Hüterin der Juwelen (Keeper of the Jewels)
von Cúthalion


Kapitel 8
Ein Schwert im Kerker

Er war wieder in Mordor. Die scharfkantigen Felsen bebten unter seinem Leib, die Luft war schwer von Schwefel und versengte ihm bei jedem mühevollen Atemzug die Lungen. Hinter ihm brüllte der sterbende Berg seine sinnlose Wut in einen geschwärzten Himmel, und der Rauch sorgte dafür, dass er sich in einem endlosen Hustenanfall krümmte. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, einen dumpfen Schmerz in der Brust. Wo war Herr Frodo…?

Sam stöhnte.

In einem kleinen, klaren Winkel seines umwölkten Geistes wusste er immer noch, dass dies nicht Mordor war. Er wusste, er war allein, mit einem Handgelenk an die Wand eines dunklen, schrecklichen Ortes gekettet. Herr Frodo war nirgendwo in der Nähe (jedenfalls nahm er das an, denn er hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, wo um Himmels Willen seine Entführer ihn hingebracht hatten), und er lag in diesem unbekannten Kerker, von seinen zwei Wachhunden beobachtet und von diesem großen, beängstigenden Kerl mit der Adlernase und den weißen Haaren.

Er wandte den Kopf in Richtung des Kruges, den der Grinser ihm früher an diesem Tag gebracht hatte. Mit dem gefesselten Arm konnte er ihn nicht erreichen, aber er konnte wenigstens mit der freien Hand einen Versuch machen. In gewisser Weise war er froh, dass die Kerze schon vor Stunden ausgegangen war, und dass er in der fast völligen Dunkelheit des Raumes kaum etwas sehen konnte. Seine verletzten Finger waren ganz und gar kein angenehmer Anblick. Die Glieder an Ring- und Mittelfinger waren zu doppelter Größe angeschwollen und sahen aus wie prall gestopfte, rote Würste. Er konnte sie weder beugen noch strecken, ohne ein elendes, qualvolles Wimmern von sich zu geben, und die geringste Berührung des entzündeten Fleisches sorgte dafür, dass sich ihm der Kopf drehte, erfüllt von einem trägen, fiebrigen Nebel. Er Kroch auf den Krug zu, den angeketteten Arm in einem schmerzhaften Winkel gedehnt, und dann berührte er das Tongefäß.

Es fühlte sich an, als würde eine weißglühende Klinge bis auf die Knochen in seine Finger schneiden; er fiel flach auf das Gesicht und knirschte in hilfloser Pein mit den Zähnen. Er wollte nicht um Hilfe schreien, er wollte nicht, dass dieser weißhaarige Bursche in den Raum kam, dass er sich über ihn beugte und den zwei anderen befahl, ihm endlich den Hals umzudrehen. Weit entfernt hörte er, wie der Krug umkippte; kühles Wasser sickerte über seine pochende Hand und bescherte ihm eine kurze, flüchtige Erleichterung… aber eine verzweifelte, kleine Stimme in dem klaren Winkel seines Geistes flüsterte, dass jetzt nichts mehr übrig war, womit er seinen Durst stillen konnte, und dass weder der Grinser noch der Pfeifer sein Flehen erhören würden, wenn er sie bat, ihm beizustehen. Mit einem Flackern schwächlicher Überraschung begriff er, dass er alle Hoffnung verloren hatte… hier, nach dem Ende des Krieges, nach einer kurzen, trügerischen Zeit der Heilung und neu gefundenen Freude. Nicht Mordor, nicht der Schicksalsberg… dies war seine finsterste Stunde.

Sam schloss die Augen. Er bebte von Kopf bis Fuß, und sein hart bedrängtes Bewusstsein schwamm einmal mehr davon wie ein ruderloses Boot auf einem raschen Strom.

