Eine Tochter Rohans
von Monique


Ein Falke zog seine Kreise über die unermesslichen Weiten des Himmels, die nur durch die Bergketten am Horizont begrenzt wurden. Sie beobachtete den Flug des Vogels, wie er sich, durch den Wind getragen, in immer größere Höhen schraubte.

Sie beneidete ihn um seine Freiheit, um die Möglichkeit jede Richtung einschlagen zu können, völlig ungezwungen an einem Ort zu verweilen und ihn ebenso wieder zu verlassen.

Sie hatte ihr Pferd nach wildem Galopp abrupt gezügelt und all ihre Mutlosigkeit und Verzweiflung in die Welt hinausgeschrieen, die angesichts des Kummers einer einzelnen kleinen Menschenseele ungerührt weiter bestand. Nur der Falke wurde von den kläglichen Resten seiner Mahlzeit aufgeschreckt; er segelte wachsam durch sein himmlisches Reich, um so in sicherer Entfernung den Grund für einen derartigen Aufruhr herauszufinden.

Ihre Augen folgten dem Tier und sie wurde gewahr, wie mit jedem Schlag der kräftigen Flügel die Ruhe als lang vermisste Begleiterin an ihre Seite zurückkehrte. Ihr war als könne sie sich aus ihrem Sattel erheben und ihn auf seinem Flug begleiten. Aber die Last ihrer irdenen Existenz wog schwerer und hielt sie im Klammergriff.

Selbst die Tatsache, dass sie im Augenblick weit entfernt war von Krankheit und zunehmendem Verfall, verhinderten es nicht, dass sich die Bilder erneut ihrer bemächtigten. Sie spürte wie sich Tränen ihren Weg bahnten. Ärgerlich kniff sie die Augen zusammen und wischte die salzig brennenden Rinnsale trotzig fort. Sie hatte gelernt, vieles mit der Stärke und Willenskraft der Frauen der Mark zu ertragen, mit dem anerzogenen Stolz und der Würde einer Königsnichte. Doch es war eine schwere Bürde, die ihr in so jungen Jahren auferlegt worden war.

Ich bin doch nur ein Mädchen, das sich nach der tröstenden Hand einer Mutter und nach dem weisen Zuspruch eines Vaters sehnt, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Aber dieser Trost blieb ihr verwehrt. Sie schämte sich dieser Schwäche um so mehr, da sie den einzigen Menschen angezogen hatte, dem sie so oft als möglich aus dem Weg zu gehen suchte. Ein kalter Schauer überlief sie bei der Erinnerung, Übelkeit und Ekel; noch immer fühlte sie die Berührung seiner widerwärtig warmen und klammen Hände auf ihrem Gesicht, fühlte, wie sie ihr die Tränen wegwischten und danach viel zu lange auf ihren Schultern verweilten. Sie roch seinen Atem und hörte seine Worte; verkrüppelte Sentenzen des Mitleids, falsch in jeder Silbe, unfähig zur Wahrhaftigkeit und dennoch anziehend, hypnotisierend und lähmend, ihr jegliche Kraft raubend. Erst, als seine Finger ihre Arme hinunter gewandert waren, war es ihr gelungen, sich aus seinem Griff und von seinem giftigen Pesthauch zu befreien.

Sie stieg vom Pferd und kraulte es nachdenklich hinter den Ohren, während sie sich an seinen Hals lehnte. Ihr Blick fiel auf jenen Ort in der Ferne, den sie seit dem Tod ihrer Eltern Heim nannte und auf die Hügelgräber, an deren Hängen sie zweimal das Klagelied gesungen hatte. Ihr Oheim*, damals noch voller Kraft, hatte ihr den Arm um die schmalen Schultern gelegt und in seinen Augen spiegelte sich ihr Kummer wieder.

