... und schwinden nicht dahin (Not fade away)
von Jael, übersetzt von Cúthalion



7. Kapitel
Die Fallschlinge

In diesem Kapitel wird „Rivers Enterprises“ von einer modernen Macht des Bösen attackiert – der Steuerbehörde

Zwei Wochen später fiel in Chicago der erste Schnee. Auf einen weiteren Hintergrund konzentriert – diesmal ein kahles Tal zwischen den zwei Ausläufern eines Berges – hatte Posey über die Mittagszeit hinweg durchgearbeitet, und jetzt starrte sie nach draußen, wo Schneeflocken um die Fenster wirbelten und den Blick auf den See verschleierten. Das Wochenende stand bevor, also hatten die meisten Künstler ihre Arbeit beendet und waren schon gegangen, und Posey hatte die künstlerische Abteilung fast ganz für sich allein.Sogar Gary hatte einen Telefonanruf erhalten und war die Treppen hinauf verschwunden; er sah besorgt drein. Sie beschloss, hinunter in die Kantine zu gehen, um einen Bissen zu essen. Sie drückte den Aufzugknopf, aber als die Türen sich öffneten, wurde sie mit fremden Männern in Anzügen konfrontiert, die Karren voller Aktenschachteln bei sich hatten. Einer von ihnen zeigte ihr seine Dienstmarke und sagte mit verärgertem Blick: „Nehmen Sie den nächsten.“

Gehorsam wartete sie, bis der Aufzug zurückkam und trat hinein. Statt abwärts zu fahren, spürte sie, wie der Aufzug zu den oberen Stockwerken hinaufstieg. Er hielt im 50. Stock an, und Glenn und Aaron Rivers stiegen zu. Sie waren unter Papierstapeln gebeugt und sahen beide ziemlich beschäftigt aus.

„Die hätten sich keine schlimmere Zeit für das hier aussuchen können,“ sagte Glenn gerade, „wo Sid und Morrie gerade wieder zurück nach Osten sind, und die meisten Mitarbeiter in den Weihnachtsferien.“

„Ich denke, sie wussten ganz genau, wann sie uns die meisten Schwierigkeiten machen,“ erwiderte Aaron. „Sid und Morrie werden so schnell wie möglich Kopien von den Durchsuchungsbefehlen und Vorladungen brauchen, und ich traue den Computern und Telefonleitungen hier nicht. Ich bin sicher, die haben alles angezapft.“

„Verdammte Steuerbehörde. Verdammtes FBI.“ murmelte Glenn. “Du glaubst doch nicht, dass sie als nächstes mit einem Haftbefehl für dich daher kommen, oder?”

„Ich würde es nicht ausschließen. Steuerhinterziehung hat funktioniert, um Capone niederzuwerfen, als nichts anderes funktioniert hat. Es würde natürlich nicht ausreichen, aber das würde sie nicht davon abhalten, dass sie versuchen, mich in Haft zu nehmen. Wir schicken all das hier von Lake Forest aus; ich weiß, von dort sind die Leitungen sicher.“

„Das wird ewig dauern.“

„Nicht, wenn alle mit sämtlichen Faxgeräten einspringen. Wo ist Leif?“

„Die Agenten wollten alle Festplatten mitnehmen. Leif und Gary arbeiten wie verrückt daran, ihr kostbares Spiel auf Backup-Disks zu kriegen, ehe es ,aus Versehen’ gelöscht wird. Er ist fast fertig und kommt sofort nach.“

„Wir brauchen mehr Hände.“ Zum ersten Mal schien Rivers Posey zu bemerken. „Mrs. Walker,“ sagte er mit einem durchtriebenen Lächeln, „wie würde es Ihnen gefallen, zu sehen, wo ich lebe? Ein paar Stunden Arbeit, und ich spendiere ein Abendessen und noch mehr von diesem Margaux.“

„Was auch immer Sie nötig haben. Ich freue mich, wenn ich helfen kann.“

„Mrs. Walker, können Sie tippen?“

Sie lächelte. Sechs Jahre lang Versicherungsformulare abzuschreiben war immerhin nicht ganz für die Katz gewesen. „Wie der Wind, Mr. Rivers.“

„Noch besser. Ich habe ein paar Laptops im Auto. Wir können damit anfangen, das Zeug hier abzuschreiben. Mit uns dreien haben wir, wenn wir in mein Haus in Lake Forest kommen, ein paar von diesen Papieren soweit, dass wir sie als Datei verschicken können. Auf diese Weise werden wir beim Faxen sogar noch Zeit sparen.“

Sie nahmen den Aufzug in den Keller, wo Hal neben Rivers Auto wartete. Er holte drei Laptops aus dem Kofferraum.

