Mitternachtsregen
von Cúthalion

für pandemonium_213
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Mai 3018

Lily trat früh am Morgen aus dem Smial; sie verließ den Kiesweg und grub ihre Zehen in das taunasse Gras. Es fühlte sich himmlisch an, und die Tatsache, dass ihre Aufgaben als Hebamme sie bis zum Sonnenuntergang von Küchenarbeit, Nadel und Stickrahmen fernhalten würde, erfüllte sie mit einem Vergnügen, das nicht frei war von Schuld. Niemand sollte so glücklich sein, von zu Hause weg zu kommen.

Sie dachte an ihren Vater und zog ein Gesicht; er bekam nur selten die Gelegenheit, die Beschränkung seines Zimmers zu verlassen. Durch einen bösen Sturz verkrüppelt und an eine Frau gebunden, die ihn als Last betrachtete, ertrug er sein Schicksal mit großer Würde, jeden Tag aufs Neue. Sie versprach sich selbst, dass sie am Nachmittag zwischen zwei Besuchen wiederkommen würde, um dafür zu sorgen, dass er ins Freie und an die frische Luft kam und einen – wenn auch mühseligen – Spaziergang im Garten machte. Es war das Mindeste, was sie für ihn tun konnte.

Die ersten Vorboten der „Winterernte“ zeigten sich bereits am Horizont; der Gipfel würde im Juli, August und September kommen, aber selbst wenn die jüngeren (und älteren) Mütter von Hobbingen, Wasserau und Oberbühl ihre Kinder nicht sofort bekommen würden, blieb noch reichlich Arbeit für ihre Hände. Ihre Handflächen rochen nach Kamille und Rosskastanienessenz, und ihre Mutter beschwerte sich lautstark über das starke Aroma ihres frisch gemachten Efeu-Einreibemittels und über die Fenchelsamen, die sie unter der Decke in der Küche trocknete. Ihr Vater lachte sein sanftes Lachen und nannte sie meine kleine Kräuterhexe, und Marco und Falco rannten durch den Flur und sangen ein albernes Lied, das mit den Worten begann: Dem Mond ist ganz schwindelig von all dem Mohn, den hat er von Lily, jetzt stolpert er schon – bis Viola die legendäre Geduld verlor, die sie für ihre Söhne aufsparte und sie hinaus scheuchte.

Doch nun hatte Lily die täglichen Spannungen ihres Zuhauses hinter sich gelassen und der Tag lag vor ihr, frisch und glänzend wie eine neue Silbermünze. Der Himmel war wolkenlos, die Luft war überraschend warm und roch nach Frühling... feuchte Erde, sprießendes Grün, ein lebhaftes Aroma, das von neuem Erwachen nach einem langen Winter sprach, von Hoffnung und neuem Leben.

Sie nahm die Abbiegung zum Beutelhaldenweg und wurde von dem Anblick eines gerstenblonden Haarschopfes empfangen, der sich hinter der sauber gestutzten Hecke des Gamdschie-Gartens hin- und her bewegte. Sam sang... die Morgenbrise trug seine Stimme dorthin, wo sie den Weg entlang ging, und sie erhaschte etwas über ein „hübsches Mädel mit glänzendem Haar, ein Blick wie der Sommer, so wunderbar“. Dies war eindeutig ein Morgen für neue Lieder, gar kein Zweifel.

Lily trat näher, ihre Füße lautlos auf dem weichen Boden. „Guten Morgen!“

Sam schoss urplötzlich hinter der Hecke in die Höhe, die Augen geweitet, den Mund offen. Er war erschrocken genug, dass er ein ganzes Bündel Bohnenstangen fallen ließ, die er offensichtlich gerade aufstellen wollte. Sie klapperten laut, während sie in einem Haufen auf dem Boden landeten und dabei knapp seine Zehen verfehlten; Lily versuchte, ein Kichern herunter zu schlucken, was ihr nicht gelang.

