Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Zwanzig
Erwachen

Arwen Abendstern und Fürst Elladan ritten davon, und die Soldaten bei ihnen bewachten den Ork, als wäre er Gil-Galad höchstselbst, gefallen in der Schlacht. Malawen zog sich in ihr winziges Haus zurück und schloss die Tür. Verriegeln konnte sie sie nicht; die Männer hatten den Riegel zerbrochen, und sie würde einen neuen schnitzen müssen. 

Sie war froh, dass sie gegangen waren, und doch war Galadriels Haus noch immer zu nahe. Sie hätte es besser gefunden, wenn sie sie in Richtung Westen gewandt hätten, nach Bruchtal. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn sie niemals in den Goldenen Wald gekommen wären. Sie lockerte den Bogen und hängte ihn auf; sie ertastete sich den Weg in der Hütte, ohne Licht zu machen. Die Dunkelheit war ihre Zuflucht; in ihr fühlte sie sich beschützt, geborgen, sicher vor Schaden. In der Dunkelheit konnte niemand in ihr ruiniertes Gesicht starren, oder sehen, wie klein und verwachsen sie war. In Dunkelheit und Einsamkeit lag ihr Trost. 

Tagsüber ging sie selten hinaus, obwohl sie nach Sonnenuntergang weit über die Felder wanderte; dann suchte sie nach Nahrung und beobachtete die Geschöpfe der Nacht. Sie sah die Eulen, die lautlos auf ihre Beute hinab stießen, und sie fand ihre eigene Beute – Kaninchen, die sie in Schlingen fing und Vögel, die auf dem Boden nisteten. Doch tötete sie nur, was sie nötig hatte, um am Leben zu bleiben - so wenig, dass sie immer ein wenig Hunger litt. Sie liebte das Töten nicht; sie hätte lieber unter den Sternen getanzt und vor sich hin gesungen, während sie herum sprang und zwischen den silbernen Baumstämmen hindurch tauchte... getanzt, wie sie vor langer Zeit getanzt hatte, in den Jahren ihrer Unschuld, als ihr Gesicht ohne Narben gewesen war und ihr Geist nicht verdunkelt.

Sie war kein Kind, obwohl die Königin sie so genannt hatte. In den Tagen des Krieges war sie halbwüchsig, als Orks von den Bergpässen herab strömten und den Goldenen Wald umzingelten, als Galadriel und Celeborn das Böse in Schach hielten. Elbenbögen sangen herausfordernd den schmutzigen Horden entgegen. Lórien war nicht gefallen, aber es hatte Verluste gegeben, und Malawen war einer davon. Hier und dort waren Orks durchgebrochen, brennend und mordend. Sie war ein Opfer des grausamen Spiels der Orks geworden, und sie hatte ihre Mutter auf einem Orkspeer sterben sehen. 

Sie war gerettet worden, sie hatte überlebt. Mit der Zeit waren ihre Wunden verheilt, und die Verbrennungen auf ihrer Wange klangen ab zu zornigen Narben. Aber sie hatte aufgehört zu wachsen, und als sie das Alter der Reife erreichte, war sie winzig, kaum grö?er als ein Zwerg. Einmal hatte sie einen Zwerg gesehen; einer von dieser Rasse hatte Lórien besucht, gemeinsam mit zwei Menschenkriegern und ein paar Kindern mit traurigen Gesichtern. Der Zwerg hatte sie fasziniert, und sie lachte, als sie sah, dass er nicht grö?er war als sie, ein Kind. Aber bald darauf war der Krieg gekommen, und die Orks, und sie war nie größer geworden.

Nun war da wieder ein Ork in Lórien, und ihr ganzes Herz erhob sich in Rebellion. Was für ein Recht hat Arwen Undómiel dazu ! Sie ist vor langer Zeit von hier verschwunden, sie ging fort nach Bruchtal und nach Gondor, um den König zum Mann zu nehmen. Sie war nicht hier, als der Feind kam, sie hat nicht gelitten – aber sie macht einen Ork zum Befehlshaber ihrer Soldaten und bringt ihn nach Lothlórien! 

Bei Einbruch der Nacht ging Malawen hinaus. Ohne Gedanken und Ziel huschte sie durch die Finsternis in die Richtung, die die Kompanie genommen hatte, wie eine Motte angelockt von der Königin von Gondor, und, ohne dass sie es wusste, auch von dem grauhäutigen Ork, der so ruhig auf seiner Bahre gelegen hatte, umringt von denen, die ihn liebten und beschützten.

