Hüterin der Juwelen (Keeper of the Jewels)
von Cúthalion


Kapitel 10
Die Gerechtigkeit des Königs

„Du kennst die Strafe für Hochverrat.”

Die Stimme des Königs klang angespannt; er stand im Gemach der Königin und starrte aus dem Fenster. Seit zwei Tagen fiel ein warmer Sommerregen; er hatte die Hitze der verzweifelten, letzten Woche mit sich genommen und den Bewohnern der Weißen Stadt eine lang erwartete Erleichterung beschert.

„Die kenne ich in der Tat,” erwiderte Arwen und trat neben ihn. „Und der Verräter ist bereits bestraft, wie das Gesetz es verlangt; Ardhenon ist tot.”

Aragorn seufzte.

„Dennoch… Artanis war eindeutig in die Verschwörung verwickelt. Sie war es, die das Kommen und Gehen der Hobbits für ihren Vater ausspioniert hat; ohne sie hätte er nicht gewusst, wo er seine Männer hinschicken muss, um den Ringträger in die Hände zu bekommen.”

„Sie haben versagt.” erinnerte ihn Arwen und berührte sachte seinen Arm.

„Ja, aber Sam hätte leicht ebenfalls getötet werden können… und Ardhenon hatte seinen Männern gerade befohlen, genau das zu tun, als Faramir eintraf.” Seine Finger legten sich über die Hand der Königin und drückten sie mit plötzlicher Härte. „Und auch, mich zu töten, falls du das vergessen hast.”

„Wie könnte ich?” entgegnete Arwen. „Aber du musst jede Einzelheit dieser Sache mit einbeziehen, um der Dame die Gerechtigkeit zu erweisen, die sie nötig hat… und die Gnade, die sie verdient.”

Aragorn betrachtete das liebliche Gesicht seiner Frau; ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen.

„Erleuchte mich,” sagte er. „Welche Art Gnade erwartest du vom König, und wieso hat sie sie verdient?”

„Unter den Edelleuten bei Hofe ist es allgemein bekannt, dass in Ardhenons Augen seine Tochter kaum mehr als ein armseliger Ersatz für seinen Erstgeborenen war, der auf den Pelennorfeldern gefallen ist. Und vergiss nicht, dass sie in einem Haushalt aufgezogen wurde, wo die Truchsessen und ihre Nachkommen durch die Zeiten als die einzig wahren Herrscher von Gondor angesehen wurden Die Rückkehr eines Königs – von welcher Linie auch immer – war nichts als ein Märchen, das man bei Einbruch der Nacht den Kindern erzählte.”

Arwen holte tief Atem.

„Ich habe den Verdacht, dass sie schlicht und einfach nicht fähig war, sich ihm zu widersetzen, Estel. Sie wäre ein hilfloses Werkzeug in Ardhenons Händen geblieben, wäre Frodo nicht gewesen. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass seine scharfen Augen und seine Weisheit die Veränderung in Artanis’ Herz bewirkte, die am Ende Sam das Leben gerettet hat - und das deine.” Sie berührte seine Schulter, ihre Stimme ein drängendes Flehen. „Pippin, Frodo, Meriadoc und sogar Faramir stimmen allesamt darin überein, dass sie sich dazwischen warf, als ihr Vater versuchte, dich in den Tunneln von Osgiliath zu ermorden. Sie mag Ardhenons Pläne ausgeführt haben – zu Anfang. Aber dann ist sie zu Faramir gegangen, und sie führte ihn und die Hobbits zu dem Wachraum und riskierte dabei ihr eigenes Leben. Sie hat nicht nur Gnade verdient, mein Liebster... du solltest ihr auch dankbar sein.”