„Schau mal, ich bin's doch nur,“ sagte sie. „Wen hast du denn erwartet? Bandobras den Bullenrassler?“

„Noch schlimmer,“ entgegnete Sam grimmig; er hob die Stangen auf, lehnte sie gegen die Hecke und rammte die erste mit unnötiger Wucht in die Erde. „Ich warte auf Lobelia Sackheim-Beutlin. Herr Frodo hat mir erzählt, dass sie einen Brief ausgegraben hat, den Bilbo Beutlin mal an ihrem Mann geschrieben haben muss, vor mehr als dreißig Jahren. Letzten Montag ist sie in Beutelsend aufgekreuzt, hat mit diesem dämlichen Schrieb unter Herrn Frodos Nase herum gefuchtelt und irgendwas über ,bestimmte Versprechen' gefaselt, die ,der verrückte alte Narr' darin gemacht hätte.“

Sam lief rot an vor Zorn, sichtlich entsetzt über die Art, wie Frau Lobelia über den Helden seiner Kindheit herzog. Lily schauderte, als sie sich diese Szene vorstellte. Lobelia kaufte regelmäßig die Stickereiwaren, die sie und ihre Mutter anfertigten, und sie war ein echter Albtraum – unfassbar hochnäsig und gleichzeitig lächerlich knauserig, und all das kombiniert mit einer Zunge, die giftig genug war, um dem unglücklichen Ziel ihrer Wut bei lebendigem Leibe die Haut abzuziehen.

„Herr Frodo sagt, er hätte überhaupt keine Versprechungen gefunden“, fuhr Sam mit rechtschaffenem Ärger fort, „bloß irgendwas darüber, dass die Sackheim-Beutlins Beutelsend in dem Fall kriegen, dass er keinen Erben hat. Aber nicht allzu lang danach ist Herr Frodo von Bockland her gekommen, und jetzt gibt es einen Erben, und das heißt, dass sie den schönsten Smial in den Vier Vierteln nie in ihre gierigen Hände bekommt.“

Er schnaubte laut durch die Nase und langte nach der nächsten Bohnenstange.

„Herr Frodo hat eine Abschrift von Herrn Bilbos Letzten Willen bestellt – obwohl sie schon wenigstens zwei davon hat, sagt er – und dann hat er sie mir gegeben. Gleichzeitig hat er ihr eine Nachricht geschickt, dass er ein paar Tage in Buckelstadt ist, und dass er sie freundlich darum bittet, die Abschrift bei seinem Gärtner abzuholen.“

Plötzlich grinste er.

„Und jetzt frag ich mich, ob sie wohl wirklich auftaucht; ich wette, sie ist viel zu eingebildet, um mit ihrem hübschen, neuen Einspänner hier herunter zu fahren. Aber müssen wird sie's, wenn sie Herrn Bilbos Willen heute noch mal lesen will; sonst kann sie mit ihrem Schirm gegen die grüne Tür hämmern, bis das Ding in Stücke geht. Herr Frodo hat mir gesagt, er ist morgen wieder da, gerade zur rechten Zeit für's Abendessen.“

Dann war das also der Grund, weshalb die Lampe während der letzten sieben Tage nicht gebrannt hatte. Er musste wirklich sehr verärgert gewesen sein... genug jedenfalls, dass er vergaß, ihr eine Nachricht zu hinterlassen.

Sie versuchte, den kleinen, scharfen Stich in ihrem Herzen zu ignorieren und schenkte Sam das schönste Lächeln, das sie zustande brachte. „Wie geht’s dem Ohm? Ich habe Birkenblätter gesammelt, für einen Tee gegen seine Gicht, und wenn er frische Gundelrebe für ein Bad braucht, dann kann ich ihm jederzeit welche bringen.“

Sam zuckte die Achseln.

„Ich bin sicher, die Gundelrebe würd' ihm schon helfen, Mädel...das heißt, wenn er bloß jemals richtig baden würde. Siehst du, der Ohm denkt, zum Waschen braucht man Wasser, ein Stück Kernseife und einen Leinenlumpen. Warme Bäder sind was für feine Leute, sagt er immer, ein hart arbeitender Hobbit schrubbt sich einfach unter der Pumpe sauber.“

Zum zweiten Mal versuchte Lily erfolglos, nicht zu kichern. Sam klang ganz genau so wie sein Vater, bis hin zu dem typischen, brummigen Tonfall. Trotzdem waren die schmerzenden Gelenke des Ohm ein ernstes Problem.