*****

 „Sie ist genauso flink mit dem Messer wie er,“ sagte Arwen. „Ein Jammer, dass sie einen  solchen Hass für seine Art empfindet, denn ich glaube, sie haben viel gemeinsam – natürlich ist er viel sanfter als sie!“ 

Elladan gluckste. „Und höflicher.“ Dann fügte er etwas nüchterner hinzu: „Lothlórien hat wahrhaft böse Tage gesehen, wenn sie ein Beispiel ist für seine Kinder.“  Sie waren im Ankleidezimmer neben Galadriels alter Schlafkammer, verwandelt in eine Krankenstube für ihren Patienten. Arwen hatte kräftige Fleischbrühe zwischen die Lippen des Orks geträufelt und wartete geduldig, bis er jeden Mundvoll geschluckt hatte. „Kommt es dir so vor, dass es ihm in irgendeiner Weise besser geht?“ fragte sie. „Er scheint...“ 

Elladan beugte sich über Canohando und untersuchte ihn sorgfältig. „Er hat eine bessere Farbe, und ich glaube, er atmet leichter. Selbst ohnmächtig muss es hart für ihn gewesen sein, auf dieser Bahre umher geschaukelt zu werden.“ Er berührte die Stirn des Orks mit dem Handrücken. „Kein Fieber. Er mag sich noch immer erholen, und wenn er es tut, dann dank deiner treulichen Pflege. Du siehst erschöpft aus, Arwen – willst du nicht zu Bett gehen und ihn meiner Fürsorge überlassen?“ 

Sie unterdrückte einen Gähnen. „Du musst mich nicht zweimal bitten,“ sagte sie, erhob sich steifgliedrig und schlang die Arme um seine Schultern. „Danke, Elladan. Du bist immer der liebste Bruder für mich gewesen, und nun am allermeisten.“ 

Er hob ihre Hand an seine Lippen. „Du bist die liebste aller Schwestern, Undómiel. Gute Nacht.“ 

Sie ging und legte sich in Galadriels altem Bett schlafen, und Träume trugen sie zurück in ihre Mädchenzeit in diesem Haus, glückliche Tage, bevor sie je ihr Herz an einen sterblichen Mann verlor und Lúthiens Entscheidung vor sich sah. Und Elladan wusch seinen Patienten mit Athelaswasser ab und träufelte ihm ein wenig Wein in den Mund, ehe er sich müde hinsetzte, um selbst ein Glas Wein zu trinken; er schlief auf seinem Stuhl ein, während er Wache hielt.

*****

Stunden später schlich sich Malawen in das Haus. Der Ort war ihr vertraut, obwohl sie ihn niemals betreten hatte, während Galadriel dort lebte. Aber seit das Land leer geworden war, hatte das einsame Mädchen viele Nächte damit verbracht, von Zimmer zu Zimmer zu wandern und sich vorzustellen, wie es gewesen sein musste, als das Haus von Licht erfüllt war und hochgewachsene Elben die langen Treppen hinauf und hinab glitten und die Befehle der Herrin und des Herren ausführten. Nun ging sie ohne Zögern in Arwens Schlafkammer, stand lange Zeit im Mondschein und betrachtete die schlummernde Königin. Dann wandte sie sich in das kleine Nebenzimmer, hielt aber inne, als sie sah, dass Elladan neben dem Bett des Orks saß.

 Der Elbenfürst schlief, aber sie konnte seinen Griff auf ihren Armen noch von früher an diesem Tag spüren, und sie fürchtete sich vor ihm. Von der Türschwelle aus beobachtete sie ihn argwöhnisch, und dann schaute sie den Ork an und machte in plötzlichem Schrecken einen Schritt rückwärts. Seine Augen waren offen, und bei ihrer Bewegung richteten sie sich auf sie und sie begriff, dass er sie sah. Er gab keinen Laut von sich, sondern blickte sie unverwandt an, als ob er sich fragte, wer sie sei. Sie stand starr und verwirrt und erwiderte seinen Blick, bis er endlich seufzte und die Augen schloss.  Dann schlüpfte sie davon, zurück zu ihrer eigenen kleinen Hütte; sie setzte sich und schnitzte einen neuen Riegel für ihre Tür.  

