Die Offizielle Fanfiction-Universität von Mittelerde (OFUM)
von Camilla Sandman, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 1
Ein seltsamer Besuch

Irgendwo – wo genau, ist nicht so wichtig – wandte sich ein Mädchen seinem Computer zu. Rotes Haar fiel ihren Rücken hinab, als sie es abwesend aus dem Gesicht strich. Sie setzte sich hin, öffnete ihr WORD-Programm und fing an zu tippen, während ihre Finger sanft gegen die Tasten des Keyboards stupsten.

Das Mädchen war Lina Holling, eine von vielen, vielen „Herr der Ringe“-Süchtigen und außerdem Fanfiction-Autorin.

Stell dir vor...
Raum. Dunkelheit, gesprenkelt mit kleinen Lichtpunkten von überall her. Sie mögen klein erscheinen in dieser riesigen Leere, wie die zufälligen Oasen in einer gewaltigen Wüste, irgendwo weit draußen. Aber sie sind wunderschön, ihr Licht reist weit, weit, weit...
Stell dir vor...
Einer dieser Sterne. Es ist keiner von den größten, oder einer der kleinsten; er scheint getreulich, wie er es getan hat seit dem Tag, an dem er erschien. Um diesen Stern herum kreisen mehrere Planeten, und einer von ihnen enthält Leben.
Stell dir vor...
Der Planet. Aus dem All wirkt er wie eine blaugrün-weißliche Perle, aber wenn man sich nähert, kommen Kontinente und das Meer in Sicht. Dann Berge, Seen, Flüsse, Häuser... Leben. Marschen, schneeverhüllte Berge, Wälder, Ebenen; eine riesige Bandbreite von Lebensumständen. Und da ist überall Leben.
Stell dir vor...
Menschen. Elben. Zwerge. Drachen. Halblinge. Orks. Dämonen. Zauberer. In einer Welt wie dieser existiert Zauberei nicht nur, sondern sie blüht und gedeiht.
Stell dir vor...
Der Zauber. Jeder Stein, jeder Baum, jeder See, jeder Fluss, jeder Sonnenaufgang, jede Wolke, jeder Sonnenuntergang- Zauber. Kein Zauber, wie wir ihn kennen, sondern Zauber in seiner reinsten Form.
Stell dir vor...
Diese wundervolle Welt, so rein, so unverdorben...
Halt. Etwas scheint nicht in Ordnung zu sein, es scheint, als wäre da ein... ein Tor? Ein verschlossenes Tor. Eine Inschrift steht darauf.
„Du kannst nicht hindurch... bis du hindurchgegangen bist.“

Was zum...?

Lina blinzelte, den Blick wie gebannt auf den Bildschirm gerichtet. Sicherlich hatte sie das doch gerade nicht geschrieben? Nein, sie musste eingedöst sein, und...

Ein diskretes Hüsteln ließ sie zu den drei Gestalten aufschauen, die scheinbar völlig unvermittelt in ihrem Schlafzimmer aufgetaucht waren. Einen Augenblick lang wunderte sie sich, ob sie halluzinierte, vor allem, als der Mann, der am dichtesten bei ihr stand, ihr ein breites, irgendwie gruseliges Lächeln zuwarf.

„Sie haben gerade versucht, eine ,Herr der Ringe’-Fanfiction zu schreiben, stimmt’s? Tut mir leid, jetzt ist Schluss damit. Die Party ist vorbei. Was, Sie haben doch nicht wirklich gedacht, das wir Sie so weitermachen lassen, oder?“

„Hä...?“ brachte Lina krächzend heraus; sie fragte sich, ob die TicTacs, die sie gegessen hatte, durch irgendeinen eigenartigen Unfall durch Ecstasy ersetzt worden waren (oder durch etwas, das ebenfalls Trips auslöste).

„Ah... es wird Ihnen noch alles klar werden. Ich bin Eins, dies sind Zwei und Drei. Betrachten Sie uns als... Repräsentanten von Mittelerde.“

„Mittelerde?“ echote das Mädchen, und in ihrem Kopf murmelte eine kleine Stimme sarkastisch: „Jetzt bist du endgültig übergeschnappt. Musste ja passieren.“

Der Mann lächelte noch immer; diese Art Lächeln, das einem versichern soll, es sei alles in Ordnung, und das einen nur noch mehr entsetzt.

