... und hör das Lied der salzigen See
von Cúthalion

Minas Tirith, 1388

Sie weiß, dass er sie liebt. Aber lieben heißt nicht immer verstehen, vor allem nicht in diesem Fall.

Er hatte die Tochter einer alten, edlen Familie und die Schwester eines Prinzen geheiratet. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, aber er nahm sich Zeit und zeigte ihr, was unter der Oberfläche aus Macht und strenger Selbstzucht lag; angesichts seiner stillen Einsamkeit öffnete sie ihm ihr Herz. Er sehnte sich nach Wärme und Hingabe, und zu ihrem scheuen Entzücken sehnte er sich tatsächlich nach ihr. Sie war überrascht und tief bewegt, dass unter allen Frauen sie diejenige sein sollte, die jene Leere in ihm füllen sollte... die Leere, die sie so schmerzhaft deutlich spürte.

In der Stunde vor der Morgendämmerung steht sie am Fenster ihrer Kemenate; die polierten Marmorböden sind mit vielen Teppichen bedeckt. Ihr ist kalt... ihr ist jetzt immer kalt, und selbst pelzgefütterte Roben und dicke Wollstolen vertreiben den inneren Frost nicht, der sie ständig zittern lässt. Sie verabscheut den Winter in Minas Tirith, aber die warme Jahreszeit ist keineswegs besser. Während der Sommertage speichert die Weiße Stadt die Hitze der Sonne wie ein Ofen, und während der Nächte strahlt sie von den Wänden aus und macht es ihr unmöglich, zu schlafen.

In früheren Jahren – als ihr Herr noch geduldiger war – nahm sie ihre Söhne oft nach Dol Amroth mit und sie verbrachten einen Monat oder zwei im Schwanenpalast. Sie spazierte dann durch die Gärten und atmete den Duft von Rosen und Mimosen und den allgegenwärtigen, belebenden Hauch von Seetang ein, und ihr Bruder ging neben ihr, stellte ihr Fragen und betrachtete prüfend ihr Gesicht, wenn er glaubte, dass sie es nicht bemerkte. Bist du glücklich, Schwester? Behandelt er dich gut? Weshalb bist du so still? Und sie sah ihn an und schenkte ihm das liebliche, vage Lächeln, das zu einem Teil ihrer Maske geworden war. Ja, Bruder, ich bin glücklich. Keine Frau könnte sich einen gütigeren und zärtlicheren Ehemann wünschen. Ich bin so still, weil ich es genieße zu schweigen.

Seltsam genug war es keine Lüge – wenigstens nicht ganz. Tatsächlich konnte sich keine Frau einen gütigeren und zärtlicheren Ehemann wünschen... seine Liebe zu ihr ließ niemals nach, sie wusste es gut, aber die grausamen Anforderungen des Truchsessenamtes verhärtete seine Augen und verdunkelte ihm das Herz. Und sie – die ihm die wachsenden Kümmernisse erleichtern sollte, die auf seinen Schultern lasteten – sie wankte jetzt unter ihrer eigenen Bürde, und die wurde jeden Tag schwerer.

Sie grübelt und starrt über die schlafenden Kreise auf die nachtdunklen Wiesen und Felder des Pelennor hinunter. Der Fluss ist nicht mehr als ein dünner Silberstreif am Horizont.

Wann hatte ihr Leben angefangen, zu dieser verwirrenden Wanderung durch ein endloses Labyrinth aus Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen zu werden? Am Anfang war alles so einfach gewesen... sie war gerade erst die Frau des Truchsessen geworden, dieser ernsthaften Gestalt mit dem dunklen Haar und den tiefen Augen. Sie hatte ihn mit ihrem trockenen, zurückhaltenden Witz geneckt, und sie hatte ihn zum Lachen gebracht, tatsächlich zum Lachen... und wenn er lachte, war er ein völlig anderer Mensch. So viele Entdeckungen, die auf sie warteten, so viele Freuden, die sie teilen konnten... aber die Jahre kamen und gingen vorüber, und sein Lachen klang seltener und seltener durch den Palast unter Ecthelions Turm. Die Freude war aus ihrem Herzen gesickert, langsam und unaufhörlich... und jetzt war sie dahin, um nie wieder zurückzukehren.