„Bist du sicher, dass die sicher sind? Keine Wanzen?“

Hal nickte. „Ich verbürge mich für das Auto. Keiner ist in die Nähe gekommen. Das Gelände auch; die können hier nicht hinein. Das Gebäude, nach der Untersuchung von heute…?“ Er zuckte die Achseln.

„Gut. Lass Rudy und Orville aufräumen, ehe wir hier wieder irgendetwas Sensibles machen.“ Rivers hielt die Tür der Limousine auf und scheute Posey nach hinten. Sie nahm den Zwischensitz, während die beiden Männer gemeinsam auf dem Rücksitz saßen.

Rivers reichte ihr ein Laptop und einen Stapel Papiere hinüber. „Wir schicken die Originale per Kurier an meine Anwälte, aber wenn die schon vorher wissen, was darin steht, dann werden sie eine Ahnung haben, was die Autoritäten mir dieses Mal vorwerfen. Dann können sie sie aufhalten.“

„Sind Sie sicher?“

„Ziemlich sicher, Mrs. Walker, denn Unschuld und gute Anwälte sind eine Gewinner-Kombination. Es braucht nur ein bisschen Zeit, um sich zu erweisen.“

Rivers schob die gläserne Trennscheibe zu und knipste ein Licht an, um den Fond zu beleuchten. „Machen wir uns an die Arbeit.“

Posey bemerkte kaum, wie das Auto sich durch die Straßen der Stadt bewegte und rasch nach Norden zum Lakeshore Drive fuhr, zum Edens Expressway und der Interstate 94. Von Zeit zu Zeit schaute sie auf und sah, wie Glenns Finger über sein Keyboard flogen. Aaron saß ebenfalls vornüber gebeugt, die Stirn konzentriert gerunzelt, während er tippte.

Als das Auto von der Mautstraße abbog und die waldigen Seitenstraßen am Stadtrand entlangfuhr, war Posey mit einem Durchsuchungsbefehl fertig. Es war jetzt kurz vor der Dämmerung, und der Schnee fiel noch dichter. Der Versuch, in einem fahrenden Wagen zu lesen und zu tippen, war nicht gerade die einfachste Sache auf der Welt, und sie war froh, dass sie nicht zu denen gehörte, denen im Auto schlecht wurde.

Der Wagen schlingerte ein wenig, als es um eine Kurve bog, und Posey wurde klar, dass dies dieselben Wetterbedingungen waren wie in der Nacht, als das Auto ihrer Eltern über den Mittelstreifen gerutscht und frontal mit einem Peterbilt-Truck zusammengestoßen war. Und gleichzeitig erinnerte sie sich, dass sie in ihrem Eifer, mit dem Tippen anzufangen, vergessen hatte, sich anzuschnallen. Sie fing an, nach ihrem Sicherheitsgurt zu tasten, das sich unglücklicherweise um den Zwischensitz verheddert hatte. Während sie damit kämpfte, machte Glenn eine Bewegung, als wollte er seinen eigenen Schultergurt lösen.

„Nein,“ sagte Aaron und löste seinen eigenen. „Ich werde ihr helfen.“

Er befreite ihren Gurt und zog ihn um sie fest. Dann kehrte er auf seinen eigenen Platz zurück und langte nach seinem eigenen Gurt, als das Auto plötzlich ausbrach, von der Straße hinunter schlidderte und abrupt im Graben zum Stehen kam. Aaron schoss nach vorne und sein Kopf krachte gegen das Glas der Trennscheibe. Aus den Augenwinkeln sah Posey etwas Großes, Braunes am Seitenfenster vorbeilaufen und zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Straße verschwinden.

„Es war ein Hirsch; ein verfluchter Hirsch!“ sagte Hal von vorne. .

Aaron lag zusammengesunken auf dem Boden des Fonds; Blut quoll aus einem Riss in seiner Stirn. Er regte sich schwach. „Ir im? Man carnen?” sagte er.

Glenn war schnell wie der Blitz aus seinem Gurt und kniete an Rivers Seite. „Avo´osto, Thran, Im si.“

Posey starrte, reglos vor Schreck. Es war kein Walisisch, was die beiden da sprachen. Sie wusste es. Und mehr noch, Rivers Haar war von seiner Kopfseite zurückgefallen und sie konnte sein Ohr sehen – sein spitzes Ohr.

