Honig und Kerzen
von MayMorgan

Eindrücke aus Bruchtal

Bilbo erzählt...

Wie schmeichelnd dringen die Düfte nach Essen und Wein in meine Nase, während wir uns auf dem gewundenen Pfad jenem seltsamen Haus am Ende des Tales nähern. Das Aroma von zartem Fleisch mit Rosmarin, gebackenem Fenchel und Traubenwein mischt sich unter Sommergras und Flussblumenduft. Nach Tagen auf dem Rücken eines Ponys in der Wildnis erscheint mir dieses Fleckchen in Mittelerde als schönster Platz an den ein Reisender- besonders ein reisender Hobbit- gelangen kann, mit Ausnahme des Auenlandes natürlich. Gelb leuchtet es aus den zierlichen Fenstern und auch in den bewegten Baumwipfeln erstrahlen die Elbenlaternen. Ja, sie sind schon ein komisches Völkchen, hier, mitten in den rauen Bergen ein so einladendes Haus zu bauen, um das der Fluss rauscht.


Frodo erzählt...

Für einen Augenblick verschwimmt das Tal, das ausgebreitet im Morgendunst vor meinem Fenster liegt. Schwerfällig stütze ich mich auf die Bettkante. Obwohl die Wunde rasch heilt - Herr Elrond ist ein wahrer Meister seiner Kunst - fühle ich mich wie in Watte gewickelt. Nur langsam dringt die Schönheit dieses ruhigen Ortes zu mir vor. Von den Gebirgshöhen wallen Nebelbänke über den Flusslauf zwischen den Fichten. Wie gerne würde ich hier wandern und den Geschichten lauschen, die sich die Elben erzählen. Imladris nennen sie diesen Ort, eine ihrer Zufluchten. Es ist so wunderschön und fremd. Bilbo liebt es. Wie oft hat er mir davon erzählt, damals im Auenland. Das scheint jetzt schon so lange her zu sein...

Aber in diesem Tal fließt alle Zeit anders. Es scheint außerhalb der Welt zu schweben, aber vielleicht tue ich das ja auch...


Aragorn erzählt...

Als ich klein war, gab es für mich keine Welt, keine anderen Länder, nur dieses Tal, das schönste von allen. Jetzt scheinen die Berge nicht mehr so hoch zu sein und das Gras nicht mehr so grün. Zu viele Jahre sind vergangen. Der Rauch meiner Pfeife verweht bläulich im Abendlicht. Zwischen den Bäumen flackern die ersten Feuer auf, über der Talsohle segeln zwei Schwalben. Abendruhe fällt auf Imladris, wo ich zuhause gewesen bin.

Der Rat hat es beschlossen; morgen brechen wir Gefährten auf nach Süden, um den Ringträger zu begleiten. So viele Sorgen geistern mir durch den Kopf, aber an Abenden wie diesem in Elronds Haus fällt es sehr viel leichter zu vergessen. Ich wünschte, ich hätte Bruchtal nie verlassen. Gestern erst habe ich das zu Legolas gesagt. Sein Blick sprach Bände. Aber er ist kein Mensch... niemand, dem die Zeit knapp wird.

Irgendwo erklingt Musik, das erste Lied der kommenden Nacht. Arwen wartet an der Brücke auf mich, wenn die Sterne aufgehen. Ich klopfe meine Pfeife aus und schleiche mich davon in die nebelblaue Dämmerung von Imladris.


Gandalf erzählt...

Die Frische des Morgens birgt schon eine Ahnung des nahenden Winters. Der Wind, der sich von Norden her über den Scharten bricht, trägt bereits den Geruch von Schnee nach Bruchtal.

Vor meinem Sessel glimmt das Feuer; die ganze Nacht hindurch hat es gebrannt, während ich immer wieder unruhig in die Bibliothek lief, Karten und Atlanten studierte und Lexika durchwälzte. Jetzt ist mein Nacken steif und meine Augen sind müde, obwohl ich sie brauchen werden, heute, da unsere Reise ihren Anfang nimmt - und es beginnt noch so viel mehr.

Ich hätte früher kommen sollen; die dämmrigen Hallen in Elronds Haus sind angefüllt mit Schriftrollen und Büchern, die ich hätte lesen können. Ein Quell und Hort des Wissens schlummert hinter den schlichten Mauern und natürlich ist es ein Ort der Zauberei. Als ich nach der Teetasse greife, die Elrond mir bringen ließ, zittert meine Hand. Ich bin übernächtigt. Und alt.