Liebevoll hatte er sie und ihren Bruder aufgenommen, hatte mit ihr lachend im Sonnenschein kleine Schwertkämpfe ausgefochten und beide Geschwister auf lange Ritte durch die Riddermark* mitgenommen. Häufig saß sie ihm im Schein des Feuers zu Füßen, wenn er ihnen Geschichten erzählte, von Fürsten und Kriegern und Heldentaten aus längst entschwundenen Zeiten, bis... ja, bis sich der Schatten auf die goldene Halle senkte, dem König erst die Verlässlichkeit seines Körpers raubte und anschließend seinen Geist in Nebel hüllte. Und weil sie ihren Oheim liebte und all der schönen Zeiten mit ihm gedachte, hatte sie sich nach und nach seiner körperlichen und geistigen Gebrechen angenommen. Anfangs voller Geduld und Wärme, war sie ihm Stütze und Zuspruch gewesen und war dann gezwungen, seine Verwandlung in diesen zänkischen, quengelnden, alten Greis zu beobachten, der sie mit kratziger, übellauniger Stimme herumscheuchte. Fast schon als Segen begrüßte sie den Umstand, dass er von einem Tag auf den anderen beinahe gänzlich verstummte. Aber wie viel schmerzvoller war es für sie gewesen, mitzuerleben, wie seine Augen sie leer anstarrten und nicht mehr erkannten, und wie er mit schwachem Flüstern nach seinem Berater verlangte...

Häufig wünschte sie sich in die Haut ihres Bruders oder ihres Vetters, die ihren Dienst bei den Éored* versahen. Wenn Feinde die Grenzen dieses Landes verletzten, mordend und plündernd, dann konnten sie mit gezogenem Schwert ihren Mut unter Beweis stellen. Sie selbst jedoch focht gegen unsichtbare Gegner einen mehr als ungleichen Kampf, dessen alltägliche Wiederholung weder mit Ehrbezeugungen anerkannt, noch in Liedern und Geschichten besungen wurde.

Dies ist dein Leben, sprach wieder die Stimme, diesmal deutlich bitter. Deine Aufgabe ist es, daheim zu bleiben, deinen kranken Oheim zu hüten und, wenn Du dereinst einen Ehemann findest, ebenso gebunden zu sein, ohne dass die Welt jemals deinen wahren Wert erkannt hat.

Sie griff schon nach den Zügeln, als ihr plötzlich eine Szene wieder in den Sinn kam, die sie längst vergessen geglaubt hatte; ihre Mutter, die ihre langen Goldsträhnen bürstete und dann mit Stolz in der Stimme sagte: „Du bist wie deine Großmutter, mein Kind. Und ich sehe mit großer Gewissheit, dass du einmal etwas Großes und Bedeutendes vollbringen wirst, das niemand außer dir allein vollbringen kann.“

„Woher willst du das wissen, Mutter?“ hatte sie damals gefragt.

„Weil es so sicher ist wie Tag und Nacht. Und weil Mütter ihre Töchter immer besser kennen als die Töchter sich selbst.“

Diese Worte waren kostbar wie ein Kleinod und erfüllten sie plötzlich mit einem tiefen Wohlbehagen und einem Gefühl der Zuversicht. Dieses Vermächtnis ihrer Mutter an sie konnte sie erst jetzt voll ermessen.

Mit Schwung bestieg sie ihr Pferd, das die veränderte Stimmung seiner Herrin wahrnahm und vor Erwartung nervös tänzelte. Unbewusst wandte sie sich gen Osten und mit der Gewissheit ihrer Mutter, die nun auch die ihre war, sprach sie laut und deutlich: „Ich bin Éowyn von Rohan und ich werde mich des Hauses Eorl als würdig erweisen.“


ENDE


Oheim = Anderer Begriff für Onkel

Riddermark = Anderer Begriff für das Land Rohan

Éored = („Pferd – Trupp“) Eine Heereseinheit von Rohan umfasst 120 Mann, den Hauptmann eingeschlossen. Alle éoreds waren Reitereiabteilungen, befehligt von einem Marschall; in der Schlachtordnung werden sie mit Schwadronen gleichgesetzt.


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