„Spielen Sie nie mit einem Land herum, in dem Zauberei existiert.“ fuhr er fort. Dann holte er tief Luft und stürzte sich in eine Ansprache, die er vorbereitet haben musste. „Aber verzweifeln Sie nicht. Sie können noch immer Fanfiction schreiben. Alles was Sie tun müssen, ist, sich anzumelden und die Offizielle Fanfiction-Universität von Mittelerde zu durchlaufen. OFUM bietet ein weites Spektrum von Fächern, so unterschiedlich wie „Böse ist, wer Böses tut 101“, unterrichtet vom hochgeschätzten Sauron höchstselbst, und „Poesie 202“ mit dem vielbejubelten Autoren von „Merry Dol und Dong Dillo: Wie man sich die Nachbarn vom Hals hält“, dem einen und einzigen Tom Bombadil. Unser hochgeachteter Lehrkörper schließt ebenfalls andere wohlbekannte Bewohner Mittelerdes mit ein. Nach erfolgreichem Abschluss wird Ihnen die Lizenz erteilt, ,Herr der Ringe'-Fanfiction zu schreiben. Alles klar?“

Lina öffnete ihren Mund und schloss ihn wieder. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.

„Gut. Ich bin sicher, Sie werden es... stimulierend finden.“ Wenn möglich, wurde das Lächeln des Mannes noch breiter. Er langte in seine Aktentasche und zog ein paar Papiere und ein Faltblatt heraus.

„Dies sind Ihre offiziellen Anmeldeunterlagen. Ihre Fahrgelegenheit wird morgen eintreffen, falls Sie sich entscheiden sollten, zu unterzeichnen, wovon ich vertrauensvoll ausgehe. Wenn nicht... oh, das wird nicht nötig sein, ich bin sicher, Sie kommen an Bord. Viel Glück, Miss!“

Das Faltblatt wurde ihr in die Finger gedrückt, und Lina verfolgt mit offenem Mund, wie sich die drei im Handumdrehen in Luft auflösten und nicht mehr hinterließen als verstreute Papiere. Sie blinzelte, dann blinzelte sie noch einmal. Das Faltblatt lag immer noch in ihrer Hand, und es fühlte sich wirklich an. Es war wirklich.

„Oh, mein Gott.“ murmelte sie, während sie das Faltblatt überflog. „Ich bin verrückt. Ich bin wahrhaftig verrückt geworden. Das kann nicht... Platonische Liebe 101. Dozenten: Herr Frodo Beutlin und Herr Samweis Gamdschie. Nie im Leben. NIE IM LEBEN. Männerbünde 202: Dozenten: Logolas, Sohn des Thranduil und Gimli, Sohn des Glóin. Oh Mann.“

Sie starrte die Papier auf dem Fußboden an. Legolas als Dozent – nun, das war eine Wahnvorstellung, die es wert war. Was konnte es schaden, die Papiere auszufüllen, richtig? Sie bildete sich das alles nur ein, also führte es auch zu nichts. Richtig?

Zu ihrer Überraschung zitterte ihre Hand, als sie sie nach den Papieren ausstreckte. Sie schienen gewöhnlich genug zu sein, abgesehen von ein paar eigentümlichen Fragen.

„Angst vor Spinnen Ja/Nein.“ las sie. „Gewählte Seite: Gut/Böse. Bevorzugter Dunkler Herrscher: Morgoth/ Sauron.“

Vielleicht war dies keine Wahnvorstellung, sondern ein Traum. Sie würde wahrscheinlich bald aufwachen und über den verdrehten Traum lachen, den sie gehabt hatte. Ja... ein Traum.

Sie lachte, ließ die ausgefüllten Papiere auf ihrem Tisch liegen und schlüpfte ins Bett. Die weichen Decken hießen sie willkommen, und sie bekam kaum noch mit, dass der Computer sich selbst ausgeschaltet zu haben schien, und dass die Papiere in dem Moment verschwunden waren, als sie sie losgelassen hatte.

Bald schlief sie... der letzte Schlaf, den sie für einige Zeit in ihrer eigenen Welt finden würde, denn am nächsten Morgen erwachte sie in der Rohanreiter-Express-Kutsche auf dem Weg in die Offizielle Fanfiction-Universität von Mittelerde in der Stadt Minas Tirith.

Ihr Schrei war bis Bruchtal zu hören.


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