„Grüß ihn von mir,“ sagte sie, „und sag ihm, dass dieses besondere Bad nichts mit dem Sauberwerden zu tun hat. Die Gundelrebe zieht die Schwellung und die Schmerzen heraus. Er wird sich danach viel besser fühlen.“  

„Ich werd's ihm sagen,“ entgegnete Sam und steckte die dritte Stange in den Boden. „Und wenn ich Glück hab,ist der nächste Anfall schlimm genug, dass er an deine Warmwasserkur glaubt.“

Sie überließ ihn seinen Bohnenstangen und ging langsam den Bühl hinauf, auf die üppigen Gärten von Beutelsend zu. Für einen Moment blieb sie am Tor stehen; dahinter hatte Sam die Erde der Erdbeerbeete bereits mit frischem Stroh bedeckt; die zarten, grünen Blätter wuchsen in dichten Büscheln. Ihre Augen suchten nach dem Busch mit den Stolz des Westens-Rosen, Bilbo Beutlins Lieblingsblumen, und dann erinnerte sie sich daran, dass er in einem geschützten Bereich des hinteren Gartens wuchs. Lily schloss die Augen und versuchte, sich den feinen, süßen Duft ins Gedächtnis zu rufen, aber sie war zu weit weg. Der Herr war fort, der Garten verschlossen.

Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder ab und setzte ihren Weg nach Oberbühl fort.

*****

Der Tag verging mit Besuch über Besuch; ihre gleichmäßigen Schritte webten ein Zickzackmuster zwischen Hobbingen, Wasserau und drei oder vier vereinzelten Höfen ringsherum in den grün wogenden Hügeln. Früh am Nachmittag kam sie nach Zuhause zurück, um ihre Kräutervorräte aufzufüllen und ihren Vater bei seinem Spaziergang im Garten zu begleiten. Sie aß ein Butterbrot und eine Handvoll getrockneter Pflaumen und machte sich wieder auf den Weg, zum Smial der jungen Mutter in Oberbühl, die sie schon am Morgen besucht hatte. Deren Sohn litt an regelmäßigen Koliken, und Lily hatte sich bereits an die Tatsache gewöhnt, dass es kein Heilmittel gab, das bei allen Babys gleich gut wirkte. Jetzt versuchte sie es mit Kümmelöl-Massagen und wickelte den brüllenden Jungen fest in ein warmes Umschlagtuch, was tatsächlich half.

Die nächste Person in diesem Haushalt, um die sie sich kümmerte, war die völlig erschöpfte Mutter. Lily führte sie ins Schlafzimmer und steckte sie in ein Nachthemd; sie ließ sich in einem Schaukelstuhl am Fenster nieder und sah zu, wie die junge Frau augenblicklich unter den Decken einschlief. Sie verbrachte die nächste Stunde in dem Stuhl und summte Wiegenlieder, das schlummernde Baby in den Armen, bis der Ehemann von den Feldern heimkam und dankbar übernahm, während sie ein einfaches Abendessen zubereitete.

Als sie wieder nach Hause zurück kehrte, stand die Sonne tief im Westen. Sie betrat den Smial und stellte fest, dass es noch ein zweites Abendessen gab, um das sie sich kümmern musste. Viola hatte die Stickereien für die Hochzeit einer wohlhabenden Familie in Nadelhohl fertig gestellt und dann den Wagen mit den Waren beladen, die sie auf dem Monatsmarkt dort verkaufen wollte. Die Tatsache, dass sie all dies hatte allein tun müssen, hatte nicht gerade geholfen, ihre Stimmung zu verbessern, und mehrere Stunden der Konzentration auf ihren Stickrahmen und zahllose kleine Stiche wurden jetzt mit heftigen Kopfschmerzen bestraft.

Also war es Lily, die einen Topf Suppe über dem Feuer aufwärmte, die Brot und Käse aufschnitt und ihre Brüder dazu überredete, den Tisch zu decken, während Viola sich im Schlafzimmer ausruhte, ein kühlendes, feuchtes Tuch über Stirn und Augen. Es war Lily, die Falco und Marco eine Gutenachtgeschichte erzählt – die einzige Pflicht, die Viola sich stets selbst vorbehielt; es war ein klares Anzeichen ihrer elenden Verfassung, dass sie sie jetzt ihrer Tochter überließ.

Lily sagte ihrem Vater Gute Nacht und ging kurz nach Sonnenuntergang ins Bett; ihre Beine waren schwer, und ihr Rücken schmerzte. Alles in allem war es ein guter Tag gewesen, mit guter Arbeit, aber irgendetwas nagte noch immer an ihr. Sie tat ihr Bestes, es zu ignorieren und schlief endlich ein; sie träumte von Indigoaugen, von eleganten, tintenfleckigen Händen auf ihrer Haut und einem verschlossenen Garten.

*****

„Lily?”

Sie kämpfte sich aus den dunklen Tiefen des ersten Schlummers nach oben, öffnete die Augen und sah ihren Vater neben dem Bett stehen, schwer auf die Krücken gelehnt, die Sam für ihn gemacht hatte. Die Kerzen brannten in dem kleinen Messinghalter auf ihrem Nachttisch und vergoldeten sein müdes Gesicht.