*****

In den folgenden Tagen wich Arwen selten von Canohandos Seite, und Elladan staunte über ihr Zartgefühl. Natürlich fühlte sie sich in der Schuld des Orks; er hatte geschworen, sie mit seinem Leben zu beschützen, und bei ihrer Verteidigung hatte er es beinahe verloren. Gleichzeitig fand Elladan es merkwürdig, seine Schwester Stunde für Stunde an Canohandos Bett sitzen zu sehen; sie sang ihm Wiegenlieder vor, als wäre er ein Kind, sie erzählte ihm kleine Geschichten aus ihrem Leben mit Elessar und lachte zuweilen unter Tränen. Für die Ohren eines grauhäutigen Orks, der still und ohne Reaktion vor ihr lag, rief sie sich die Tage ihres Glücks ins Gedächtnis. 

Doch war Canohandos Bewusstlosigkeit jetzt nicht mehr so tief. Wenn Arwen sich entfernte, um zu schlafen oder eine Stunde im Sonnenschein spazieren zu gehen, weil ihr Bruder darauf bestand, dann war der Ork ruhelos und schwer zu bändigen. Er murmelte in seiner eigenen, groben Sprache vor sich hin und wandte den Kopf ab, wenn Elladan versuchte, ihm Flüssigkeit in den Mund zu träufeln.

Yarga lag in einer Lache aus seinem eigenen Blut. Seine Augen betrachteten prüfend Canohandos Gesicht. Ich habe den Schlag für dich hingenommen. Hättest du ihn auch für mich hingenommen? Er konnte jetzt nicht mehr sprechen, aber die Frage war so klar in seinen Augen zu sehen, dass Canohando sie laut beantwortete. „Das hätte ich, Bruder, ich schwöre, ich hätte es getan!“

Der Ork schlug auf dem Bett um sich, und Elladan flog die Tasse mit gekräutertem Wein aus der Hand. Der Elbenfürst seufzte verärgert, hob sie auf und ging, um sie wieder zu füllen. Es war zweifellos ein gutes Zeichen, dass Canohando sich mit solcher Energie bewegen konnte, aber in Wahrheit wurde Elladan der Rolle des Heilers allmählich müde. Ein Jammer, dass dieses hässliche Mädchen so feindselig war; sie hatte gesagt, dass sie eine Heilerin wäre.

Yarga zerrte schwächlich an seiner Trommel; sie hing noch immer an seinem Gürtel, wundersamerweise unberührt von dem Axthieb, der ihn nieder gestreckt hatte. Canohando hakte sie so vorsichtig wie möglich los, um nicht noch größere Schmerzen auszulösen, und Yargas Mund formte: „Spiel...“

„Ich werde ein Lied für dich machen,“ sagte Canohando, bevor er sich daran erinnerte, dass er noch nie zuvor eines gemacht hatte. Aber Yargas Lippen zogen sich in der grimmigen Parodie eines Lächelns zurück, also schlug Canohando einen einfachen Rhythmus. Dann verzerrte sich Yargas Gesicht in einem weiteren qualvollen Krampf, und Canohando ließ die Trommel fallen und seinen Arm unter die Schultern des anderen Orks gleiten. Yarga wandte den Kopf und presste sein Gesicht gegen Canohandos Brust, und Canohando drückte seinen Freund an sich – nie war ein Ork dem Tod auf eine solche Weise begegnet, gewiegt von einem Kameraden, der sein Hinscheiden beweinte. Yarga zuckte, er erstarrte für einen Moment, und dann wurde sein Körper in Canohandos Umarmung schlaff...

Plötzlich rollte Canohando herum und fiel mit einem Krach zu Boden. Elladan fuhr zurück; der Inhalt der Tasse, die er gerade erst nachgefüllt hatte, schwappte ihm über die Hand. Er stellte sie ab und ging hin, um den Ork wieder auf das Bett zu heben, und Canohando schaute zu ihm hoch.  