Habe ich alle Urkunden untersucht? Imladris ist ein Ort der Muße, nicht der Arbeit, hat mich Thranduils Sohn gestern belehrt. Ja, die scheinbare Sorglosigkeit der Elben erfüllt dieses Haus und lässt die sterblichen Gäste vergessen, dass das schöne Volk sein eigenes schweres Los zu tragen hat. Sie spüren hier nur die tiefe Sehnsucht der Elben nach allem, was jenseits dieser Welt liegt.


Merry erzählt...

Streicher hat gesagt, er führt uns an einen sicheren Ort. Er hat wohl vergessen zu erwähnen, dass es sich dabei um ein verzaubertes Tal voller Schönheit und Elben handelt.

Jetzt, wo ich auf der offenen Veranda sitze und den süßen Wein und das Honigbrot von Bruchtal kosten darf, kann ich den guten alten Bilbo sehr wohl verstehen. An diesen Platz will jeder zurückkehren. Nach all den schwarzen Reitern und nächtlichen Wanderungen bin ich zufrieden, wenn ich einfach nur den warmen Wind von Süden und das Pfeifenkraut genießen kann- beides gibt es hier in Hülle und Fülle. Gandalf ist auch eingetroffen, müde und erschöpft. Er hat mir gesagt, dass ein Rat stattfinden wird. Streicher sehe ich nur selten; er ist noch seltsamer als sonst. Aber etwas hat dieses Tal an sich, dass uns alle anders werden lässt. Sogar der alte Sam ist wie verwandelt. Vermutlich quält ihn die Sorge um Frodo, aber in Bruchtal ist er sicher. Wie wir alle. Diesem Honigduft kann nichts Böses etwas anhaben.


Sam erzählt...

Ein dicker Teppich verschluckt meine Schritte. Voller merkwürdiger Muster ist er; bunt wie ein Gartenbeet. Die Fäden aus Gold und Silber leuchten über einem dunklen Blau. Es hat die gleiche Farbe wie der Himmel zuhause im Auenland.

Die Tees von Meister Elrond auf meinem Tablett sind dunkelgrün wie Unkraut; sie riechen bitter und schmecken bestimmt auch so. Mein armer Herr Frodo...

Das gelbe Kerzenlicht huscht über die Decken und versteckt sich hinter den Säulen. So gelb und geheimnisvoll hat es geleuchtet, als wir endlich müde, hungrig und voller Sorgen hier ankamen. Es war ein gelber, heller Gruß im Tal, hier, wo wir in Sicherheit sind und die Elben freundlich mit uns sprechen.

Das Zimmer meines lieben Herrn ist voller Sonnenlicht und es ist wunderlich mit Silber eingerichtet wie der Rest dieses Hauses, das Imladris genannt wird.

Ja, Herr, natürlich wollte ich Elben sehen, aber sie sind nicht nur schön; fremd sind sie auch. Dieser Ort ist voll von ihren Liedern, ihrem Zauber und ihrem gelben Licht. Es ist wie ein bunter Traum, in dem sie alle an mir vorbeigeistern, weil ich nur ein Gärtner bin und nicht dazu geschaffen, mit all diesen Fürsten und feinen Herren zu reden, die hier ein und ausgehen. Meine Worte klingen stumpf in diesem Tal, in dem alles so rein ist, so herrlich und strahlend.


Boromir erzählt...

Das also ist Bruchtal, die stolze Elbenzuflucht: Eine zerklüftete Schlucht im Nebelgebirge. Die Sonne steht im Zenit und überflutet den Wiesengrund mit Licht, sodass die Gräser grüner und die Wasser blauer leuchten. Schwalben segeln zwischen den Felsen hin und her. Träume sind es gewesen, die mich in dieses Märchenland geführt haben, also wie könnte dieser Ort etwas anderes sein als ein verzaubertes Tal? Schon riecht man die Feuer der Elben und hört ihre Stimmen in einer unbestimmten Melodie zwischen Reden, Lachen und Singen. In Gondor sieht man sie selten; die schönen Erstgeborenen, sie ziehen sich in ihre Wälder zurück und an Plätze wie diesen, wo der ewige Schnee auf den Berggipfeln strahlt und Wildblumen im Moos blühen. Zwischen den hohen Nadelbäumen riecht es nach dunklem Honig.