„Papa...?”

„Es tut mir Leid, Kind, aber Tom Lochner ist draußen. Er hat Angst um seine Frau; er sagt, sie hört nicht auf zu bluten.“

Lily setzte sich auf und seufzte innerlich. Es war Tausendschön Lochners zweite Schwangerschaft, und sie hatte bereits während der ersten gelegentlich Blutungen gehabt. Sie hatte das Kind – einen gesunden, kleinen Jungen – allerdings ohne irgendwelche Schwierigkeiten ausgetragen und zur Welt gebracht, und sie blutete auch nur dann, wenn sie sich übernahm. Tom tat sein Bestes, die schweren Arbeiten im Haushalt von ihr fernzuhalten, und ein Heer eifriger Basen von beiden Seiten der Familie waren mehr als willens, ihm dabei zu helfen, doch Tausendschön war eine leidenschaftliche Hausfrau und außerstande, die unerschütterliche Überzeugung aufzugeben, dass das Leben in ihrem geliebten Smial nur durch ihre Mühen reibungslos ablief.

„Sag ihm, ich komme.“

Sie schüttelte ihre Schläfrigkeit ab und überlegte, welche Kräuter sie brauchen würde. Gänsefingerkraut, Hirtentäschel, Pimpinelle... Sie musste einen plötzlichen Zorn über Tausendschöns Sturheit unterdrücken. Dummes Weibsbild.

Zehn Minuten später stand sie draußen im Freien, begrüßt von Tom, der mit beschämtem Gesicht einen Strom Entschuldigungen vom Stapel ließ. Der Himmel war dunkel, ohne Mond und Sterne und wolkenschwer, aber während er sie das kurze Stück zu seinem Heim kutschierte, blieben sie verschont. Lily brachte die nächste Stunde damit zu, einen Tee zu kochen, Tausendschön zu untersuchen und sie zu beruhigen; gleichzeitig gab sie ihr die strenge Abweisung, endlich zu tun, was man ihr sagte. Tausendschön versprach feierlich, in Zukunft vorsichtig zu sein, trank drei Becher von Lilys Tee und wurde angewiesen sich hinzulegen, ein dickes Polsterkissen unter ihrem Becken und einen kalten Umschlag darüber. Danach gab es nicht mehr viel zu tun; Tom bot ihr ein Bett im Gästezimmer an, und Lily wusste, dass ihr Vater sie nicht allzubald zurück erwartete, aber sie entschied, dass sie frische Luft nötig hatte und machte sich wieder auf den Heimweg.

Es war ein kurzer Gang die Straße hinunter, um die Biegung und durch den Beutelhaldenweg, bis sie nach links abbiegen musste, aber gerade, als sie am Gamdschie-Smial vorbei kam, verließ sie das Glück. Ein erster, dicker Tropfen traf sie auf die Stirn, der nächste prallte von ihrer Nase ab, und bevor sie auch nur schneller gehen konnte, fiel der Regen in einem stetigen Guss und durchweichte ihre Bluse, ihr Mieder und ihren Rock, bis sie gründlich durchnässt war.

Sie schluckte einen von Sams Lieblingsflüchen hinunter, platschte durch die rasch tiefer werdenden Pfützen und erreichte das Ende des Beutelhaldenwegs. Doch anstatt sich nach links zu wenden, schaute sie instinktiv in die entgegen gesetzte Richtung, wo der Pfad – der sich soeben in einen schmalen, lehmigen Bach verwandelt hatte – den Bühl hinauf führte. Sie erwartete, nichts als Dunkelheit zu sehen, aber da war ein kleiner, goldener Schimmer in der Entfernung, wo nur das dunkle Fenster eines leeren Smial hätte sein sollen.

Neben der grünen Tür brannte die Lampe.

*****

Sie zögerte keinen Augenblick. Sie verschwendete keinen Gedanken an Anstand und angemessenes Benehmen; was in Beutelsend geschah, wenn sie dort war, hatte ohnehin nur selten irgendetwas mit Anstand zu tun. Das kleine, goldene Licht zog sie zu ihm wie ein Signalfeuer; es wurde größer und heller, bis sie das Gartentor hinter sich gelassen hatte und um die breite Vorderfront des Smial herum auf die Hintertür zuging. Die ließ er stets für sie offen, wenn er zu Hause war.