Die Dämmerung streckt schlanke, neblige Finger über den Himmel und ein plötzlicher Wind aus dem Norden nimmt die letzten Wolken der Nacht mit sich fort. Bald werden die ersten Vorboten des Sonnenaufganges flüchtige Spuren auf die stillen, weißen Mauern malen, rosenfarben und golden, aber vorher hat das Licht für ein paar Augenblicke eine seltene Qualität... es verwandelt die Wiesen unterhalb der Stadt in eine weite, blaugraue Ewigkeit aus wogenden Wellen. Für ein paar kostbare Sekunden könnte das, was ihr zu Füßen liegt, leicht der Ozean sein, und wenn sie die Augen verengt und den Atem anhält, dann könnte sie sich beinahe selbst glauben machen, dass sie wieder daheim ist... daheim, wo sich jedes Fenster zum Meer hin öffnet.

Zum Meer.

Sie heirateten 1376, und das Warten auf einen Erben begann. Sie brauchte mehr als ein Jahr, um zu empfangen, und sie war sich der Damen am Hof des Truchsessen von Gondor wohl bewusst, die hinter ihrem Rücken flüsterten und ihr mit den Augen folgten. Damals war sie noch überschäumend glücklich, glücklich genug, um ihre höflichen Fragen nach ihrer Gesundheit zu ignorieren, ihre leisen Stimmen und verstohlenen Blicke. Sie lachte gemeinsam mit ihrem Herrn, und dann war sie endlich schwanger, und nach langen Tagen der Arbeit für das Reich, dass er wie seine Vorväter regierte, saß er bei ihr in ihrer Kemenate. Er hielt ihre Hand und streichelte ihren wachsenden Bauch, heftigen Stolz und leuchtende Hoffnung in den Augen, und er malte das Bild einer glanzvollen Zukunft für ihren kommenden Sohn.

Einen Sohn, natürlich, nicht eine Tochter, und er bekam seinen Willen; das Baby, das an einem kühlen Herbstmorgen1378 geboren wurde, war ein Junge, gesund und kräftig, mit einem dunklen Haarschopf, starken, strampelnden Beinen und zupackenden Fäusten. Sie hätte ihn selbst genährt – wie ihre Mutter es getan hatte, die legendäre, streitbare Morwen von Dol Amroth, die es stur abgelehnt hatte, sich um die schockierten Heiler zu kümmern, die ihr Vorträge über die Notwendigkeit von Ammen und das korrekte Benehmen einer Edelfrau ihrer Herkunft hielten.

Aber ein plötzliches Fieber vereitelte Finduilas’ Pläne, und ihr neugeborener Sohn wurde anderen Händen anvertraut. Und in späteren Jahren änderte sich nicht viel... er war ein regelmäßiger Gast in den Quartieren der Wache und beobachtete eifrig die Ausbildung und Übungen der Männer. Als er sechs Jahre alt war, schenkte ihm sein Vater das erste, kleine Messer, und er konnte den Beginn seiner Schwertstunden kaum erwarten. Sie liebte ihn sehr; sie war von überraschter Ehrfurcht erfüllt angesichts seiner Stärke und seines Wagemutes (die selbst bei einem Kind in seinen jungen Jahren schon deutlich sichtbar waren), aber sie hatte immer den Eindruck, dass etwas fehlte... es war Fürsorge und auch Zärtlichkeit zwischen ihnen, aber zuallererst war er Denethors Sohn.

Sie tritt vom Fenster zurück und öffnet die Tür, die zu einem schön geschwungenen Balkon führt. Während der heißen Sommernächte steht dort immer ein Liegestuhl, mit Kissen bedeckt und dünnen Decken, und oft liegt sie unter den Sternen, hungrig nach freiem Himmel und frischer Luft.