„Bruder der Königin...“ 

„Ja, ich bin hier. Willkommen zurück, Canohando.“ Elladan wusste, dass er grinste wie ein Seemann auf Landgang, aber es schien ihm nicht wichtig. „Willkommen in Lothlórien.“

Die Augen des Orks weiteten sich und er sah sich in dem Zimmer um; die gewölbte Decke war blau wie der Himmel, an jeder Ecke gestützt von Pfeilern, die an die Stämme von Mallorns erinnerten. Die Fenster saßen hoch in den Wänden, und Sonnenlicht strömte in langen Strahlen über den Boden und das Bett. 

„Die Herrin?“ fragte er.

„Sie ergeht sich im Garten; ich habe sie hinaus geschickt, für etwas frische Luft. Sie hat jeden Moment, den ich ihr gestattet habe, bei dir gesessen.“

„Ich erinnere mich...“ begann Canohando, aber nein, das war nicht die Königin gewesen. Er erinnerte sich an ein kleines, weißes Gesicht mit gehetzten Augen, das ihn aus der Dunkelheit heraus anstarrte. Er schüttelte verwirrt den Kopf; er konnte sich nicht erinnern dieses Gesicht je in wachem Zustand gesehen zu haben. 

„Ich muss die Nachricht weiter geben, dass es dir besser geht.“ Elladan öffnete die Tür und der Soldat draußen sprang in Habachtstellung; es war immer einer der Kompanie dort, um auf Neuigkeiten von ihrem Kommandanten zu warten. Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einem breiten Lächeln, als Elladan ihm Bescheid gab, und der Elbenfürst lie? ihn für einen Moment ins Zimmer treten, damit er Canohando selbst sehen und seinen gemurmelten Gruß hören konnte. Dann hastete der Mann davon, um die gute Kunde zu verbreiten.

Ein paar Tage später hatte sich der Ork so weit erholt, dass sie ihn nach draußen trugen, wo er in der Sonne sitzen konnte; das geschiente Bein hochgelegt, während  Arwen sich in der Nähe nieder gelassen hatte. 

„Wenigstens einen Monat, ehe du das belasten kannst,“ sagte Elladan zu ihm, und Canohando zog eine Grimasse.

„Holt ihm ein paar Krücken – es ist besser, wenn er anfängt, sich zu bewegen,“ sagte eine gedämpfte Stimme aus den Schatten unter einem der Mallornbäume. Sie schauten aufgeschreckt hinüber und Elladan bewegte sich rasch, um Canohando mit seinem Körper abzuschirmen, aber der Ork beugte sich vor, um an ihm vorbei zu schauen.

Es war das selbe Gesicht – das kleine, spitze Kinn und die riesigen, dunklen Augen, und es gehörte zu einem schmächtigen Kind mit hüftlangem Haar, das fast so bleich war wie ihr Gesicht. „Komm her,“ sagte Canohando, und, als sie zögerte: „Hab keine Angst: ich werde dich nicht beißen.“ 

Ihre Augen richteten sich auf Elladan. „Darf ich? Ich werde ihm nicht weh tun,“ sagte sie, und Canohando zog für einen Moment die Augenbrauen zusammen, ehe er lachte.

„Nein, junges Gemüse, ich denke nicht, dass du mir weh tun wirst! Tritt zurück, Bruder der Königin, sie fürchtet sich vor dir.“  

„Dazu hat sie auch allen Grund,“ sagte Elladan. „Gib auf ihre Messerhand Acht; wenn sie ein wenig schneller gewesen wäre, du wärst nie wieder aufgewacht.“ Doch er ging zu dem Mädchen hinüber und zog ihr die Waffe aus dem Messergurt, bevor er ihr mit einem Nicken die Erlaubnis gab, sich Canohando zu nähern.

„Dann hast du gemeint, ich wäre Futter für deine Klinge?“ Canohando betrachtete sie neugierig. Es war nicht nötig, nach dem Grund zu fragen; er war ein Ork, das war Erklärung genug. „Ich hatte gedacht, Elben würden warten, bis ihre Feinde aufwachen.“

„So ist es Brauch,“ sagte Arwen trocken. „Malawens Erziehung muss in gewisser Weise vernachlässigt worden sein.“

Das Mädchen ignorierte die Königin, aber ihre Augen bohrten sich in die von Canohando. Langsam hob sie sich das Haar vom Gesicht und wandte ihm die zerstörte Wange zu, damit er sie sehen konnte. Er wurde sehr still; seine Hand bewegte sich unwillkürlich zu dem Juwel um seinen Hals, und seine Finger schlossen sich fest darum. 

