Ein Kind im Mittwinter
von Cúthalion


Kapitel 1
Dunkle Wolken

Er erwachte ein paar Stunden vor der Morgendämmerung; er war sich nicht sicher, was ihn aus einem vagen Traum aufgeschreckt hatte, in dem er einen staubigen Pfad entlang wanderte, durch eine Landschaft voll von zerschmetterten Felsen. Eine einzelne Kerze brannte auf dem Nachttisch; die goldene Flamme spiegelte sich in der kleinen Wasserschüssel darunter. Er hatte Durst und entdeckte mit müder Dankbarkeit, dass Lily sein Glas nachgefüllt haben musste. Der erste Schluck rann ihm die Kehle hinunter, kühl und frisch und mit einem schwachen Hauch nach Äpfeln.

Das Bett neben ihm war leer. Die Decken waren in Unordnung und er konnte sehen, wo ihr Kopf auf dem Kissen gelegen hatte, Es war nicht das erste Mal… sie wurde dieser Tage immer rastloser, jetzt, da man die Zeit, bis ihr Baby geboren werden würde, in Wochen zählen konnte. Er lächelte, als er sich an Rosies Bemerkung vom Tag zuvor erinnerte. Nestbauen, das ist es, was Lily da tut, Herr Frodo, hatte sie erklärt, eine Hand mit einer endlosen Immergrün-Girlande beschäftigt, die andere damit, Klein Merry die Nase zu putzen. Klar bräuchte sie das nicht zu tun, aber sie macht es bestimmt trotzdem. So ist das nun mal, wenn wir Mütter werden. Sie verfütterte einen kleinen Lebkuchen an Merry und befreite Klein Pippins mollige Fäuste aus der Girlande. Und vergiss nicht, es ist ihr Erstes.

Sein Erstes war es auch. Manchmal, wenn er Lily dabei beobachtete, wie sie in Beutelsend umher ging, wie sie von ihren Runden zurückkam, gemeinsam mit Rosie den Tisch deckte oder in der Stube saß, die Beine auf einen gepolsterten Hocker, dann musste er den Drang bezwingen, sich die Augen zu reiben. Und er fand keine Worte dafür, zu beschreiben, was er empfand, wenn sein Blick den üppigen Rundungen ihrer veränderten Silhouette folgte. Es war auch sein Erstes, und es war ein Wunder.

Nur noch ein paar Tage bis Jul, und das scharfe, frische Aroma von Immergrün war nicht das einzige Indiz für das kommende Fest. Lily und Rosie holten beide ihre Lieblingsrezepte für Julplätzchen heraus und erfüllten Beutelsend mit dem Duft nach Früchtebrot und Lebkuchen. Lily war monatelang auf die Jagd nach seltenen Gewürzen gegangen, und jetzt konnte er das exotische Aroma von Vanille und Zimt riechen, wann immer er an der Küchentür vorbei kam. Sie hatte es sogar fertig gebracht, Kakaobohnen in die Hände zu bekommen; sie waren Ende November in einer Holzkiste eingetroffen, begleitet von einem äußerst huldvollen (und offensichtlich äußerst amüsierten) Brief von König Elessar höchstpersönlich. Lily öffnete die Kiste und einen der Beutel, die sich darin befanden, dann versammelte sie die Kleinen um sich und servierte ihnen die erste Schokolade mit Schlagsahne ihres Lebens. Die Kinder liebten sie; sie kaufte vielfarbiges Papier für Jung-Frodo und Rosie, um Sterne, Monde und Harfen als Schmuck für die Julfenster auszuschneiden. Sie gab Merry und Pippin frischen Hefeteig und buk mit ihnen Kümmelbrot, und sie saß stundenlang im Kinderzimmer, um rote Beeren auf Garn zu fädeln (und Rosie ein wenig wohlverdiente Ruhe zu verschaffen). Sie brachte sogar Elanor ihre ersten, elbischen Buchstaben bei, als Frodo im Oktober krank wurde und wochenlang nicht dazu imstande war.

Aber jetzt erholte er sich langsam, und Jul stand bevor, und… was um Himmels Willen machte sie bloß mitten in der Nacht?

Frodo schlug die Bettdecken zurück und langte nach seinem Morgenmantel. Er entzündete die Kerzen in einem kleinen Leuchter auf dem Regal und ging hinaus. Die Gänge waren dunkel und warm, und als er an der Tür von einem der Kinderzimmer vorbeikam, hörte er von drinnen ein vereinzeltes, schläfriges Quäken. Er erstarrte und wartete, aber alles blieb still. Als er die Eingangshalle erreichte, sah er eine dünne, goldene Linie aus Licht unter der Tür zur Studierstube. Ah – da.