Diese Nacht war keine Ausnahme. Sie schlüpfte hinein, empfangen von vollkommener Stille. Das Einzige, was sie hören konnte, war das Tropfen ihrer schweren Röcke. Sie stand reglos in der warmen Dunkelheit, während sich das Wasser um ihre Füße sammelte. Trotz ihres plötzlichen Entschlusses brachte sie keinen Ton heraus; sie zögerte, auf sich aufmerksam zu machen, und noch viel mehr, seinen Namen zu rufen.

„Lily?”

Die Tür zum Korridor öffnete sich vor ihr; da war der schattenhafte Umriss des Hobbits, den zu sehen sie gekommen war, begleitet von hellen Glanz der Lampe, die er trug. Sie blinzelte, hob die Hand und wischte sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Guten... guten Abend.“

„Meine Indil, du siehst aus wie eine ersäufte Katze!“ In seiner Stimme schwang ein Hauch Lachen mit, und noch etwas anderes, das dafür sorgte, dass ihr das Herz schneller schlug. „Ist es draußen kalt? Brauchst du ein Bad?“

„Baden kann ich jederzeit daheim,“ erwiderte sie und zupfte an den Ärmel ihrer klatschnassen Bluse. Ich wollte dich sehen. Ich hatte keine Ahnung, wo du bist. Ich weiß, ich habe kein Recht, irgendetwas von dir zu verlangen, aber trotzdem...

„Ich hab dich vermisst,“ platzte sie heraus, halb entsetzt über ihre eigene Unverfrorenheit.

Der Blick der Indigoaugen wurde weich. „Ich habe dich auch vermisst... sonst wäre ich nicht schon heute nach Hause gekommen.“

Sie atmete aus, erfüllt von einer triumphierenden Mischung aus Erleichterung und tiefer Freude. Er war früher zurückgekehrt...ihretwegen.

„Sam hat mir von diesem Brief erzählt,“ sagte sie und spürte, wie sich albernes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. „Tut mir Leid, dass er dir soviel ausgemacht hat.“

„Nicht genügend, um Hals über Kopf nach Buckelstadt zu flüchten,“ entgegnete er mit einem kleinen Glucksen,“ wenn es das ist, was du glaubst, meine Liebliche. Der Thain hatte mich schon vor Monaten eingeladen. Ich muss allerdings zugeben, dass dieser Besuch mir sehr gelegen kam, als Lobelia drohte, zum zweiten Mal in zwei Tagen meine Türschwelle zu verdunkeln.“

Sie lachte und rieb sich die Regentropfen von Stirn und Wangen.

„Wir sollten dich wirklich aus diesen Sachen heraus bekommen,“ bemerkte er ernsthaft, und sie entdeckte, dass sie mitten in einer großen Pfütze stand. Trotzdem war es draußen recht warm gewesen, und selbst jetzt war ihr nicht kalt. Doch was sie außerdem entdeckte, war sein Blick, der auf ihrer Bluse ruhte, und als sie nach unten schaute, stellte sie fest dass der Regen den dünnen Stoff mehr als ein wenig durchsichtig hatte werden lassen.

„Ja, das sollten wir wohl,“ flüsterte sie und langte zögernd nach der Verschnürung ihre Mieders.

Mit einem langen Schritt stand er direkt vor ihr, sein Atem warm auf ihrem Gesicht. Doch er küsste sie nicht, Statt dessen lösten seine Hände die Bänder und öffneten die winzigen Häkchen; sie zogen sanft, bis das Mieder mit einem feuchten Plumps zu Boden fiel. Sie schloss die Augen, sprachlos und verzaubert, die Welt zusammen geschrumpft auf das Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut, während er einen Knopf ihrer Bluse nach dem anderen aufmachte. Dann berührte kühle Luft ihre Brüste. Sie fing an zu zittern und wartete auf warme Lippen, aber die kamen nicht. Statt dessen bewegte sich seine Hand zum Gurtband ihres Rockes, lockerte es und half ihr, aus dem schweren, nassen Stoff heraus zu steigen.

Noch immer machte sie die Augen nicht auf, seltsam geborgen in der Dunkelheit hinter ihren Lidern. Kleine Kleidung mehr zu tragen bedeutete mehr, als sich nur auszuziehen. In eben diesem Moment fühlte sie sich, als hätte sie abgestreift, was sie war: das gehorsame Kind ihres Vaters, die rebellische Tochter ihrer Mutter, die heimliche Seherin, die Hebamme von Hobbingen. Alles, was blieb, war die Frau in diesem stillen Zimmer... ihr tiefer, regelmäßiger Atem, ihre bloße Haut und die langen, feuchten Locken,die ihr nacktes Rückgrat entlang streiften.