Aragorn schwieg. Die Bilder jener Nacht zogen vor seinem inneren Augen vorüber, ein Chaos aus Feuer und Dunkelheit, aus Verwirrung und entsetzten Schreien. Er erinnerte sich an die bleichen, wahnwitzigen Züge von Ardhenon, die wie durch tiefes Wasser auf ihn zu schwammen, mit leeren Augen und gefletschten Zähnen. Er erinnerte sich auch an ein gedämpftes Geräusch tiefster Verzweiflung und den Wirbel eines dunklen Kleides und Mantels. Und dann waren zwei Gestalten zu Boden gestürzt; sein Feind, der Pippins Schwert unter seinem Leib begrub, und Frau Artanis, von ihrem eigenen Vater nieder gestochen.

„Du bist weise, Melethril,” sagte er endlich. „Ich werde diese Angelegenheit in deine Hände legen. Geh und besuch die Hüterin der Juwelen, und rede mit ihr, wenn möglich; die Heiler sagen mir, sie sei noch sehr schwach und leide heftige Schmerzen... was kein Wunder ist, denn der Dolch, der sie verletzt hat, ist derselbe, der mich traf. Ich habe es nur den Fähigkeiten deines Vaters zu verdanken, dass das Gift auf der Klinge nicht noch mehr Schaden angerichtet hat, und dass ich mein rechtes Bein noch benutzen kann. Du , meine Geliebte, sollst entscheiden, was getan werden soll, um zu strafen und zu belohnen, und ich werde deinem Urteil trauen.”

„Ich danke dir.” Arwen umschloss sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn. „Ich werde versuchen, die Ratgeberin zu sein, die du brauchst und verdienst.”

Seine Nüstern füllten sich mit dem frischen, süßen Duft von Niphredil… der Duft, der sie ständig umgab, der Duft, der eine der ältesten Erinnerungen war, die er seit den Anfängen ihrer langen, schwierigen Liebesgeschichte hütete wie einen Schatz.

„Das musst du nicht erst versuchen, Tinúviel,” erwiderte er sanft, „denn das bist du schon immer gewesen.”

*****

Der Regen fiel noch immer vor den Spitzbogenfenstern wie ein dünner Schleier aus Wahrsilber, als die Königin zu den Häusern der Heilung kam. Sie wurde von dem Vorsteher begrüßt und zum linken Flügel des Gebäudes geleitet. Neben dem Eintrag stand eine Wache; sie erwiderte den ehrerbietigen Gruß des Mannes mit einem kurzen Nicken und wandte sich mit hochgezogenen Augenbrauen an Oroher.

„Fürchtet Ihr, dass Eure Gefangene versuchen könnte, zu fliehen?”

Oroher schüttelte den Kopf. „Nein, Eure Majestät,” sagte er, „aber obwohl es uns gelungen ist, die ganze Angelegenheit so geheim wie möglich zu halten, wollen wir keinesfalls, dass irgend jemand bei Hofe oder in der Stadt doch noch etwas über die Rolle der Dame in dieser Verschwörung herausfindet. Das Volk von Minas Tirith liebt seinen König, und es könnte eine solche Geschichte sehr übel aufnehmen.” Ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen und schwand wieder. „Die Wache ist ein Beschützer, kein Gefängniswärter, meine Königin, und das Zimmer der Dame ist weder ein Kerker noch ein Käfig.”

„Ich verstehe,” erwiderte Arwen langsam, „obwohl wir hier sicherlich einen Vogel mit gebrochenen Flügeln haben.”

„Flügel, die zu gebrauchen sie nie gelernt hat, glaube ich,” murmelte der Vorsteher, „und ein Geschöpf wie dieses sollte gehegt und gefüttert werden, anstatt ihm den Hals umzudrehen, bevor es jemals die Gelegenheit hatte, ein Lied zu singen.”

Ihre Augen begegneten sich in völligem Einverständnis. Sie sprachen nicht mehr, bis sie die nächste Tür erreicht hatten. Der Vorsteher öffnete sie und ging in das Zimmer; Arwen wartete hinter ihm und lauschte auf die leisen, murmelnden Stimmen hinter dem dicken Eichenholz. Dann kam Oroher wieder heraus.

