Der Lockruf von Taur-na-Rhun (The Lure of Taur-na-Rhun)
von Marnie, übersetzt von Martina, bearbeitet von Cúthalion

Schwarz waren die Zweige und bitter der Wind. Die Kiefern von Dorthonion standen hoch aufgerichtet unter einem mit Sternen bestreuten Himmel. Raureif hing an jedem Ast, glitzernd wie ein Hort weißer Juwelen. Ein Geruch von Harz und Wildheit stürmte mit dem Wind, und der Prinz von Doriath stampfte mit festen Schritten über den Schnee, aus purem Entzücken, durch Fontänen aus funkelnden Eiskristalle zu waten.

Vor ein paar Stunden war er  seiner Eskorte entschlüpft - den Wachen und Dienern, die er als seine Leine ansah. Ein paar Stunden weiter, und er würde zu ihnen zurückkehren, oder sich von ihnen finden lassen. Aber nun war ihm die Freiheit zu Kopf gestiegen wie Wein. Er sang ein kaltes Lied, mit kristallklarer  Stimme unter den dunklen Bäumen von Orod-Na-Thon, und er lachte, als der tiefe Forst sich vorzubeugen schien, ihm zu lauschen. Denn er war ein Jüngling inmitten der Jugend der Welt,   als alle Dinge neu waren,  und obschon es Orks in Mittelerde gab, so trug er doch seinen Bogen mit sich und verspürte keine Furcht.

Er zog in den Wald, wo der Wind seufzte,  durch Zweige verwirrt,  und die Nadelstreu unter seinen Füßen war weich. Dann hinaus, dem weißen Gipfel  des Berges zu, unter Sternen gleich silbernem Feuern.  Dort war der stählern harte Boden durch die frostigen Winde frei gefegt, und alle Bäume wichen beiseite,  bis auf einen, und den hatte der Winter so mitgenommen, dass ihm nur zwei Zweige blieben.

Dann blieb Celeborn neugierig stehen, denn dieser Baum war keine Kiefer, noch war es irgendein Baum, den  er je zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Am ehesten glich er einer jungen Eiche,  doch mit einem in zwei Teile gespaltenen Stamm; wären die Wurzeln nicht gewesen, man hätte meinen können, dass er imstande war zu laufen.  Die Rinde auf den erhobenen Zweigen war glatt, vom seidigen Grau der Esche; sie entsprach ganz und gar nicht seinem Stamm, so als … als wäre der Baum so leibhaftig wie er selbst, und als ob er Kleidung trüge. Es brauchte nur sehr wenig Einbildung,  ein knorriges Gesicht auszumachen, und einen kurzen Bart von der Art der Naugrim, aus belaubten Zweigen.

„Ele!“ sagte er und machte einen Schritt vorwärts, den Baum zu berühren, „ Was bist du?“

„Hum!“  Der Baum öffnete seine braunen Augen, die erleuchtet waren von grünem Feuer, und, als Celeborn einen Satz zurück machte, erschreckt und wachsam,  da sprach er mit einer  Stimme, schön wie der Klang einer hölzernen Flöte. „ Ha. Hm. Es scheint, als hätte ich geschlafen, und dort zu meinen Füßen sei ein silberner Baum gewachsen. Wie lange stehst du schon dort, junger Elb?“

Der Wind blies heftig aus dem Osten, und als Celeborn sich wieder näherte,  wehte er ihm das Haar aus dem Gesicht. Es strömte wie ein Kometenschweif,  ebenso silbern und genau so hell. Er musste nicht fragen, wie dieses Wesen seinen Namen erraten hatte. „Lang genug, um in Erstaunen zu geraten  über dich,“ sagte er, „ Bist du ein Kind Iluvatars? Oder von einem der Valar – so wie die Zwerge? Wie kommt  es, dass du unsere Sprache sprichst? Was bist du? Wie lautet dein Name?“

„Vielleicht habe ich keinen,“ sagte das Ding und wiegte sich sacht nach vorn, um seinen flackernden Augen fest auf das Gesicht des Elben zu richten, „und, um den Rest zu beantworten, hm, nun… ich denke, wenn du es nicht weißt, dann kann ich es dir nicht sagen. Ich bin ein Ent, und ein Ent ist…, hmm. Ein Ent ist, was ich bin. Was dir dies bedeutet, kann ich nicht sagen.  Aber es war das grüne Volk, jawohl, die Lindi, die Laegrim, die uns zuerst Worte schenkten. Eine ihrer großen Taten war das,  ganz und gar unbesungen.“

Der Ent dehnte seine Füße; jeder Zeh löste sich nur zögerlich vom Grund, einer Wurzel gleich. Er senkte seine Arme,  und die ausgebreiteten,  blattlosen  Zweige seines Laubdaches offenbarten  sich als vielfingrige Hände. Vertraut mit den schläfrigen,  nur halb bewussten Gedanken der Bäume,  fand Celeborn seine Rede rasch; klar und schnell fließend wie der Esgalduin.