Faramir wurde fünf Jahre später geboren. Wieder hielt sie einen dunkelhaarigen Jungen in den Armen; und doch war dieses Mal alles anders. Sie sah nicht nur die stolzen Züge ihres Herrn, sie sah sich selbst in den klaren Augen und der Form von Brauen und Wangen wiedergespiegelt. Kein Fieber trat zwischen sie und dieses wundersame Kind; es lag an ihrer Brust, trank sich satt und schlief ein, eine winzige Hand fest um ihre Finger geschlossen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie beide in einer zarten, schillernden Luftblase lebten, abgesondert von den Herausforderungen und Ängsten eines normalen Lebens: kein endloses Repräsentieren bei Hof, die wachsende Bedrohung aus dem Osten gemindert zu einem bloßen, undeutlichen Schatten, und die weißen Mauern nicht länger ein Käfig, der sie einschloss. Mit Faramir bei sich war sie imstande, frei zu atmen.

Aber es war ein Preis zu zahlen für diese unbedingte Nähe. Sie vernachlässigte die Bedürfnisse ihres Herrn, die Bedürfnisse ihres Erstgeborenen, die Bedürfnisse von Gondor. Während die Tage dunkler wurden, veränderte Denethor sich. Es war nie leicht gewesen, seine Verteidigung zu durchbrechen, aber nun wurde der Schutzpanzer noch starrer und undurchdringlicher. Und irgendwann zwischen Faramirs Geburt und seinem fünften Geburtstag begriff sie langsam, dass sie beide ihre Fähigkeit verloren hatten, einander das Herz zu öffnen.

Er war höflich, ja... auch aufmerksam und sogar voller Leidenschaft, wenn er den Weg in ihr Bett fand. Aber Augenblicke wie diese wurden seltener und seltener, und der Tag kam, an dem alles, was sie sah, ein hoch gewachsener Fremder war, das Haar grau gesträhnt, der ihre Hand ohne jeden liebevollen Druck hielt, während er sie zu einem weiteren Bankett mit Botschaftern aus fernen Ländern geleitete. Sie studierte sein Gesicht mit einer Art müder, gedämpfter Besorgnis; sie suchte nach den verlorenen Spuren von Liebe und Anziehung, aber alles, was sie fand, war die Maske des Truchsessen. Ihr Herr war noch immer da, aber ihr Gatte war fort.

Oder vielleicht war sie ja fortgegangen. Kummer und Erschöpfung mischten sich in ihrem Geist zu einem Nebel, der ihre Gedanken umwölkte. Wenn Denethor nach seiner verlorenen Gattin suchte und nach der Nähe der frühen Jahre, dann bemerkte sie es nicht mehr. Sie wandelte durch die Tage wie eine Marionette, ein lieblicher Anblick, aber eigenartig leblos. Das Volk von Minas Tirith, das sie mit offenen Armen empfangen und ihr angesichts des Geschenkes von zwei Söhnen für den Truchsess zugejubelt hatte, fing an zu flüstern... von Gespenstern, die ihre geliebte Herrin heimsuchten, von einer schönen Blume, die direkt vor ihren Augen dahinwelkte.

Sie erinnert sich, wie Faramir ein Lied sang, das sie erst vor einem halben Jahr geschrieben hat. Er hat keine Ahnung, dass es drei Strophen gibt; er kennt nur die erste. Sie hat sie ihm beigebracht, und er hat die Worte und die Melodie leicht gelernt. Er lernt ohnehin mühelos, er ist der Stolz und die Freude seiner Lehrer. Seine Stimme ist hoch, klar und schön, und sie klingt noch immer in ihrer Seele wieder.