„Ich bitte um Vergebung, meine Königin, aber Frau Artanis schläft, und ihre Amme - Eilinel – weigert sich, das Krankenzimmer zu verlassen, seit wir ihre besinnungslose Herrin zuerst hergebracht haben. Ich musste sie auf die Ehre Eurer Gegenwart vorbereiten; ich wollte die alte Frau nicht mit einem unerwarteten, königlichen Besuch überraschen. Euer plötzlicher Anblick könnte ihr einen Herzanfall bescheren, und dann hätte ich zwei Patienten anstelle von einem.”

„Ich muss mit ihr sprechen.” sagte Arwen ruhig.

„Selbstverständlich, Eure Majestät.” Der Vorsteher öffnete die Tür und verneigte sich tief. Arwen betrat das Zimmer und fand sich einer alten Frau mit sauber hochgestecktem Haar unter einer makellos reinen Haube gegenüber, das Gesicht beinahe so weiß wie der Stoff, der es einrahmte. Ihre Finger krampften sich um eine Falte ihrer schwarzen Röcke, während sie in einem Knicks versank.

Arwen streckte die Hand aus und legte sie sanft um einen Ellbogen der alten Amme.

„Oh, bitte… erhebt Euch, meine Liebe,” sagte sie in freundlichem, beruhigenden Tonfall. „ich bin gekommen, um die einzige Person in Minas Tirith zu sehen, die mir helfen könnte, der Frau Artanis die Gerechtigkeit zu erweisen, die sie verdient.”

Dies waren offenbar genau die richtigen Worte, um der alten Dame aus ihrer Panik und Furcht heraus zu helfen. Eilinel straffte den Rücken und begegnete dem Blick der Königin wild entschlossen.

„Ich will alles tun, was ich kann, Eure Majestät – alles.”

„Oh, ich bin sicher, das werdet Ihr,” unterbrach Arwen, „und dafür bin ich sehr dankbar. Aber jetzt würde ich gern Eure Herrin sehen.”

„Sie schläft.” sagte die Amme und ging auf lautlosen Sohlen zu einer Ecke des Raumes hinüber, die vom Rest durch einen dunkelblauen Vorhang abgetrennt wurde. „Heute morgen haben sie ihr Mohnsirup gegeben; ihre Wunde heilt langsam, aber sie leidet noch immer heftige Schmerzen.” Sie zögerte ein paar Sekunden, dann zog sie den Vorhang beiseite. Arwen trat neben sie und betrachtete die Frau, die in dem Bett lag.

Sie sah bleiche Züge und farblose Lippen – ein voller Mund, aber selbst in diesem Zustand betäubter Bewusstlosigkeit eigenartig angespannt und herb. Hohe, elegante Wangenknochen und eine schmale Nase stachen deutlich gegen den Rest des Gesichtes ab, die Wangen hohl und verschattet nach einer Woche Schock, Erschöpfung und Wundfieber. Langes Haar rahmte den Kopf auf dem Kissen ein, zerzauste Strähnen von einem matten Aschblond. Der Körper unter den Laken und Decken war schlank und zerbrechlich. Arwen hatte das plötzliche Gefühl, dass sie den bloßen Schatten einer Frau ansah… ein menschliches Geschöpf, unzeitig des Lebens und der Wärme beraubt, eine Blume, dazu verdammt, in einem finsteren Keller zu wachsen, anstatt unter den heilenden Strahlen der Sonne zu blühen. Sie braucht Licht, dachte die Königin, und ich brauche es ebenfalls, um das Muster ihres Daseins zu begreifen.

„In letzter Zeit habe ich häufig an meinen Vater gedacht,” bemerkte sie in einem leichten Gesprächston, die Augen weiterhin auf Artanis’ Gesicht gerichtet. „Er war – und ist es noch – Elrond Halbelb, der Herr von Bruchtal, ein Krieger in den uralten Schlachten von Elben und Menschen gegen Sauron und seine Heere, ein Heiler und ein großer Herrscher. Aber er war auch mein Ada, derjenige, der meine Tränen trocknete, wenn ich stolperte und fiel, derjenige, der mir im Licht eine Lampe Geschichten erzählte und mir die Stirn streichelte, wenn ich krank war.” Sie warf der Amme einen kurzen Blick zu und stellte fest, dass sie ihre volle Aufmerksamkeit besaß. „Meine Mutter ging in den Westen, als ich nach elbischen Maßstäben noch jung war, und von da an musste er beides sein, Mutter und Vater.”

