Stern des Meeres (Star of the Sea)
von Diamond of Long Cleve, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 5
Die Sterne erbeben im Gesang ihrer Stimme

So viele Erinnerungen.

An ihn als kleiner Junge, mit seinen Tuk- und Brandybock-Vettern zur Julzeit im Wohnzimmer von Beutelsend zusammengedrängelt, wo sie eifrig Bilbos wundervollen Geschichten lauschten, Geschichten über Zwerge, Berge und Drachengold. Als er älter geworden und Merry für ihn im Brandyschloss wie ein kleiner Bruder gewesen war, da hatten sie so getan, als würden sie in den Wäldern nach Drachengold jagen. Später dann, als junger Mann, der sich gerade an sein seltsames und aufregendes neues Leben in Beutelsend gewöhnte, wo er alle Bücher lesen konnte, die er wollte, und so lange draußen bleiben durfte , wie er mochte, weil Bilbo sich nie Sorgen machte... tatsächlich begleitete er Frodo oft auf mitternächtliche Ausflüge unter den Sternen. Die unvergessliche erste Begegnung mit den Elben im Zwielicht der Wälder, wo sie seinen Onkel sanft gegrüßt hatten und wo der junge Frodo kaum imstande gewesen war, zu sprechen, und sich wunderte, woher sie seinen Namen kannten.

Sam und den Ohm zu beobachten, während sie an einem Sommernachmittag im Garten arbeiteten. Bilbo zuzuhören, der Sam in der Küche geduldig Lesestunden erteilte, während er sich selbst mit einem Buch auf dem Fenstersitz zusammenrollte. Dann die Jahre, nachdem Bilbo das Auenland verlassen hatte; kleine Festmähler mit einer ausgesuchten und geliebten Gruppe von Freunden. In den vier Viertel umher zu wandern, ganze Tage gemeinsam mit Merry und Pippin. Abende im Geplauder mit Sam, nachdem Sam die Arbeit für den Tag beendet hatte; sie saßen beide rauchend am Feuer, während Sam ihm schüchtern dies und jenes anvertraute und sichtbar an Selbstvertrauen zunahm, als Frodo ihn mit seiner Leserei ermutigte.

Die Erinnerungen waren wie eine Abfolge von kleinen, leuchtend gemalten Bildern in Frodos Geist. Sie brachten ihm Trost. All diese Jahre hatte der Ring in Beutelsend gelegen, tödlich, seine Zeit abwartend... aber der Ring konnte diese Erinnerungen nicht besudeln. Sie waren rein und unberührt.

Er stand im Eingang von Beutelsend und starrte nach Süden. Der Morgen war kalt und frisch. Es war halb sechs und noch fast dunkel. Langsam erwachte die Welt; ein Hahn krähte halb den Hügel hinunter. Er hatte kaum drei Stunden geschlafen, aber er war aufgewacht und hatte sich besser gefühlt. Kein Phantomschmerz brannte in seiner Schulter. Es gab keine üblen Reste von Alpträumen, die einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund hinterließen. Er fühlte sich schwach und erschöpft, und er hatte große, dunkle Ringe unter den Augen, aber er spürte, sein Geist war gereinigt.

Sein Traum hatte den nagenden Verdacht in seinem Herzen bestätigt. Er wusste nun, was er tun musste, und er hatte den ganzen Sommer, um es zu tun. Sein letzter Sommer im Auenland. Er würde den Rest des Frühlings damit verbringen, das Rote Buch zu vollenden, und der Sommer konnte damit verbracht werden, es, wenn nötig, aufzupolieren... und sich in ganzer Fülle an der Kameradschaft seiner Freunde zu freuen. Und in etwa zwei Wochen (jedenfalls, wenn es nach der Hobbinger Hebamme ging) würde Sams und Rosies Kind geboren werden.