Wieder war es dunkel, aber nicht die Dunkelheit von Rauch und Asche. Ein kalter, gewaltiger Berg türmte sich über ihm auf, riesige Höhlen und gewundene Tunnel. Den ganzen Tag über waren die Schritte der Gefährten in dem Grab widergehallt, das einst ein zwergisches Wunderwerk gewesen war, und er trieb aus den Tiefen eines unruhigen Schlafes in die ewige Dunkelheit von Khazad-Dûm hinein…

… als sich eine warme Hand auf seine Schulter legte und ihn sanft wach rüttelte.

Sam riss die Augen auf und versuchte, sich aufzusetzen; instinktiv schützte er mit dem heilen Arm seinen Kopf. Die Kette rasselte laut, und dann hörte er einen scharfen, unterdrückten Fluch. Er sank nach hinten, aber bevor sein Körper zu Boden fallen konnte, wurde er von starken Armen aufgefangen. Er blinzelte durch den Nebel des Fiebers, während ein vertrautes Gesicht in sein Blickfeld trieb. Er gab ihm den ersten Namen, der ihm in den Sinn kam… der selbe Name, den er benutzt hatte, als er diesem Mann zum ersten Mal begegnete, vor einer ganzen Ewigkeit in Bree.

„Streicher…?”

*****

Er musste wieder ohnmächtig geworden sein; als er langsam wieder zu sich kam, saß er an die Wand gelehnt, in etwas gewickelt, das warm und sauber war. Eine Fackel brannte in einem der Eisenhalter, und der König von Gondor kniete neben ihm und versuchte grimmig, die Kette aus ihrer Verankerung in der Wand zu lösen.

Sam räusperte sich.

„Es… es tut mir Leid, Aragorn,” krächzte er. „Ich… ich weiß nicht, wo der Schlüssel ist. Ich glaub nicht, dass der Grinser oder der Pfeifer ihn noch haben – der alte Bursche hat ihn genommen, als er kam.”

„Der Grinser und der Pfeifer?” Aragorn wandte sich von seiner mühseligen Aufgabe ab und streckte die Hand aus, um seine Stirn zu fühlen. Versehentlich streifte er die verletzte Hand und Sam gab einen kleinen Schmerzensschrei von sich. Der König schaute auf die geröteten, angeschwollenen Finger hinunter, notdürftig von den schmuddeligen Überresten des Verbandes bedeckt, den er selbst vor drei Tagen angelegt hatte. Seine Lippen bildeten eine harte, schmale Linie.

„Sie sind ziemlich grob mit dir umgesprungen, nicht wahr? “ sagte er. Im Gegensatz zu seiner sanften Berührung war seine Stimme ein dunkles Knurren. „Und was war das mit dem alten Burschen?”

„Er… er kam gestern.” brachte Sam heraus. „Die beiden Männer, die mich her geschleppt haben, die haben Angst vor ihm. Seitdem er da ist, sprechen sie in einem leisen, ängstlichen Ton, als hätte sie jemand zusammen mit einem Wolf eingesperrt. Sie nennen ihn ,Herr’, aber seinen Namen hab ich noch nicht gehört. Tut mir Leid.” Er hielt inne, als ein plötzlicher Schauder ihn überlief und seine Zähne zum Klappern brachte.

„Samweis Gamdschie, würdest du bitte damit aufhören, dich zu entschuldigen?” Aragorn warf ihm einen kurzen Blick zu, während er noch immer an der Kette herum werkelte. „Hattest du die Gelegenheit, ihn zu sehen?”

“Er ist groß, und er halt sich so gerade wie ein Speer,” sagte Sam und zog die warmen Stofffalten enger um sich zusammen. Zum ersten Mal bemerkte er, dass es Aragorns Mantel war. „Er hat langes, weißes Haar und eine Stimme, die einem Angst macht… wie jemand, der daran gewöhnt ist, Befehle zu geben, und der niemals glauben würde, dass jemand sich traut, nicht zu gehorchen.”

Plötzlich erstarrte er vor Schrecken.