Die Seitentür wurde aufgerissen und Hals Gesicht erschien. „Seid ihr in Ordnung?“

Glenn schüttelte wortlos den Kopf. Sein Gesicht war eine Maske der Besorgnis. „Er ist schwer verletzt.“

In diesem Moment gab Aaron ein Stöhnen von sich und kämpfte sich auf die Beine. Er drängte sich an Glenn und Hal vorbei aus dem Auto; er kam nur ein paar Schritte weit, bevor er sich nach vorne beugte und anfing, sich zu übergeben. Glenn rannte hinter ihm her und tat sein Bestes, den hilflos gekrümmten Körper zu stützen.

„Wir müssen die Blutung stillen,“ meinte er. „Hier, halten Sie meinen Mantel,“ sagte er zu Posey, die das Auto verlassen hatte und an seine Seite gekommen war. Sie konnte sehen, dass Hal drängend in ein Handy sprach.

Glenn zog sein Sportjackett aus und danach sein Hemd. Er riss das Hemd in Streifen und wickelte sie fest um Aarons Stirn. Posey starrte, während Glenn nackt bis zur Taille in dem kalten Wind stand, scheinbar ohne es zu bemerken. Er war so ziemlich das Schönste, was sie je zu Gesicht bekommen hatte. Und als der Wind ihm das Haar vom Kopf zurückpeitschte, konnte sie sehen, dass auch er fein zugespitzte Ohren hatte. Nicht menschlich. Diese Leute waren keine Menschen.

„Oh nein!“ hörte sie Hal zischen, als plötzlich Scheinwerfer aufblitzten und ein Auto weiter unten auf der Straße anhielt. Duncan und Fitzhugh stiegen aus. „Gadad han!“

„Sei nicht albern; den Hirsch können sie wohl kaum geplant haben.“ sagte Glenn. „Aber wenn sie das als Entschuldigung benutzen, um Aaron in eine Ambulanz zu kriegen, dann sehen wir ihn nie wieder.“ Sie sah, wie Glenn und Hal einen panischen Blick wechselten.

„Das können wir nicht zulassen,“ murmelte Hal, und seine Hand bewegte sich auf die Pistole an seinem Gürtel zu.

„Nein! Warten Sie!“ sagte Posey verzweifelt. „Es muss einen anderen Weg geben!“

Sie dankte dem Schicksal, das sie dazu gebracht hatte, heute eine Hemdbluse zu tragen; sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf und riss mit aller Kraft an der Bluse, so dass die oberen drei Knöpfe absprangen. Dann rannte sie geradewegs in Richtung Duncan and Fitzhugh und schrie: „Oh mein Gott! Oh mein Gott, da ist überall Blut!“ Mariposa Walker hatte keinen BH; Mariposa Walker brauchte keinen BH, und was immer ihr auch an Ausstattung fehlen mochte, sie war sich sicher, dass die beiden Agenten ordentlich etwas zu sehen bekamen, während sie auf sie zulief.

Ihre Hemdbluse stand weit offen, ebenso wie der Mund von Agent Fitzhugh, der immerhin ein Mann war. Duncan war scheinbar etwas weniger leicht abzulenken. Er konzentrierte sich noch immer auf das Unfallauto und die drei Gestalten dahinter. Sie warf sich in seine Arme und versuchte ihr Bestes, den Eindruck weiblicher Hysterie zu erwecken. „So viel Blut! Ohhh, ich glaube, mir wird schlecht!“

Obendrein brachte sie es fertig, ihre Beine mit denen von Duncan zu verhaken; sie gingen beide zu Boden und warfen Fitzhugh gleich mit um. Während sie zu dritt am eisigen Straßenrand herumzappelten, hörte Posey ein Motorengeräusch und sah, wie sich ein grauer Sportwagen näherte.

Sie sah, wie Leif und Glenn Aaron auf den Beifahrersitz schoben, und dann entfernte sich das graue Auto mit blitzenden Rücklichtern und in einem Schneeschauer. Die beiden Agenten befreiten sich von ihr, rannten zu ihrem eigenen Sedan und rasten in einem wilden Verfolgungsrennen hinterher. Soviel zum Thema Ritterlichkeit, ihr Arschlöcher, dachte sie, während sie im Schnee lag. Eins der Knie von ihrer Jeans war zerrissen, und ihr Ellbogen fühlte sich an, als wäre er aufgeschrammt.

Glenn, der nur sein Sportjackett über der bloßen Brust trug, hatte sie erreicht und half ihr auf die Beine. Hal kam rasch hinterher.