Hätte irgend jemand Frodo zu dieser Stunde beobachten können, er hätte einen Edelhobbit in seinen frühen Fünfzigern gesehen, gekleidet in ein frisches, weißes Hemd und pflaumenfarbige Samthosen, einen hellgrauen Mantel lose über seine Schultern geworfen. Ein wenig schmaler als die meisten Hobbits in seinem Alter und von seiner Statur und mit einem seltsam jugendlichen Gesicht... aber die grauen Spuren um seine Schläfen waren beredte Zeichen, dass er nicht mehr so jung aussah wie damals, als er vor zwei Jahren fortging. Er blickte starr vor sich hin. Seine Leiden würden zunehmen, wenn er in Mittelerde blieb. Es gab keinen Zweifel. Und doch gab es einen Weg, den Kreis zu durchbrechen, das wusste er jetzt.

Er drehte sich um, ging in die Hobbithöhle zurück und machte sich auf den Weg ins Studierzimmer.

Es war zu früh, um ein Feuer anzuzünden. Es war noch kalt; also suchte er sich eine warme Weste, die er über sein Hemd ziehen konnte. Nachdem er sich eine Tasse warme Milch und einen Bissen Röstbrot gemacht hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, um die Arbeit des Tages zu beginnen.

Er hielt inne und tauchte seinen Federkiel in die Tinte. Er dachte nach. Das Cirith Ungol-Kapitel war beendet. Er konnte entweder zum nächsten kleinen Stück weitergehen – der eigentlichen Reise nach Mordor – oder zurückgehen und etwas „polieren“, das ihn beschäftigte.

Er blätterte in den Seiten zurück bis zu dem Kapitel über Lothlórien. Ja. Das war es. Der Bericht darüber, wie die Gemeinschaft das Land der Traumblume verlassen hatte; wie sie ihre Boote in die Strömung des Anduin steuerten und voller Trauer zurückschauten und Lórien verblassen sahen, wie ein Traum aus hellem Gold von den Grenzen der wirklichen Welt. Ihre Herzen waren voller Kummer gewesen, und Frodo hatte sich gefragt, ob er wohl jemals wieder dorthin kommen würde.

Dann hatte er die Herrin Galadriel gesehen, die auf der Landzunge zwischen Silberlauf und Anduin stand, eine leuchtend weiße Gestalt, die ihre Hand zum Abschied erhob. Das entfernte, blendend helle Licht von Nenya blitzte wie ein weißer Stern, den nur er allein sehen konnte, an ihrem Finger. Ihre Stimme war über das Wasser zu ihm gekommen. Er wusste, dass sie ein Abschiedslied sang, aber er hatte die Worte nicht verstanden, und er hatte nicht gedacht, dass er sich je würde an sie erinnern können.

Legolas hatte noch einiges davon gewusst, und sie hatten sich bei einer Gelegenheit in Minas Tirith leise darüber unterhalten. Ja, Legolas wusste noch einiges vom Lied der Herrin, und Frodo hatte es niedergeschrieben.

Aber jetzt fanden die Einzelteile der Erinnerungen zueinander wie ein wundersames Puzzlespiel. Frodo erinnerte sich an die schöne Melodie, und, was noch mehr war, er konnte selbst die Worte verstehen. Er wusste nicht, wie oder warum, aber sie flossen leicht durch seinen Geist und er begann in wilder Hast zu schreiben, fest entschlossen, die kostbare Erinnerung nicht zu verlieren, bevor sie ihn verließ. Endlich hatte er es geschafft, und er schaute auf die Seite hinunter. Da, auf dem Pergament aufgezeichnet, war das Abschiedslied der Herrin Galadriel in der Sprache der Hochelben von jenseits des Meeres... perfekt von ihm übertragen, und nicht von seinen Notizen, sondern allein aus dem Gedächtnis, als hätte jemand die Worte glockengleich in seinen Geist hinein gesprochen.

Ai! Laurë lantar lassi súrinen,
Yéni únótimie ve ramar aldaron!
yéni ve lintë yuldar avánier
ni oromardi lisse-miruvóreva
andúnë pella, Vardo tellumar
nu luini yassen tintilar ieleni
ómaroyo airetári-lírinen …
… Namárië! Nai hiruvalyë Valimar.
Nai elyë hiruva. Namárië!