„Wo… wo sind sie? Und wie um Himmels Willen bist du hier hereingekommen?” Er wandte den Kopf, starrte zu den Gittern hinüber und gaffte mit offenem Mund, betäubt und verblüfft. Selbst in seiner Erschöpfung und Verwirrung registrierte er ein paar bemerkenswerte Einzelheiten. Die Tür zum Nebenraum stand offen. Dort draußen brannte eine zweite Fackel, aber alles, was er sehen konnte, waren zwei sauber gefesselte, bestiefelte Füße. Der Körper, der zu diesen Füßen gehörte, lag offenbar auf den Boden, und er regte sich nicht.

„Wer… wer von den beiden…”

„Nicht der zweifelhafte Herr, vor dem deine Entführer sich fürchten,” bemerkte Aragorn gedankenvoll. „Er ist zu jung, und sein Haar ist braun. Dankenswerterweise habe ich wenigstens den Schlüssel für die Gittertür in seinen Taschen gefunden, oder wir hätten viel mehr Schwierigkeiten. Ich kann dir allerdings nicht sagen, ob das der Grinser oder der Pfeifer ist; er hatte keine Gelegenheit, etwas zu sagen.”

„Hast du ihn umgebracht?” wisperte Sam.

„Nein, mein Freund, das habe ich nicht.” entgegnete der König trocken, „Ich bin es müde, im Dunkeln zu tappen, und er sollte mir besser ein paar Fragen beantworten, sobald er wieder wach ist.”

„Na, das ist was, das würde ich jederzeit unterschreiben,” stimmte Sam aus tiefstem Herzen zu. „Ich hab die Dunkelheit auch satt.” Aragorn gab ein bellendes Lachen von sich, das sich plötzlich in ein kurzes, angestrengtes Stöhnen verwandelte. Im allernächsten Moment stolperte er rückwärts, als die Kette aus der Wand gerissen wurde und über den Boden peitschte wie eine rostige, eiserne Schlange.

„Na endlich.” Sam wurde hochgehoben, erst auf die Füße und dann auf die Arme des Königs. „Und versuch jetzt nicht, den Helden zu spielen, Sam, indem du mir erzählst, dass du imstande bist zu laufen, denn ich kann dir versichern, das ist nicht der Fall. Sobald wir hier weg sind, wirst du die Häuser der Heilung für wenigstens eine Woche nicht mehr verlassen.”

„Was immer du sagst,” erwiderte Sam mit dem schwachen Versuch eines Lächelns. „Aber was ist mit den beiden anderen?” Er wurde über die Schwelle seines Kerkers getragen und hatte die erste Gelegenheit, einen Blick auf das Gesicht des Mannes zu werfen, der auf dem Boden lag. Es war der Grinser. „Der Pfeifer muss noch irgendwo sein, und sein Herr auch.”

„Aber sicher sind sie das,” erwiderte Aragorn und nahm einen langen, kräftigen Speer von der Wand. Er verließ den Raum, schloss die Tür und verbarrikadierte sie von außen, indem er den Speer zwischen den Wänden verkeilte. „Den längsten Teil der letzten zwei Stunden habe ich mit ihnen Versteck gespielt, und ich habe mein Bestes getan, sie in die Irre zu führen. Ich nehme an, du hast keine Ahnung, wo du bist, mein Freund.. aber dies sind die Tunnel unterhalb von Osgiliath, der uralten Zitadelle der Sterne, und deine Entführer sind nicht die Einzigen, die sie gut kennen.”

„Osgiliath?” schnaufte Sam. „Dann haben sie mich also direkt unter deiner Nase eingesperrt! Aber… aber ich dachte, du wärst nie in Gondor gewesen, bevor du König geworden bist!”

„Nicht als Aragorn.” Der frühere Waldläufer lächelte grimmig. „Als Ecthelion, der Großvater von Faramir und Boromir, noch immer das Reich der Menschen regierte, stand ich für eine gewisse Spanne Zeit in seinen Diensten.”