„Habt Ihr… habt Ihr Geschwister, Majestät?”

„Zwei Brüder.” Arwen lächelte. „Elladan und Elrohir. Es sind Zwillinge. Ich weiß nicht, ob Ihr Gelegenheit hattet, sie kennen zu lernen; sie begleiteten mich her, als ich kam, um den König zu heiraten.”

„Mein Lämmchen hatte nur einen Bruder,” sagte die Amme leise, „Maedhron. Er war fünf Jahre alter als sie und ihr völliges Gegenteil. Er konnte einen Raum einfach damit zum Leuchten bringen, dass er ihn betrat, er hatte ein wunderbares, ansteckendes Lachen und für seinen Vater war er Morgen und Abend. Aber ein guter Bruder war er auch. Er empfand sehr tief für meine Herrin, und sie folgte ihm überall hin, wie ein kleines Kätzchen. Er nannte sie ,meine kleine Perle’”.

„Kam er gut mit Herrn Ardhenon zurecht?”

Die Amme seufzte. „Sie waren sture Männer mit starkem Willen, alle beide. Aber Maedhron… wo Herr Ardhenon Fels war, da war er Feuer und Wärme Die Mutter von Artanis und Maedhron starb jung, und ihr Vater hatte nur Interesse an seinem Sohn und Erben, nicht an seiner Tochter. Maedhron hat diese Einstellung immer verabscheut, und er machte kein Hehl daraus. Das Einzige, was sich Herr Ardhenon für seine Tochter vorstellen konnte, war eine passende und gewinnträchtige Heirat, aber Artanis war… sie war nicht…”

Die Amme zögerte, dann holte sie tief Luft und begegnete mit einer mutigen Anstrengung Arwens Blick.

„Ihr müsst verstehen… als sie vierzehn war, rollte die Halsbräune über Minas Tirith hinweg und sie wurde krank. Als sie sich nach drei Wochen mit schrecklichem Fieber langsam wieder erholte, hatte sie den Großteil ihrer Stimme verloren. Und sie besaß weder die Lieblichkeit ihrer Mutter noch den Zauber ihrer berühmten Großmutter – von der sie ihren Namen hatte. Und Herr Ardhenon… ich denke, er war einfach… enttäuscht. Er war immer ein ergebener Diener des Hauses der Truchsessen gewesen, und er hatte die heimliche Hoffnung in seinem Herzen genährt, eine engere Verbindung zwischen den beiden Familien zu schaffen, vielleicht, indem er sie einem von Herrn Denethors Söhnen zur Frau gab. Aber mein Lämmchen war bei dem bloßen Gedanken daran außer sich vor Entsetzen, und Maedhron hat sie immer verteidigt. Die Zeiten wurden düsterer, Herr Boromir brach nach Bruchtal auf und kam nie zurück, und dann fiel Maedhron auf den Pelennorfeldern. Das und das schreckliche Ende von Herrn Denethor war ein schwerer Schlag für Herrn Ardhenon, und er entschloss sich, zurück zu treten. Im Gegensatz zu ihrem Bruder hatte meine Herrin ein ehrliches Interesse an den Schätzen und Juwelen gezeigt, die die Familie seit Hunderten von Jahren bewahrte. ,Dies ist die einzige Gelegenheit, die ich habe, mich als nützlich zu erweisen,’ sagte sie einmal zu mir, ,jetzt, da Maedhron seine Erwartungen nicht mehr erfüllen kann.’”

Eine Blume im Keller. Ein Vogel, seiner Stimme beraubt. Arwen verspürte einen plötzlichen kalten Schauder, heimlich schockiert darüber, wie gut Orohers Vergleich mit den schmerzhaften Tatsachen übereinstimmte.