Er betrat das Zimmer auf lautlosen Sohlen und runzelte leicht die Stirn, als er sah, womit sie beschäftigt war.

Sie saß hinter seinem Schreibtisch; ihr Haar fiel lose über das warme Umschlagtuch aus Wolle, in das sie sich gehüllt hatte. Sie studierte einen Brief und bewegte die Lippen, während sie die Zeilen verfolgte. Verschiedene Pergamentbögen lagen vor ihr ausgebreitet, mit Zeichnungen bedeckt, die er nicht erkennen konnte. Als er näher trat, hob sie den Kopf.

„Frodo! Liebster, wieso schläfst du denn nicht?”

„Ich könnte dir die selbe Frage stellen,” erwiderte er milde, “Du wirst dich erschöpfen, wenn du die Nächte mit Lesen verbringst und – wie hat Rosie das ausgedrückt? – damit, das Nest zu bauen.”

„Das Nest bauen?” Lily lächelte leicht und rieb sich müde die Stirn. „Nun ja… es ist nicht mein Nest, um das ich mir gerade Sorgen mache.”

„Aber wenn du dir um unser Kind keine Sorgen machst, was bringt dich denn dann um den Schlaf, meine Indil?” Jetzt stand er hinter ihr, grub kräftige Finger in die starren Muskeln von Lily’s Hals und Schultern. Sie seufzte und entspannte sich unter seiner Berührung. Er betrachtete die Zeichnungen auf dem Tisch. Er brauchte eine Weile, um zu verstehen, was er sah, aber dann hörte er auf, Lilys Rücken zu massieren und langte nach dem Pergament, das ganz oben auf einem kleinen Stapel lag. Es war die erstaunlich genaue Zeichnung einer Frau. Ihr Oberkörper war nackt, und unter der Vertiefung des Nabels hatte der Künstler eine Öffnung in ihrem Bauch gezeichnet. Er konnte eine Art Höhle sehen, und in dieser Höhle ein kleines Kind, die Fußknöchel gekreuzt und die Knie an die winzige Brust gezogen.

"Könntest du mir das erklären?"

„Also… natürlich ist sie schwanger,” erwiderte Lily. „Der Vorsteher der Häuser der Heilung in Minas Tirith hat mir auf meine Bitte hin diese Zeichnungen geschickt, nach den ersten paar Briefen, und nachdem er verstanden hatte, was ich wissen wollte.”

Frodo starrte auf sie hinunter.

„Nach den ersten paar… wie lange hast du denn Briefe mit den Häusern der Heilung gewechselt?”

„Oh… es sind jetzt drei oder vier Monate. Nachdem Rubinie Wurzelgräber schwanger wurde und anfing… ähm… ängstlich zu werden. Ich dachte, ich bin besser vorbereitet.”

Er schüttelte den Kopf.

„Vorbereitet auf was?”

„Darauf, dass es Schwierigkeiten geben könnte, sobald sie versucht, das Kind zur Welt zu bringen. Ich bin eigentlich davon überzeugt, dass sie vollkommen dazu imstande wäre, genau so zu gebären, wie sie sollte, aber sie hat schreckliche Angst, dass irgend etwas schief gehen könnte. Und das Schlimmste, was einem passieren kann – abgesehen von verformten Knochen, zwischen denen das Baby durchschlüpfen muss, um geboren zu werden – ist eine werdende Mutter in Panik. Und eine unerfahrene Hebamme.” Sie seufzte und rieb sich wieder die Stirn, als versuchte sie, einen Anfall von Kopfschmerzen zu verjagen.

„Du vertraust nicht auf Tulpes Fähigkeiten?” Seine Stimme war sehr sanft, und er begann wieder damit, ihre Schultern zu massieren.

“Oh doch, das tue ich.” Sie schloss die Augen, als seine Hände anfingen, ihre Schädelbasis zu kneten. „Aber das wäre erst ihre fünfte Geburt ohne mich, und ich weiß nicht, wie gut sie mit einer Gebärenden zurecht kommt, die völlig außer sich ist vor Angst.”

„Du hast mir gesagt, du würdest Tulpe beim nächsten Mal nicht begleiten,” erinnerte Frodo sie. „Du hast gesagt, sie braucht eine Gelegenheit zu arbeiten, ohne dass du ihr die ganze Zeit auf die Finger schaust.”

