die er finden musste.


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