Die Narben reichten aus, um zu wissen, was ihr zugestoßen war; der Holzprügel, aus dem Feuer gezogen, am einen Ende rotglühend und gegen das Gesicht einer Gefangenen gepresst, der inmitten eines Mobs von brüllenden Orks an Armen und Beinen fest gehalten wurde. Und das war erst der Anfang...

„Du wurdest gerettet,“ sagte er. „Sonst wäre es als Nächstes deine andere Wange gewesen, und dann deine Augen...“ Es wäre weit mehr als das geschehen, und ihm versagte die Stimme. 

Arwen rang scharf nach Atem, und Canohando nickte. „Ich habe dieses Spiel gesehen,“ sagte er. „.. nein, Elbchen,“ fügte er, an Malawen gewandt, hinzu, „es ist nie meine Hand gewesen, die den glühenden Ast hielt! Doch habe ich dabei zu geschaut, und es tut mir Leid, dass sie dich so missbraucht haben, meine Orkbrüder...“

Er wandte den Kopf ab und schloss die Augen. Sie waren meine Brüder, was immer auch seither mit mir geschehen ist, dachte er. Ich habe nie der Brandfackel gehalten, aber ich habe bei diesem Spiel zugesehen, und ich habe über die Schreie gelacht... Ihm war elend, und er wünschte sich, er wäre nicht erwacht, um das verwüstete Gesicht dieses Kindes zu sehen. Er wünschte sich, nie zu dem Wissen erwacht zu sein, dass er ein Ork war, und dieser wilden Barbarei brüderlich anverwandt.

Doch während die Tage verstrichen, sah er, dass sich  Malawen wieder und wieder in der Nähe herum drückte. Einer der Heiler in der Kompanie hatte ihm Krücken gemacht, und er schwang sich darauf die vernachlässigten Gartenwege entlang und durch die Räume drinnen im Erdgeschoss; er baute die Muskeln wieder auf, die schwach geworden waren, während er im Bett lag. Und nicht ohne Regelmäßigkeit sah er sie aus dem Augenwinkel, während sie ihn hinter einem Baum hervor beobachtete oder einfach draußen vor dem Fenster stand. 

Ihre Gegenwart brachte ihn aus der Fassung, sie erfüllte ihn mit Schuld. In ihrem Gesicht sah er jeden Akt der Folter, bei dem er jemals Zeuge geworden und an dem er Vergnügen gefunden hatte, in all den langen Jahren vor dem Sturz von Mordor. Er hatte das hinter sich gelassen und nie erlaubt, dass sein Gedächtnis weiter zurückreichte als bis zu der Begegnung mit Yarga und Lash, als sie ihn, dem Tode nahe, gefunden und ihm das Leben gerettet hatten, nach dem Krieg. Doch der Anblick von Malawen brachte die anderen Erinnerung in den Vordergrund, und er konnte sie nicht mehr verbannen.

Wir sind Bestien, ich und meine ganze Art, dachte er verzweifelt, und während sein Körper täglich stärker wurde, verzagte sein Geist. Aber als er schon dachte, dass er es nicht länger ertragen könnte, da kam auch die Erinnerung an Neunfinger zu ihm zurück, an Frodo, der ihm einen weißen Juwel um den Hals hängte, und er wurde ruhiger.

Arwen kam selten aus ihrer oberen Kammer herunter, und Canohando konnte mit seinem gebrochenen Bein nicht die Treppen hinauf gelangen. Elladan schlief in dem kleinen Ankleidezimmer und nahm die Stelle des Orks ein, die Tür der Königin zu bewachen, und Canohando hätte seine Matte am Fuß der breiten Stufen aufgeschlagen, wenn der Elbenfürst nicht eingegriffen hätte.