„Also, das ist ein Augenöffner, aber wirklich! – Wie hast du dich damals genannt?” Sam schüttelte verwundert den Kopf und bereute die Bewegung sofort. Es fühlte sich an, als würde sein Hirn von der linken Seite seines Schädels auf die rechte und wieder zurück schwappen; beinahe hätte er sich übergeben. Aragorn blickte auf ihn nieder und sein harter Blick wurde sichtlich weicher.

„Eines Tages erzähle ich dir mehr,” sagte er sanft, „du hast schon zu viele von meinen Namen gehört, um sie alle im Kopf zu behalten, und das Letzte, was du jetzt brauchst, ist noch einer mehr. Erst lass mich dich hier heraus bringen, und dann kümmern wir uns um neue Namen, alte Geschichten, unbekannte Feinde und alles andere.”

Sams Wange sank gegen Aragorns Brust, und für ein paar friedevolle Augenblicke gab es nichts anderes als die schnellen, gleichmäßigen Schritte des Mannes, der gekommen war, ihn zu finden. Sam verschwendete keinen Gedanken an die überwältigende Tatsache, dass der König von Gondor Frau, Reich, Untertanen und Pflicht hinter sich gelassen hatte, um zu seiner Rettung herbei zu eilen. Scham, Verlegenheit und schierer Unglauben würden sicherlich später kommen (und die Vorstellung von all dem, was der Ohm zu der ganzen Sache zu sagen haben mochte). In diesem Moment war er einfach nur dankbar.

Plötzlich blieb Aragorn stehen.

Sam hob den Kopf und starrte in die schwache, graue Helligkeit des Tunnels hinein. Licht sickerte durch kleine Risse in der Decke nach innen, aber es war das bleiche, silbrige Licht des Mondes.

„Was…?”

„Schsch.” Eine große, warme Hand wurde kurz auf seinen Mund gepresst. „Ich fürchte, wir bekommen Gesellschaft.”

„D-du meinst, die kommen zurück?” Sam war bestürzt über den Ton bebender Verzweiflung in seiner eigenen Stimme. „Der… der Pfeifer und der…”

„… der alte Bursche, in der Tat.” erwiderte Aragorn und seufzte; seine Stimme war kaum mehr als ein leises Murmeln. „Es war offenbar nicht halb so leicht, ihn hinter’s Licht zu führen, wie ich gedacht habe. Wer immer er auch sein mag, er ist ein schlauer, alter Fuchs. Ich war sicher, ich hätte uns etwas mehr Zeit erkauft.”

„Vielleicht sind das ja deine Männer.” flüsterte Sam hoffnungsvoll.

„Das ist kaum möglich, mein Freund.” Der König drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren. „Ich habe keine Krieger mitgebracht.”

„Du bist alleine hier?” Jetzt spürte Sam, wie die Panik immer näher kam, ein eisiger Wasserfall der Furcht, die es ihm schwer machte, zu atmen. „Aber… aber wieso…”

„Weil deine Entführer darauf bestanden haben, dass ich das tue.” Aragorns Schritte wurden schneller, und Sam begriff entsetzt, dass er dazu verdammt war, an den Ort zurück zu kehren, den er gehofft hatte nie wieder zu sehen. „Ich wollte dich nicht in Gefahr bringen.”

Sams Zähne fingen wieder an zu klappern und er schluckte. „Also hast du statt dessen lieber dich in Gefahr gebracht,” stöhnte er, während Aragorn den Speer von dort entfernte, wo er ihn zwischen die Wände gerammt hatte, um die Tür zu blockieren. „Wir werden in diesem lausigen Loch in der Falle sitzen wie zwei verwundete Dachse!”

Zu seiner Verblüffung lächelte Aragorn ihm zu, ein Lächeln, so strahlend und beängstigend wie eine blank gezogene Klinge. „Das sind sehr gefährliche Geschöpfe, Sam.” sagte er. „Ein kluger Jagdhund denkt üblicherweise zweimal nach, bevor er sich in den Bau eines verwundeten Dachses hinein wagt.”