Ach! Die langen Jahre sind verflossen wie schneller Trunk vom süßen Met in den hohen Hallen jenseits des Westmeeres, unter Vardas blauen Gewölben, wo die Sterne erbeben beim Gesang ihrer heiligen, königlichen Stimme...

„Denn nun hat Varda, die Entfacherin, die Königin der Sterne, auf dem Immerweißen Berg die Hände wie Wolken erhoben...“ flüsterte Frodo. Der Federkiel zitterte in seiner Hand. Er konnte sich nicht nur genau daran erinnern, was Galadriel gesungen hatte. Jetzt konnte er auch die Worte verstehen, so unvollkommen sein Wissen über die Sprache der Hochelben auch war.

Vielleicht wirst du Valimar finden. Vielleicht wirst selbst du es finden! Lebewohl!

Als die Gemeinschaft Lothlórien hinter sich gelassen hatte und es für immer hinter der Biegung des Anduin verschwand, verloren in der Zeit, da hatte Frodo Galadriels Lied nicht verstanden, noch hatte die Schönheit ihres Gesanges ihn getröstet. Jetzt endlich erschienen die Worte wie helles Gold in seinem Geist, deutlich festgehalten auf einer Seite seiner Erinnerung, und er verstand sie in der süßen Erhellung der Vernunft. Und sie trösteten ihn. Denn jetzt wusste er – endlich wusste er – dass ihr Lied für ihn gedacht gewesen war.

Er war bis in seine Grundfesten erschüttert. Wieder dachte er an den Glanz von Galadriels alterslosen Augen, an ihren durchdringenden Blick, der alle Verteidigungswälle von Geist und Seele zunichte machte.

Ich komme zu dir, rief Frodos Geist. „Ich werde mit dir segeln.“ sagte er, die Stimme ruhig und klar. Ein Seufzer durchschauderte ihn, und er ließ den Kopf auf den Schreibtisch sinken. Bilbo, dachte er. Bilbo wird im Herbst segeln. Und ich werde mit ihm gehen. Ich werde Beutelsend Sam und Rosie hinterlassen.

Frodo ging wieder ins Bett, bevor Sam und Rosie um halb sieben aufstanden. Er schlief ruhig und fest. Als Rosie um acht Uhr herum zu ihm hereinschaute, fand sie ihn in tiefem Schlummer, während seine verwundete Hand Arwens Juwel auf seiner Brust locker umfasst hielt. Sie lächelte und schloss die Tür, so leise sie konnte; sie flüsterte Sam zu, der Herr sähe viel besser aus.

Als Sam gegen Mittag nach Hause kam, war Frodo aufgestanden und deckte den Tisch für das Essen, während Rosie einen reichhaltigen, kräftigen Rindfleisch-Eintopf kochte.

„Herr Frodo war im Keller, um einen guten Wein hochzuholen.“ sagte Rosie und küsste ihren Mann. „Und Marigold hat uns einen großen Apfelkuchen heraufgebracht. Ich nehme nicht an, dass du und der Herr große Schwierigkeiten damit haben werdet, ihn zu vernichten.“

„Du wirst uns dabei helfen müssen, Rosie.“ sagte Frodo und entkorkte den Wein (einen süffigen Roten), „Du isst für zwei, wie du weißt.“

Sam lachte, dann schenkte er Frodo ein eifriges Lächeln.

„Ist jetzt alles gut, Herr Frodo? Fühlst du dich heute besser?“

Frodos Blick ruhte für einen Moment auf Sam. Rosie, die den Stieltopf brachte, um ihn auf den Tisch zu setzen, bekam den Blick mit. Da war ein unendlich sanfter Ausdruck in diesen blauen Augen.

„Ja, Sam.“ sagte Frodo. „Es ist alles gut.“

ENDE


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