„Woher stammst du?“  fragte er, „ Hätte mein Volk auch nur ein Gerücht über dich vernommen, sie kämen alle, dich zu sehen. Dass wir nicht gekommen sind, zeigt, dass du gerade erst eben eingetroffen bist.“

„Nicht so hastig,“ sagte der Ent, „ die ,Axt-Elben' werdet ihr genannt, das Volk von Elu. Wir haben gelernt, Äxte zu verabscheuen. Vielleicht ist es Furcht, die uns eurem Gesichtskreis entzogen hat? Hm?  Vielleicht  haben wir euch aus Angst gemieden? Aus Angst um uns selbst und um die Bäume, die wir lieben.“

Er machte einen Schritt, die langen Beine öffneten sich wie… wie einer von Círdans Zirkeln, ohne sich zu beugen; die Zehen ertasteten die Beschaffenheit des Bodens, bevor der Fuß sich senkte. Unvermittelt befand  er sich sechs Elbenschritte weit entfernt von dort, wo er zuvor gestanden hatte, wie auf dem Rückzug.

„Wir sind nicht die Mörder von Bäumen“,  sagte Celeborn und folgte ihm, „Selbst in Beleriand gibt es finstere Dinge.  Für sie sind unsere Waffen gemacht, um unsere Bäume zu schützen - die schönen Eichen von Region, die Auen der Weiden von Nan Tasarion, den hochgewachsenen  Wald von Nan Elmoth, wo unser Volk seinen König verlor und ihn wiederfand. Geh nicht.“

Der Ent beugte sich zu ihm nieder, so wie ein schlanker Baum sich einem hohen Winde neigt; er knarrte ein wenig. Sein Bart war moosig und grün, die Enden aber grau. Licht flatterte in seinen Augen, mit aufsteigenden Gedanken und voller Belustigung. „ Geh nicht? Warum nicht? Ich gehe, wohin ich will. Ich gehe und rede und wache über meine Herde. Wie du gesehen hast, falle ich in Schlaf, wenn ich zu lange still stehe.“

„Woher bist du gekommen?“

„Aus dem Osten kam ich.“ Seine entische Stimme verfiel in den Rhythmus eines Sprechgesanges.  „Aus den großen Wäldern von Ennor, den Laegrim nach. Ja, aus den Wäldern, die sich immerdar unter den Sternen erstrecken, aus den Buchenwäldern, den Kiefernwäldern und den Stechpalmendickichten an den Hängen der Nebelberge.  Von den Orten und Tagen, da ich mich inmitten des endlosen Blätterraschelns ergehen konnte... dunkel unter den unwandelbaren Sternen von Elbereth. Ah, die wilden Orte und das Seufzen der Blätter auf Taur-na-Rhun im Duft der Lindenblüte!“

Und als hätte sich ein Zauber auf ihn gelegt, wandelte sich bei diesen Worten Celeborns Herz, so dass er eher voll Staunen und Sehnsucht in den Osten blickte denn in den Westen.  „Wäre ich frei, ich würde mit dir gehen, oh Fangorn,“ sagte er bewegt. „Wenn du keinen Namen hast, so nimm diesen, mit allen meinen guten Wünschen: Baumbart.“

„Ein kurzer Name, und lange habe ich gelebt,“ sagte der Ent, doch dann hielt er inne, und sein knorriges Gesicht  verzog sich zu einem Lächeln, „aber er wird mir genügen, und ich danke dir dafür.“ Er seufzte - ein Ton wie der Klang einer Orgel -  und wandte sich um. „Wir werden uns dort  wiedersehen,“ sagte er, „In den unbesiedelten Gegenden des Ostens. Wenn wir nicht so sehr in Eile sind, dann werden wir uns wiedersehen, denke ich.“

„Ich weiß es nicht,“ sagte Celeborn, und er träumte von der vollkommenen Freiheit , in unbekannten Wäldern zu wandern,  wo selbst die  Sterne fremd waren. Er hatte Beleriand geliebt und es für die ganze Welt gehalten, aber nun gingen seine Träume hinaus in den Rest von Ennor. Sollte es solche Wunder beherbergen wie Fangorn, oder solche Bäume wie die, von denen Fangorn gesprochen hatte, dann konnte er es ebenso lieben wie sein eigenes Land.

„Ich weiß es nicht, oh Ent. Aber ich hoffe es.“


ENDE


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