Er öffnete die Tür zum Kerker. Im unruhigen Licht der Fackeln lag der Grinser regungslos auf dem Boden, offenbar noch immer bewusstlos. Aragorn stieg über ihn hinweg, setzte Sam ab und wickelte ihn wieder in seinen Mantel. Sam fühlte die Gitterstäbe im Rücken und war heimlich dankbar, dass Aragorn irgendwie seine heftige Abneigung verstanden hatte, wieder in die Nähe dieser Wand und dieser Kette zu kommen. Er streckte die gesunde Hand aus und berührte den König am Bein.

„Kannst du nicht gehen und dich in Sicherheit bringen, bevor sie hier sind?” fragte er und rang durch seine zusammengeschnürte Kehle nach Luft. „Einen frisch gebackenen König für einen dusseligen Hobbit zu opfern, ist eine schreckliche Verschwendung, würde ich sagen.” Er versuchte zu lächeln, was ihm kläglich misslang.

Aragorn beugte sich zu ihm hinunter und legte ihm eine feste Hand auf die Schulter. Für einen Moment wurde die Kälte in Sams Gliedern durch Wärme und ein Gefühl des Friedens ersetzt. Kraft strömte durch die Handfläche und in sein Fleisch und minderte das Entsetzen und die Angst, die auf seinem Herzen lastete.

“Ich vermute, dass wir jede ,Dusseligkeit’ dieses besonderen Hobbits dem Fieber zuschreiben können,” sagte er. “Und nein, Sam, ich werde nicht gehen. Wir stehen das gemeinsam durch, und morgen sind wir wieder in der Weißen Stadt. Vertraust du mir?”

Es gab nur eine Antwort auf diese Frage.

„Klar tu ich das.” flüsterte Sam.

Im nächsten Moment waren von draußen rasche Schritte und eine zornig erhobene Stimme zu hören. Aragorn drehte sich mit einer fließenden Bewegung herum und plötzlich blitzte Andúril im Licht des Feuers, hoch erhoben in seiner rechten Hand. Die Tür öffnete sich und der große, alte Mann mit den weißen Haaren kam zum Vorschein, sein Gesicht eine Maske bösartigen Triumphes. Sam spürte, wie der ihn abschirmende Körper Aragorns sich versteifte, aber als er sprach, war seine Stimme so ruhig und kalt wie Eis.

„Der Fürst von Lebennin!” sagte er. „Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wer wohl derjenige sein könnte, der einen solch verdammenswerten Verrat begeht. Dies ist wahrhaftig der schändliche Untergang eines edlen Hauses.”

„Sprecht Ihr mir nicht von Adel!” schnappte der alte Mann. „Ihr habt Euch in Gondors Reich eingeschlichen, versteckt hinter dem Rücken eines übel beleumundeten Zaubers, und gemeinsame Sache mit merkwürdigem Volk gemacht! Den größten Teil Eures Lebens seid Ihr durch die Wälder des Nordens gekrochen wie ein wildes Tier, Ihr seid in Lumpen gewandert und habt im Schlamm geschlafen, und Ihr – Ihr! – wagt es, ein Königtum für Euch zu beanspruchen, das so alt ist wie Númenor? Ihr habt dem Truchsessen den Thron geraubt!”

„Ihr redet irre,” entgegnete der König brüsk. „Denethor hatte jedes Recht auf seine Herrschaft verloren, als er dem Wahnsinn verfiel und sein eigenes Volk in Augenblick der größten Bedrohung im Stich ließ. Er versuchte, seinen eigenen Sohn bei lebendigem Leibe zu verbrennen… und es scheint, als sei das nicht der einzige Fall von Wahnsinn in Minas Tirith.”

Der Fürst gab ein Fauchen von sich, das Sam an eine wütende Katze erinnerte und trat vor. Er blieb jäh stehen, als die Klinge von Andúril direkt vor seinem Gesicht einen flammenden Kreis in der Luft beschrieb.

„Nur noch einen Schritt näher,” sagte Aragorn mit einem samtweichen Flüstern, „und Ihr werdet sterben. Vielleicht wäre es ohnehin weit besser für Euch und Eure Familie, wenn ich der Sache ein Ende mache, bevor sie bekannt wird und Eure bösen Taten vor aller Augen sichtbar sind.”