„Leif kriegen die nie“, sagte er mit einem Grinsen. „Er wird sie leicht abschütteln. Ich habe Orville angerufen, und er kommt her, um ums aufzusammeln und zum Flughafen zu bringen. Planänderung – heute machen wir uns alle auf den Weg nach Osten.“

Sie sah die beiden an, wie sie im Schnee glühten, das Haar von spitzen Ohren zurückgeweht. Aliens. Es mussten Aliens sein. “Schön. Dann gehe ich jetzt mal.” sagte sie vorsichtig.

„Dir ist kalt, und du bist verletzt, Posey. Du musst bei uns bleiben.“ sagte Glenn.

„Oh nein, ich komme sehr gut allein zurecht,“ sagte sie mit einstudierter Gelassenheit. „Ich laufe einfach zu einem Telefon und bestelle mir ein Taxi. Überhaupt kein Problem.“

Sie sah, wie die beiden wieder einen Blick wechselten. Hal seufzte und zog seine Pistole. „Ich fürchte, wir müssen darauf bestehen,“ sagte er und zielte damit auf ihr Herz.

*****

Sie saß zitternd da und weigerte sich, Glenn in die Augen zu schauen, während Orvilles Wagen zu dem privaten Hangar hinauf fuhr. Sie wurde in einen Learjet gebracht und in einem Sitz am Fenster festgeschnallt, während Glenn neben ihr am Gang saß. Hal ging ins Cockpit – es war klar, dass er das Flugzeug fliegen würde. Glenn sprach beruhigend auf sie ein und versuchte, sie dazu zu bringen, dass sie antwortete, aber sie stellte sich taub.

Bald war das Flugzeug in der Luft und sie flogen auf den Lake Michigan hinaus und ließen die Lichter der Stadt hinter sich. Linda tauchte aus dem hinteren Bereich des Flugzeuges auf; sie sah müde und besorgt aus. Sie setzte sich vor ihnen und drehte ihren Sitz herum, damit sie Glenn ansehen konnte.

„Wie geht es ihm?“ fragte Glenn.

„Keine Schädelfraktur, wie ich gefürchtet hatte, aber er hat eine böse Gehirnerschütterung. Ich habe den Riss genäht, aber der Rest wird warten müssen, bis wir zuhause sind. Leif und Felice sind hinten bei ihm, sie reden mit ihm und halten ihn wach. Ich beneide die beiden nicht um diese Aufgabe. Er wird wenigstens eine Woche lang die Mutter aller Kopfschmerzen haben.“

„Kopfschmerzen und Aaron in Kombination sind nichts Neues, genauso wenig wie schlechte Laune,“ sagte Glenn.

„Wir sind gerade noch entwischt, ganz knapp. Wenn sie ihn in die Hände bekommen hätten, dann möchte ich nicht daran denken, was sie getan hätten. Habt ihr das Auto gesichert?“

Glenn nickte. „Bleiche. Überall. Aaron wird das Poster vom Rücksitz austauschen müssen – immer angenommen, das Auto hat keinen Totalschaden.“

“Wir sind Mariposa zu Dank verpflichtet,” sagte Linda.

Posey schaute sie bloß elend an und erinnerte sich an Duncans Geschichten von den jungen Frauen, die bei Rivers Enterprises gearbeitet hatten und verschwunden waren. Jetzt, da sie wusste, wo sie hinschauen musste, konnte sie die Spitze eines Ohres sehen, die durch Lindas Haar lugte. Und mit wachsendem Entsetzen erinnerte sie sich daran, wie Linda vor all diesen Monaten ihr Trinkglas eingesteckt hatte. Ihr Herz fing an, heftig zu pochen. „Ihr habt meine DNA genommen! Wieso habt Ihr das getan?”

„Mariposa, bitte. Du bist in Sicherheit.” sagte Glenn hilflos.

„Wieso habt Ihr das getan? Wo bringt ihr mich hin?“ sagte sie; sie atmete schwer und fing an, sich schwach zu fühlen.

„Oh nein!“ sagte Linda. „Das war zu früh für sie.“

Sie nahm Mariposas Gesicht zwischen beide Hände. Posey spürte, wie sie in den Augen der anderen Frau ertrank. Sie konnte den Blick nicht abwenden. „Mariposa… schlaf!“

Und sie schlief.

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Anmerkungen der Autorin:

„Ir im? Man carnen?” - „Wo bin ich? Was ist geschehen?“
„Avo 'osto, Thran. Im si.” – „Hab keine Angst, Thran. Ich bin hier.”
„Gadad han!” - “Es ist eine Falle!”

Die Übersetzungen ins Sindarin stammen von Dreamingfifi auf Merin Essi ar Quenteli. Vielen Dank!


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