„Und auf diese Weise wurde sie in die heimliche Verschwörung zur Ermordung des Königs verwickelt?” fragte sie mit gesenkter Stimme. „Weil sie ihres Vaters Erwartungen erfüllen wollte?”

„Oh nein, Eure Majestät, nein…” Die Amme erbleichte, als sie sich plötzlich wieder der Gefahr bewusst wurde, in der ihre Herrin schwebte. „Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte! Eru hilf, ihre Mutter hat sie gelehrt, Gut und Böse zu unterscheiden, und sie ist eine feine Edeldame mit sanftem Herzen… sie würde niemals jemandem ein Leid zufügen! Sie… sie wollte doch bloß ihrem Vater gehorchen! Sie hatte keine Wahl! Ihr kanntet ihn nicht!”

Ich habe den Verdacht, dass sie schlicht und einfach nicht fähig war, sich ihm zu widersetzen, Estel.

Ihre eigenen Worte, widergespiegelt in der alten Frau vor ihr. Arwen seufzte.

„Mir scheint, als würde ich Herrn Ardhenon nun kennen lernen,” sagte sie, „und je mehr ich in letzter Zeit über ihn erfahre, desto weniger gefällt mir, was ich höre. Versucht Euch zu beruhigen, Eilinel. Ihr solltet auf die Weisheit Eures Königs vertrauen.”

Mit einem letzten Blick auf das weiße, erschöpfte Gesicht der bewusstlosen jungen Frau verließ sie das Zimmer und ging den langen Korridor zurück. Oroher wartete am Eingang des Flügels auf sie, die hochgewachsene Wache neben sich… und noch jemand anderen, der viel kleiner war. Die Königin erkannte den Ringträger und begrüßte ihn mit einem warmen Lächeln.

„Frodo! Was tust du denn hier?”

„Oh… ich halte natürlich Sam davon ab, aus seinem Bett zu springen. Heute Morgen wurden seine Verbände gewechselt, und diese mutige Ioreth hatte die undankbare Aufgabe, ihm mitzuteilen, dass er noch für einen weiteren Tag nicht aufstehen darf. Dann erschien der Kräutermeister der Häuser und brachte einen Tee, den zu trinken sich Sam nach dem allerersten Schluck standhaft weigerte. Die alte Dame fuhr den Kräutermeister an und befahl ihm, etwas zu bringen, das besser schmeckt, aber das zweite Gebräu war genauso grauenhaft wie das erste.”

Er grinste vergnügt.

„Das war die poetischste und befriedigendste Rache, die ich mir vorstellen kann… nach all diesen bitteren Kräutertränken, die mir in den unwilligen Mund gegossen wurden, so lange ich in den Häusern lag, und am allerhäufigsten durch Sam. Er versuchte, noch länger zu streiten, aber Ioreth ersäufte ihn in einer Flut von Worten und blieb siegreich.”

Der Hobbit schüttelte den Kopf; offenbar kostete er die Erinnerung noch immer aus.

„Aber die Finger heilen endlich, obwohl er sich ständig darüber beklagt, dass die Wunden jucken.”

„Solch eine tapfere Seele!” Arwen lachte. „Sein Zimmer ist doch im gegenüber liegenden Flügel, oder nicht?”

Sie bemerkte den blitzschnellen Austausch von Blicken zwischen Oroher und Frodo sehr wohl. Frodo gab einen kleinen Seufzer von sich und sah ihr in die Augen.

„Ich bin her gekommen, um Frau Artanis zu sehen.” sagte er ruhig.

„Oh?” Arwen erwiderte den Blick scharf und forschend. „Weiß Estel davon?”

„Nun…” Frodo zögerte. „Ich war nicht sicher, ob er zustimmen würde, also habe ich beschlossen, ihn lieber gar nicht erst zu fragen.”

„Sehr gerissen,” gab Arwen trocken zurück. „Wärst du so gut, mir zu sagen, wieso du die Dame besuchen möchtest?”

