Rückblicke
von Uta

Er ist zurückgekehrt.

Jetzt, Monate nach seinem Tod, ist er überall.

Es ist nicht offenkundig.

Es ist die Art, wie er überall zu fehlen vermag.

Die Menschen lächeln mir zu, und die Kinder schenken mir Blumen, immer neue Blumen. Sie alle kannten ihn, lange bevor ich ihm begegnete und mit ein paar wohlgesetzten, unüberlegten Worten seine Zuneigung verspielte. Jetzt bin ich ihr König, und mehr noch – ich bin der Mann, der seinem Bruder das Leben gerettet hat.

Ich habe Faramir fortgeschickt, so bald es ging, fort über den Fluss nach Ithilien, mit Eowyn und Beregond und allem, was er sonst noch mitnehmen wollte. Ich liebe ihn, wie offenbar jeder in diesem Land, vom Kleinkind bis zum Greis, und ich würde alles für ihn tun, doch seine Gegenwart kann ich nicht ertragen. Nicht seine Aufrichtigkeit, nicht seine Dankbarkeit, erst recht nicht die Selbstverständlichkeit, mit der er mir all das überantwortet, wofür seine Familie gekämpft hat.

Nicht die Ehrerbietung, mit der er meine Befehle entgegennimmt.

Sein Bruder war selten einverstanden mit mir. Und er hätte seine Zustimmung wohl niemals mit einer Geste bekundet. Aber wenn, wenn ... es wäre genau diese Geste gewesen, ein knappes Nicken, das sagt, gut, und dann dieses leichte, schnelle, prüfende Aufblicken. Hast du auch nichts vergessen?

Spräche ich Faramir darauf an, er würde es mit seiner stets wachen Sorgfalt entschuldigen, mit seinem Wunsch, mir nützlich zu sein, und er würde fortan darauf achten, den Blick gesenkt zu halten. Nicht so sein Bruder. Er hätte keinen Anlass gesehen, sich zu entschuldigen, hätte es vielmehr mir überlassen, seine letzten Zweifel an meinen Fähigkeiten auszuräumen. Ihm zu beweisen, daß ich es wert bin.

Wieder, und wieder, und wieder.

Ich kann nicht sagen, wem von beiden ich den Vorzug geben würde.

Den Männern von der Turmwache, seinen Männern, kann ich in die Augen sehen. Letzten Endes sind auch sie nicht mehr als einfache Soldaten. Aber ich weiß, dass sie Vergleiche anstellen, spüre es an der Präzision, mit der sie mich grüßen, an dem Zögern, das sie befällt, wenn sie einen Trinkspruch ausbringen sollen. Am selben Tag, als sie Befehl erhielten, die neuen schwarzen Fahnen aufzuziehen, verschwanden die weißen Banner spurlos. Ich weiß, und sie wissen es ebenso, daß ich niemals den Mut aufbringen werde, nach ihrem Verbleib zu fragen.

Doch auch sie stellen mir keine Fragen. Niemand hier tut das.

Jetzt, als König, bin ich niemandem Rechenschaft schuldig, muss nicht erklären, warum ich die Heere Gondors zum Sieg führen konnte, aber unfähig war, einen kleinen Trupp von sieben Mann heil den Fluß herunterzubringen. Warum ich das Unheil kommen sah, über Monate hinweg, und dann doch nichts tat, um es zu verhindern. Warum ich ihn sterben ließ.

Ich wollte, jemand hier würde Zweifel anmelden. Irgendjemand. Dann würde ich alles erzählen von jenem Tag, von der flüsternden Stimme in meinem Herzen, die mich einlud, abzuwarten, nur ein paar Herzschläge, nur ein paar Atemzüge lang. Nur solange, bis er endlich erkennen – und zugeben – mußte, daß auch er meine Hilfe braucht. Danach, so hatte die Stimme versprochen, würde es keine Schwierigkeiten mehr mit ihm geben.

Sie hat Recht behalten. Vielleicht ist sie deshalb nie wieder verstummt. Es ist dieselbe Stimme, die mich seitdem lachend einen Mörder schimpft.

Oft schon habe ich gewünscht, daß unsere Plätze vertauscht sein könnten. Und in gewisser Weise wird mein Wunsch noch in Erfüllung gehen. Für die Menschen hier bin ich Isildurs Erbe, der König, der zurückgekehrt ist, und fast unmerklich hat sich damit auch ihr Damals gewandelt. Damals, das ist jetzt er. Damals, das die Erinnerung verklären wird, bis es heller strahlt, als es das Heute je vermag. Damals, von dem man den Enkelkindern erzählt, auf daß sie es in ihren Herzen weit in die Zukunft tragen.

Er ist zurückgekehrt.

Zurück in meine Stadt.


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