„Du hast eine Kompanie Soldaten unter deinem Befehl, Kommandant. Teile sie nach deinen Wünschen ein, um Ihre Majestät zu bewachen, aber du musst in einem Bett schlafen und dich ausruhen, oder all ihre Pflege für dich wird zunichte.“ 

„Ich bin ihr Schatten...“

„Wenn sie hinunter kommt, sollst du wieder ihr Schatten sein, oder dann, wenn dein Bein geheilt ist. Sie ist erschöpft von all ihrer Fürsorge für dich, Canohando; lass es nicht umsonst gewesen sein!“

Also versammelte Canohando seine Männer und teilte den Wachdienst ein, Tag und Nacht, und er schickte auch Jäger aus, denn die Vorräte, die die Kompanie bei sich trug, gingen aus, und es gab wenig Nachschub in den verlassenen Behausungen von Lórien. ,

Ein paar Elben waren zum Haus gekommen, als sich das Gerücht verbreitete, dass Arwen Undómiel zurückgekehrt war. Es gab nicht mehr viele, die immer noch in dem Land lebten, aber zwei oder drei von ihnen kamen mit ihren Frauen, und sie setzten Galadriels Heim für Arwen so gut instand, wie sie es vermochten; sie warteten ihr auf und sorgten für sie, so gut sie konnten.

Und Canohandos Männer kümmerten sich um ihn. Die Heiler, die nicht gewusst hatten, was sie für ihn tun sollten, als er bewusstlos da lag, waren doch fähig genug, seine Verbände zu wechseln und ihm zu zeigen, wie er sein Bein dehnen und üben konnte, um seine Kraft zurück zu gewinnen. Die Unterkommandeure kamen zu ihm, um sich ihre Befehle abzuholen, und die Kompanieköche hoben die fleischigsten Knochen für ihn auf. Auch wechselten die Männer sich auf eigenen Wunsch darin ab, nachts seine Tür zu bewachen. 

„Was soll das hier?“ fragte er eines Nachts verblüfft, als er nicht schlafen konnte und sein Zimmer verließ, um draußen im Mondlicht umher zu streifen. 

Drei Männer waren auf dem Posten, und sie sprangen erschrocken auf die Füße.

„Verzeihung, Kommandant! Es ist eine sehr schludrige Wache, das ist es wirklich, aber du musst wissen, dass niemand sie angeordnet hat, und sie ist nicht offiziell... Aber hab keine Furcht, wir bleiben wach, auch wenn wir liederlich aussehen mögen.“ 

Er betrachtete sie voller Ironie. „Wovor beschützt ihr mich denn?“ fragte er, aber sie wichen seinem Blick aus und schienen nur zögerlich antworten zu wollen.

Endlich sagte der Mann, der zuerst gesprochen hatte: „Da – da gab es einen Angriff auf dich, als du ohnmächtig warst, Kommandant.“

„Das kleine Elbenmädchen mit dem Narbengesicht?“ fragte er, und der Mann nickte.

„Sie hat sich wie eine Wilde aufgeführt, als die Herrin Arwen sie gebeten hat, bei deiner Pflege mitzuhelfen. Sie kennt dich nicht, Kommandant – du bist nicht wie andere Orks.“

Canohando seufzte; er blickte durch den Vorraum hinaus auf den mondhellen Garten, der von einer Reihe anmutiger Bögen eingerahmt wurde. Er wusste, wie überwuchert und voller Unkraut es dort war, nicht wie die perfekt getrimmten Grünflächen in Minas Tirith, aber in dem weichen Licht hatte der Garten einen zauberhaften Schimmer.

„Wenn du hinaus gehen willst, dann folgen wir dir, Kommandant,“ sagte der Soldat, aber Canohando schüttelte den Kopf und legte dem Mann kurz eine Hand auf die Schulter.

„Ich danke euch. Erschreckt das Kind nicht, wenn ihr sie seht. Ich bin jetzt wach.“

Er ging wieder in sein Zimmer, lehnte seine Krücken an die Wand und setzte sich auf das breite Fensterbrett, um hinaus zu schauen. Das Fenster haben sie vergessen, dachte er, und ihm wurde klar, dass er zurückgehen und sie daran erinnern sollte; es war tatsächlich eine schludrige Wache, wenn man drei Mann an der Tür postierte und es unterließ, das Fenster zu bewachen!

Er lehnte sich gegen die kalten Steine und verdrehte den Hals, um den Mond zwischen den Bäumen zu sehen. Er wollte nicht, dass ein Soldat draußen vor seinem Fenster stand, und vor dem Elbenkind fürchtete er sich nicht.  

Ich bin nicht länger, was ich einst war, dachte er. Diese Kleine trägt mehr Dunkelheit in sich als ich es noch tue. Ich weiß, welche Schlacht du schlägst, Elbchen...


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