„Wieso ich die Dame die ganze letzte Woche über besucht habe.” sagte Frodo. „Zuerst kam ich, weil Oroher mich darum bat.”

Oroher nickte. „Man sagte mir, dass ein bestimmtes Gespräch mit dem Ringträger dafür sorgte, dass Frau Artanis ihre Meinung änderte und Fürst Faramir dabei half, Meister Gamdschie zu retten – was die schwere Wunde zur Folge hatte, die ich heilen soll. Und nachdem sie zum ersten Mal hier das Bewusstsein wiedererlangte, war sie in großer Qual und Verzweiflung. Ich habe sie nicht nur deswegen mit Mohnsirup betäubt, um die Schmerzen zu lindern, sondern auch, um sie davon abzuhalten, die Strafe, die sie erwartet, in die eigenen Hände zu nehmen.”

Die Königin runzelte die Stirn.

„Wollt Ihr mir damit sagen, dass sie versucht hat, sich umzubringen?”

„Sie besitzt weder die Möglichkeit noch die Mittel,” erwiderte Oroher gelassen, „aber auch nur deswegen, weil ich dafür gesorgt habe. Es hätte wohl geschehen können… und es mag noch immer geschehen, wenn wir keinen Weg finden, das zu heilen, was sie von innen her auffrisst.”

Arwens Stirnrunzeln vertiefte sich.

„Erklärt mir das.”

„Reue und Scham,” warf Frodo ein; seine Stimme klang leicht angespannt. „Die Dame wurde als Edelfrau erzogen, um denen zu gehorchen und zu dienen, die das Reich regieren. Aber sie hat nie eine andere Treue gelernt als die zu ihrem Vater … ihren Vater, für den sie nicht mehr war als ein bloßer Schatten, der neben dem Glanz ihres Bruders beinahe verschwand. Und Ardhenon lehrte sie von Kindesbeinen an, dass nur die Truchsessen die wahren Herrscher von Gondor seien, Als er entschied, sie zu benutzen, hatte sie nicht die Kraft, ihm zu widerstehen.”

„Wie das?”

„Weil sie nach Nähe hungerte,” sagte Frodo langsam. „Weil dieser gefährliche Akt des Gehorsams ihr die Möglichkeit bot, geschätzt zu werden. Sie wusste nicht, dass sie nichts anderes war als ein williges Werkzeug… ihr verzweifeltes Bedürfnis nach der Liebe ihres Vaters gestattet ihr nicht, klar zu sehen.”

Wieder ein Echo der Worte, die sie früher an diesem Tag zu ihrem Gatten gesagt hatte.

„Offenbar siehst du die Dinge klar genug.” entgegnete Arwen.

„Weil ich weiß, was sie quält,” gab Frodo zurück; seine Stimme hatte einen seltsam brüsken Ton, „und besser, als ich möchte, das könnt Ihr mir glauben.”

Er wandte sich ab und für einen Moment herrschte schmerzhafte Stille. Arwen spürte ihren eigenen, schweren Herzschlag und sah, wie die vernarbte Hand des Hobbits sich so fest um den uralten Edelstein schloss, den sie ihm gegeben hatte, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Endlich räusperte sie sich und sprach.

„Nun denn, Frodo Beutlin aus dem Auenland… du bist wahrhaftig ein starker Fürsprecher gewesen. Wenn du zu entscheiden hättest – was wäre dein Urteil?”

Frodo sah sie an; sein Gesicht war wachsam und gleichzeitig erfüllt von tiefer Gewissheit.

„Mein Urteil wäre Heilung, nicht Strafe,” antwortete er „Ich erinnere mich an jene Unterhaltung mit ihr, als wir noch nicht wussten, was mit Sam geschehen war. Sie erzählte mir vom südlichen Meer, wo man die kostbarsten Perlen findet, und ich konnte ihre tiefe Sehnsucht fühlen, den Ozean zu sehen. Aber sie sagte mir, sie hätte ihn in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Lebennin – ist das weit weg von der Küste?”