Während mein Pferd die schmale Straße von Bruchtal hinuntertrabt fühle ich mich wie auf einem Ausflug, einer Reise, in das ferne Land der Märchen und Lieder, die ich schon längst vergessen zu haben geglaubt hatte.


Legolas erzählt...

Ich habe ihm nicht geglaubt. Ich habe meinem Vater nicht geglaubt, als er mir von dem Zauber und der unirdischen Stille in Imladris erzählte. Doch während ich die Galerie hoch über Elronds Haus entlanggehe und alles vor mir ausgebreitet daliegt; das Tal, von Brombeeren und Heidekraut bedeckt, der rauschende Bruinen, das fallende Laub aus uralten Bäumen; fühle auch ich es - den Frieden von Bruchtal, die Ruhe. Es ist eine Zuflucht, eine Bastion und Freistatt meines Volkes. Unter dem verwaschenen, blassblauen Himmel, der sich im Herbst höher zwischen den zerklüfteten Felsen zu spannen scheint, fegt der Nordwind und trägt die Gerüche von Holzfeuer, trockenem Laub und Gras heran. Bald wird der Schnee kommen, sagte Meister Elrond, der Herr des Hauses. Er ist wie sein Heim - ein wundersames Stück Vergangenheit. Diese Vergangenheit ist es, die sich unseresgleichen in Imladris bemächtigt; sie wartet in den Bibliotheken im goldenen Feuerschein, auf den Wiesen und Auen und in jedem Wort das hier gesprochen wird. Raben fliegen über das Tal hinweg und die Kerzen, die in allen Fenstern stehen flackern im Wind, als ich mich umdrehe und in den dunklen Korridor dieses Hauses trete, das voller Geschichten und Lieder ist.


Pippin erzählt...

Dicke Pelze werden wir brauchen, meinte Herr Elrond, und allerlei Waffen und Honig. Jetzt werden unsere Reisebündel gepackt; die Lager im friedlichen Bruchtal sind flinker abgebrochen als wir hinschauen können. Fast scheint es mir, als wollten die Elben uns loswerden, weil wir ihre Ruhe stören und weil dies nicht mehr ihre Welt und ihre Mission ist. Aber immerhin schicken sie einen Elb mit uns, Legolas, den Sohn des Königs von Düsterwald, was den alten Bilbo sehr erheiterte, ich frage mich warum.

Ich glaube, es ist überaus nützlich, einen Elb dabei zu haben. Nach allem was ich in Imladris, wie sie Bruchtal nennen, über dieses Völkchen gelernt habe, sind sie nicht nur schön, sondern auch sehr klug.

Seit Stunden gehen Legolas und Streicher jetzt schon im Hof zwischen den Bäumen auf und ab und reden leise auf einer fremden Sprache. Zwei alte Freunde, deren Gesten und Worte dieselben geworden sind mit den Jahren. Freunde treffen hier viele zusammen. Bilbo und Frodo sind auf die Galerie verschwunden, Merry und Sam sitzen irgendwo an einem Feuerchen und lauschen den Gedichten und Liedern dieses Tals zwischen den Bergen.


Arwen erzählt...

Verlassen liegt es da, das alte, liebe Haus; das Haus meines Vaters, das Heim der Freude und der Lieder. Leise klingen die Hufe auf dem gewundenen Pfad in der Frühlingsnacht. Schnell strömt das Schmelzwasser von den Gipfeln des Hithaiglin in die Bachläufe, farbenflammend und tauperlend erblühen die Blumen im weichen Gras. Es ist wie jedes Jahr und doch immer neu. Ich sehe nicht zurück und doch weiß ich, wie es daliegt, das Haus hinter der Brücke, die sich über den Bruinen windet, erleuchtet von gelben Kerzen sind seine Fenster und offen seine Tür. Ich kehre nicht mehr heim, nie wieder komme ich zurück in die Hallen meiner Kindertage, wo ich Legolas traf und Aragorn und so viele, die meinen Weg kreuzten. Nein, es ist Zeit, Abschied zu nehmen von Imladris. Leb wohl, kleines, versunkenes Tal meines Vaters, leb wohl meine silberne Harfe und mein Blumenzimmer und meine Halle des Feuers. Mein Pferd läuft schneller in die Nacht hinein und der Ostwind beginnt zu wehen und streicht über mein Gesicht und über Bruchtal, über Imladris.


ENDE


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