„Ich weiß,” Lily’s Kopf sank nach vorne, während seine Finger durch ihr Haar glitten. „Aber wenn Rubinie tatsächlich nicht imstande ist, auf normale Weise zu gebären, dann sollte ich dort sein. Der Vorsteher hat mir Zeichnungen und genaue Anweisungen geschickt, wie ich das Kind in jedem Fall auf die Welt bringen kann.”

Er hielt mitten in der Bewegung inne.

„Das ist schwer vorstellbar. Wie soll das gehen?”

Ihre Stimme war leise, gedämpft von ihren üppigen Haarwellen. „Mit einem Messer.”

„Süßer Eru!” Frodo trat zurück, und Lily drehte sich um, damit sie ihn ansehen konnte. Ihr liebliches Gesicht war blass, aber entschlossen. Sie nahm seine Hände; der Griff ihre Finger war überraschend warm und kräftig.

„Mein Liebster, ich bin froh, dass diese Menschen in Minas Tirith herausgefunden haben, was manche Hobbit-Hebamme liebend gern schon viel eher gewusst hätte. Als Amaranth Brockhaus mir beigebracht hat, wie ich meine Arbeit tun soll, da hat sie mir viel über die Dinge erzählt, die getan werden müssen, wenn eine Geburt nicht ihren üblichen Gang geht. Es sind schon Babys aus den Bäuchen ihrer Mütter heraus geschnitten worden, wenn die armen Frauen sich zu Tode geblutet hatten. Aber wenn ich die Möglichkeit hätte, die Methode dieser Heiler zu erproben, dann hätte ich auch die Möglichkeit, beide zu retten, Mutter und Kind.”

„Aber – wie?”

„Indem ich den Bauch auf eine ganz bestimmte Weise aufschneide, indem ich jedes Werkzeug und meine Hände völlig rein halte und indem ich die Wunde hinterher mit einer sauberen Naht schließe.” Sie erhob sich aus dem Sessel, indem sie sich auf seine Hände stützte. „Ich weiß, ich habe das noch nie getan. Aber ich würde es fertig bringen.”

Sie ging um den Schreibtisch und auf die Tür zu. Er räusperte sich; er war sich vollkommen der Schwelle bewusst, die er gleich überschreiten würde.

„Ist es wegen Merle?”

Lily wandte sich zurück. Plötzlich wirkte ihr Gesicht viel alter... kantige Linien und dunkle Augen mit einem harten Glanz. Als sie sprach, hatte ihre Stimme einen scharfen Klang, wie dünnes, brüchiges Eis.

„Merle hat in der Nacht damals viel zu viel Blut verloren; mir blieb keine Möglichkeit, sie zu retten, selbst als ich es endlich geschafft hatte, den Kopf des Babys mit meiner Geburtszange zu fassen und das arme Ding heraus zu ziehen. Sie starb zuerst, nach vierzehn Stunden entsetzlicher Wehen. Ich saß neben ihrem Bett, den Geruch der durchweichten Laken in der Nase, ihren neu geborenen Sohn in den Armen, bis ich spürte, wie sein Herzschlag unter meinen Händen flatterte und verstummte.”*

Ihre Stimme wurde ein wenig weicher, aber der alte Kummer, den er leicht nachfühlen konnte, war tief genug, dass ihm das Herz weh tat.

„Sie war die erste meiner Mütter, die ich verloren habe, und ich hatte das Glück, seither nie wieder eine zu verlieren.” Sie streckte die Hand nach ihm aus, eine Geste, die gleichzeitig verwundbar und zärtlich war. „Ich bin keine Närrin, mein Liebster, und ein Zauberer bin ich auch nicht. Der Tag wird kommen, an dem ich zugeben muss, dass ich keinen Rat mehr weiß. Aber bis dahin werde ich mein Bestes tun, und diese Zeichnungen und Anweisungen könnten eine Waffe sein, die ich nutzen kann, wenn ich denn muss.”

Sie atmete tief, als er zu ihr kam und sie in die Arme nahm.

„Können wir jetzt ins Bett gehen?” flüsterte sie gegen seine Brust. „ich habe Elanor für morgen früh noch eine Sindarin-Stunde versprochen.”

Er küsste sie auf die Stirn.

“Lass mich ihr die Stunde geben und schlaf du, solange du kannst, mein Herz,” erwiderte er mit einem Lächeln und streichelte ihr den Rücken. „Du bringst bloß wieder die Thetar durcheinander, müde wie du bist.”
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*Siehe Bevor ich schlafen gehe, Kaptel 8 („Eine Nacht im November“)


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