Und da war der Hobbit, der schweigend vor ihr stand, ein strahlendes Licht in den Augen, als sie ihn endlich anblickte, während er das einzig Natürliche tat: er legte seine Kleider ab, bis er ebenfalls nackt war.

Die Frau, die sie nun war, konnte sagen, was Lily Stolzfuß noch nicht zu sagen wagte, und sie sagte es mit einem Lächeln. „Die Nacht ist warm. Wieso gehen wir nicht nach draußen?“

„Und feiern die Vorboten des Sommers?“ Seine Stimme war sehr nahe, während sein Atem über ihre Schulter geisterte. „Ist das nicht ein wenig... waghalsig?“

„Nur, wenn wir unser Fest im Vorgarten genießen,“ murmelte sie, fing seine Hand ein und küsste die Handfläche. „Zwischen Sams Erdbeerbeeten sollten wir sicher sein.“

„Du hast mehr verdient als Erdbeeren,“ gab er zurück und hob sie mit einer raschen, fließenden Bewegung auf seine Arme; wie beim ersten Mal war sie verblüfft über seine unerwartete Stärke. „Für dich sollten es wenigstens Rosen sein.“

Und damit trug er sie zur Hintertür hinaus und durch den lauwarmen, strömenden Regen dorthin, wo Bilbo Beutlins liebster Rosenbusch gerade begonnen hatte zu blühen.

Da war kein Bett, nicht einmal eine Decke, aber es kümmerte sie nicht. Lily sank in weiche, nasse Erde hinein, seine Hände glitten um ihre Mitte und gruben sich in ihre Hüften. Sie warf den Kopf zurück und der Atem stockte ihr in der Kehle, als er mit einem kraftvollen Stoß in sie eindrang. Sie klammerte sich an seine Schultern und spürte das Prasseln des Regens auf ihren miteinander verschmolzenen Leibern; es hatte keine Bedeutung mehr, wo sie endete und er anfing. Er stützte sich auf beide Arme und schaute auf sie hinunter; sie sah kaum etwas von seinem Gesicht, außer dem Glanz seiner Augen und einem Schimmer weißer Zähne. Kühles Wasser rann ihr die Flanken hinunter, ließ sie erzittern und aufkeuchen, während gleichzeitig der stetige, kräftige Rhythmus seines Fleisches in dem ihren jeden Nerv und jede Fiber in zuckendem Feuer aufglühen ließ. Kälte und Hitze, Frost und Flammen, Winter und Sommer...

...und sie bäumte sich ihm entgegen, trunken vor Freude und außer sich vor Glück. Ein Schrei stieg in ihrer Kehle auf, als die Anspannung sich endlich in einem langen, schaudernden Höhepunkt brach. Sein Mund senkte sich auf den ihren herab, seine Lippen versiegelten ihre Stimme und den Klang ihrer Ekstase. Ganz plötzlich richtete er sich auf, hob sie vom Boden hoch und hielt sie auf seinem Schoß fest. Ihre Stirn sank gegen seine Brust, und sein hämmernder Herzschlag erfüllte ihre ganze Welt, während er ein letztes Mal heftig in ihre enge Wärme hinein stieß, ihr über die letzte Schwelle folgte und seinen eigenen Schrei an ihrem Hals erstickte.

*****

Niemand im Stolzfuß-Smial bemerkte, wann genau die junge Hebamme nach Hause kam, und natürlich wurde auch niemand Zeuge, wie der Herr von Beutelsend noch vor Tagesanbruch in eine volle Badewanne stieg. Es war das zweite Bad, das während jener Nacht im schönsten Smial der Vier Viertel genommen wurde, und Frodo musste die Wanne zuerst ausleeren und sauber schrubben. Aber er tat es mit tiefer Zufriedenheit und einem Lächeln.

Als Lily Stolzfuß am folgenden Morgen erwachte, waren die Wolken verschwunden und der Himmel war hell und klar. Sie öffnete ihr Fenster und stellte fest, dass etwas auf dem Sims auf sie wartete: eine frisch abgeschnittene Stolz-des-Westens-Rose. Die karmesinroten Blütenblätter öffneten sich der Sonne und erfüllten die Luft mit dem berauschend süßen Duft des Sommers.

FINIS


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