Aus dem Augenwinkel entdeckte Sam eine Bewegung direkt vor dem König, aber sie ging weder von dem Fürsten aus noch vom Pfeifer (der wahrscheinlich noch immer im Tunnel hinter seinem Herrn wartete). Der Mann, der auf dem Boden lag, streckte die Hand nach Aragorns Fuß aus – so vorsichtig und unauffällig, dass Sam zweimal hinschauen musste, um zu begreifen, was er sah. Die Hände des Grinsers waren frei, alle beide, genau wie seine Beine, und in seiner Linken hielt er einen dünnen, schimmernden Dolch. Ihre Augen begegneten sich und Sam öffnete den Mund – aber was herauskam, war nicht der Warnschrei, den er sich erhofft hatte, sondern kaum mehr als ein hohes, dünnes Quäken.

Aragorn hörte es trotzdem, und es rettete ihm das Leben. Er schaute nach unten und trat gerade rechtzeitig zurück, dass die bösartige Klinge seinen Bauch verfehlte. Er schwang sein Schwert. Der Arm des Grinsers wurde von der Schulter bis hinunter zum Handgelenk aufgeschlitzt. Aber es gelang ihm trotzdem, wenigstens teilweise sein Ziel zu erreichen. Das Messer grub sich in die harten Muskeln direkt unterhalb von des Königs Knie.

Sam hörte, wie er scharf nach Luft rang, und dann sah er, wie Blut über die weichen Lederstiefel vor seinen Augen hinunter rann. Aragorn brachte es fertig, den Dolch heraus zu ziehen und mit dem Fuß beiseite zu treten; er schlitterte in die Dunkelheit davon, an der wimmernden Gestalt des Grinsers vorbei, der zusammen gekrümmt auf dem Boden lag und sich den blutüberströmten Arm hielt. Eine kurze, warnende Geste mit Andúril hielt den Fürsten davon ab näher zu kommen, aber das Gesicht des alten Mannes zeigte keine Furcht, sondern ein triumphierendes Grinsen. Plötzlich gab Aragorns verwundetes Bein unter ihm nach. Die Verletzung war geringfügig, wenigstens für einen erfahrenen Krieger wie Aragorn, aber da war noch mehr am Werk als nur der Stahl der Klinge. Unfähig, sich aufrecht zu halten und durch das Schwert behindert, sank Aragorn nach unten, bis er auf dem Boden saß; noch immer schirmte er Sams Körper vor seinen Feinden ab.

Der Fürst lachte, trat beiseite und machte dem Pfeifer den Weg frei.

„Töte ihn.” sagte er. „Vielleicht werde ich den früheren Ruhm der Truchsessen niemals wiederherstellen, aber wenigstens ist dies das Ende des Thronräubers. Töte ihn – jetzt!”

Endlich fand Sam seine Stimme wieder.

„Mach das ja nicht, du gemeiner Schweinehund!” schrie er. Die Welt drehte sich rings um ihn her in einem irrwitzigen, purpurnen Nebel. „Rühr ihn ja nicht an!”

Der Fürst spähte über die Schulter des Königs hinweg, während er gleichzeitig einen vorsichtigen Abstand zu Andúrils Klinge wahrte. Er grinste.

„Ah – und hier haben wir das kleine Anhängsel des Waldläufers,” zischte er. „Ich hatte mich schon gefragt, wo es hingeraten ist. Töte den Mann und schneide dem Halbling die Kehle durch. Auf diese Weise sind wir sie beide los.”

Der Pfeifer zog ein langes Messer aus dem Gürtel. Sam schloss die Augen und wartete auf das Ende. _________________________________________________________________________

*Nach der Erzählung der Jahre diente Aragorn zwischen 2957 und 2980 sowohl Thengel von Rohan und Ecthelion von Gondor. Während dieser Zeit nannte er sich Thorongil.


Top          Nächstes Kapitel          Stories          Home