„Keineswegs,” sagte Arwen, „die größte Stadt von Lebennin ist Gondors ältester Hafen, Pelargir. Man braucht etwas eineinhalb Tage zu Pferde, um von Minas Tirith dorthin zu gelangen – und Estel war sogar noch schneller, als er an Bord der Korsarenschiffe zur Schlacht auf den Pelennorfeldern kam. Vom Familiensitz des Hauses von Lebennin sollte es eine weit kürzere Reise sein, nur ein paar Stunden.” Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der so nahe an der Küste lebt, die See noch nie gesehen hat!”

„Und doch ist es der Fall,” sagte Frodo, „Was sagt Euch das über ihren Vater und den Platz seiner Tochter in seinem Herzen, dass er ihr selbst eine so einfache Erfüllung ihrer Träume verweigert hat?”

Arwen schwieg eine Weile.

„Genügend, nehme ich an.” entgegnete sie endlich. „Was für eine Schande!”

Frodo lächelte.

„Es liegt in Eurer Hand – und in der Hand von Aragorn – sie zu befreien. Vielleicht ist eine Reise an die Küste der erste Schritt zu ihrer Heilung… und ein klares Zeichen für sie, dass es so etwas wie Freundlichkeit gibt, wie Verständnis und Gnade.” Erneut veränderte sich sein Ton; er war jetzt nachdenklich und seltsam abwesend. „Das Meer muss wunderschön sein. Das war es immer – wenigstens in meinen Träumen. Und es hat eine Stimme… wie der tiefe, gleichmäßige Atem eines Schläfers. Eines Tages würde ich es gern selbst sehen.” Blaue und graue Augen trafen sich für einen langen Blick, und er lächelte leicht. „Selbst wenn ich niemals an Bord eines Schiffes gehen sollte.”

Er verneigte sich tief, die Hand noch immer lose um ihr Geschenk gelegt, dann wandte er sich um, trat hinaus in den Garten und verschwand zwischen den duftenden Reihen der Kräuterbeete. Arwen folgte der kleinen Gestalt mit den Augen. Mithrandir hat die Wahrheit gesagt. Hobbits sind in der Tat erstaunliche Geschöpfe, dachte sie, aber dieser ist der Erstaunlichste von allen.

*****

Drei Tage später verließ Samweis Gamdschie die Häuser der Heilung und kehrte zu den anderen Hobbits zurück, aber nicht für lange; die Vorbereitungen für ihre Heimkehr waren fast abgeschlossen. Mitte Juli brach eine große Reisegesellschaft von Minas Tirith auf, eingeschlossen den König und die Königin, viele vom Schönen Volk und das Heer der Rohirrim, eine beeindruckende Ehrenwache für den gefallenen Théoden. Als die Jubelrufe abgeebbt und die Leute nach Hause gegangen waren, erschien ein Bote in Artanis’ Krankenzimmer und überreichte der Dame eine versiegelte Pergamentrolle.

Sie öffnete sie mit zitternden Händen. Es war ein Erlass des Königs.

Ich, Aragorn, habe den Wunsch, der Herrin Artanis von Lebennin für ihre Dienste als Hüterin der Juwelen zu danken, und für ihre selbstlose, treuliche Hilfe in einem Augenblick grosser Gefahr und tödlicher Bedrohung für ihren Herrscher. Es ist mein Wunsch, dass sie Erholung und Gesundheit am Meer finden möge; für die Dauer von drei Monaten wird sie bei Fürst Imrahil in Dol Amroth zu Gast sein. Dann mag sie nach Minas Tirith zurück kehren und ihre Pflichten wieder aufnehmen, oder ihr Leben als Herrin des Hauses von Lebennin führen, wo immer sie es wünscht.

Das Pergament fiel auf die Bettdecke; Artanis vergrub das Gesicht in den Händen. Sie zitterte in erschöpfter Fassungslosigkeit, und zum ersten Mal vergoss sie Tränen der Hoffnung und der ungläubigen Freude.

Ihr war vergeben.

Und sie würde das Meer sehen.


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