Weich unter mir der goldne Sand
Die Möwen ihre Kreise zieh’n
Meerjungfrau singt in der Tiefe grün
Ich wandre an vertrauter Hand

Er hat das Meer immer geliebt, und er hat ihre Fluchten nach Dol Amroth beinahe so sehr genossen wie sie; er sieht sie immer als hoch willkommene Ferien. Sein angebeteter Bruder hat dort Zeit für ihn, und ein geliebter Onkel ist immer zur Stelle, um seine Hand zu nehmen für einen Spaziergang durch die Gärten und den Strand entlang.

Im nächsten Sommer würden sie nicht an die Küste reisen. Denethor sprach ein Machtwort und gebot ihr zu bleiben. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er wirklich zornig auf sie war. „Du verdirbst den Jungen“, sagte er in eisigem Tonfall. „Ich werde nicht länger zulassen, dass du ihn in deine eingebildete Welt hinein ziehst. Lieder und Dichtkunst mögen für friedliche Zeiten taugen, aber Gondor ist in ständiger Gefahr, von allen Seiten bedroht. Er muss der Wirklichkeit ins Auge sehen, wenn er älter wird, und zwar bald. Er wird ein Krieger sein müssen.“ Sie senkte ihren Kopf in hilflosem Gehorsam und sah zu, wie er sich umdrehte und den Raum verließ; er ließ eine spürbare Atmosphäre von Enttäuschung und Wut hinter sich zurück. Sie wusste, dass sie den Kampf verlor, aber es gab nichts, was sie tun konnte, um es zu verhindern. Er würde ihr Faramir fortnehmen... und die letzte Verbindung zu dem, was sie einmal gewesen war, würde für immer verloren sein. Vielleicht hatte er Recht... aber sie konnte den Gedanken nicht ertragen.

Sie steht jetzt dicht vor der Balustrade... der Himmel ist blass und durchscheinend, und nun geschieht es wieder. Im bläulichen Licht verwandeln sich die Wiesen jenseits der Weißen Stadt wundersam im Ebbe und Flut, atmend, atmend... und ihre Heimat, so schmerzhaft vermisst und verzweifelt herbeigesehnt, scheint sehr nahe zu sein. Sie zögert, als warte sie auf ein Zeichen, das außer ihr niemand hören kann... aber dann klettert sie auf das breite, steinerne Geländer und schiebt sorgsam einen Blumentopf mit Immergrün beiseite. Jetzt steht sie hoch aufgerichtet, ihr warmer Umhang bewegt sich sachte in der frühen Morgenbrise. Sie löst die lange Flechte, die ihr über den Rücken hinabhängt... wie sie es zahllose Male zuvor getan hat, wenn sie an ihrer Lieblingsstelle in Dol Amroth stand, wo die See einen natürlichen Teich aus türkisblauem Wasser bildet, von Sand umgeben und Kieseln, glatt gewaschen von den Wellen. Sie beginnt zu singen. Ihre Stimme ist unsicher nach langem Schweigen, ein wenig heiser, aber dann findet sie die Melodie zu ihren eigenen Worten wieder, und nun werden es alle Strophen sein.

Weich unter mir der goldne Sand
Die Möwen ihre Kreise zieh’n
Meerjungfrau singt in der Tiefe grün
Ich wandre an vertrauter Hand

Meeresstimme, Sirenengesang
Komm, Tochter des Wassers, komm nach Haus
Die Leuchtfeuer schauen nach dir aus
Hoch von den Klippen die Küste entlang

Finduilas breitet ihre Arme aus wie Flügel, ein freudiges Lächeln auf dem Gesicht. Dies muss ein Wintermorgen in Dol Amroth sein – da ist das leise, regelmäßige Rauschen der Wellen, die Luft ist frisch und kalt, erfüllt von scharfem Salzgeruch.

Einst endet schließlich alles Weh
Ich tausche leblos kalten Stein
Für Dünensand und Seegras ein
Und hör das Lied der salzigen See

Sie tritt ins Leere und fällt ohne einen Laut.


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