Hirtenjul (A Shepherd's Yule)
von Grey Wonderer, übersetzt von Cúthalion
„Schafe! Ich verbringe die Julfeiertage mit einer Herde Schafe! Ich könnte tanzen und trinken und mit Familie und Freunden essen, aber statt dessen stehe ich auf einem Hügel herum und schaue Schafen beim Grasen zu. Ich muss vollkommen verrückt gewesen sein, dass ich mich freiwillig dafür gemeldet habe!“
Er schritt auf und ab, während er sich selbst schalt, die Hände zum Wärmen in die tiefen Taschen seines neuen Mantels geschoben; der Schal bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts, so dass seine Stimme gedämpft klang.
„So bist du halt, Pippin, nicht wahr? Du musst deinen großen Mund aufmachen und die Worte heraus purzeln lassen, selbst wenn du die Sache noch nicht zu Ende gedacht hast.“
Er gab ein leises Knurren von sich, und einer der Schäferhunde spitzte einen Moment lang die Ohren. Als ihm klar wurde, dass es kein wildes Tier gab, das drauf und dran war, die friedliche Herde anzugreifen, entspannte er sich, betrachtete den auf- und ab gehenden Hobbit und legte den Kopf schief.
„Ich muss der größte Dämlack im ganzen Auenland sein! Da bin ich, unbemerkt und vergessen, ich sitze in diesem großen, gemütlichen Armsessel im Studierzimmer von meinem Vater, als ich ganz plötzlich den Mund aufmache und sage---“
*****
„Ich kann sie hüten,“ bot Pippin an, und stand zum ersten Mal während des gesamten Treffens auf den Beinen. „Ich habe keine Kleinen, um die ich mich während der Feiertage kümmern muss, und ich habe die Schafe schon oft genug bewacht.“
Im Raum wurde es still. Es war, als hätte irgendjemand sämtliche Geräusche durch das Schlüsselloch herausgezogen. Jedermann betrachtete den jungen Burschen, den Erben des Thain, diesen dünnen, spitznasigen Fünfundzwanzigjährigen, der den Tag damit zugebracht hatte, in einer Ecke zu hocken und dabei auszusehen, als wäre er zu Tode gelangweilt, während sein Vater im Studierzimmer der Groß-Smials Anliegen abarbeitete. Am letzten Arbeitstag vor dem Julfest waren dem Thain zahlreiche Anliegen vorgetragen worden; es gab viel, worum man sich noch kümmern musste, bevor das neue Jahr begann, und es schien, als ob heute jeder einzelne Hobbit in den Tukländern etwas von dem Thain wollte.
Jetzt war der Junge jedenfalls auf den Beinen und machte ein ungewöhnlich freundliches Angebot. Viele der älteren Hobbits im Raum beäugten den jungen Tuk so aufmerksam, dass der Bursche sich leicht unter ihren Blicken wand, aber er machte keinen Rückzieher. Er betrachtete sie mit großen, grauen Augen und sagte: „Ich wäre froh, die Schafe zu hüten. Irgendjemand muss es schließlich tun, und die meisten von euch haben kleine Kinder.“ Seine Stimme war nur ein ganz klein wenig zittrig, während er sich an diese Gruppe reifer Tuks wandte, und ein paar Hobbits weiter hinten lächelten ein wenig über seinen Mumm. Nicht viele in diesem Alter hatten genug Rückgrat, um in einer derart einschüchternden Gesellschaft das Wort zu ergreifen. Nun wandten sich aller Augen langsam in Richtung Thain, um zu sehen, wie er wohl reagieren würde.
Paladin Tuk, der hinter seinem großen Schreibtisch stand, die Hände auf die abgenutzte Oberfläche gestützt, schaute hinüber zu seinem Jüngsten und runzelte die Stirn. Der Thain hatte eine Bitte der jungen Hirten angesprochen, die sich um die Herden kümmerten, die zu den Groß-Smials gehörten. Die Bitte war dringend, aber der Thain hatte sich gezwungen gesehen, sie abzulehnen. Nun, nach einem Nachmittag völligen Schweigens, gelangweilter Blicke, gelegentlichen Gähnens und einer allgemeinen Rastlosigkeit schien sein Sprössling aufgewacht zu sein.
Paladin Tuk sagte ruhig: „Ist dir klar, was du da anbietest, Peregrin?“
Der Junge wandte sich seinem Vater zu, straffte die Schultern und nickte, bis die Worte aus ihm heraus purzelten wie Murmeln aus einem Stoffbeutel. „Ich versteh's. Ich werde das Julfest oben auf dem Schafhirtenhügel verbringen und die Schafe hüten, damit die Hirten Jul hier in den Groß-Smials mit ihren Kindern und ihren Frauen verbringen können. Ich habe keine Kinder.“ An dieser Stelle räusperte er sich und grinste frech. „Und ganz sicher keine Frau. Ich bin alt genug, dass es mir nicht wirklich etwas ausmacht, Jul zu verpassen. Es ist hauptsächlich ein Fest für die Kleinen, und ich bin kein Kind, weißt du.“ Den letzten Teil sagte er mit etwas mehr Heftigkeit in der Stimme, und er schaute seinen Vater an, als wollte er ihn herausfordern, diese Feststellung zu korrigieren.
Der Thain schien sich immer noch nicht sicher zu sein, also holte der Junge tief Luft und fuhr fort.
„Ich könnte einen Rucksack voller Vorräte und ein Buch oder zwei mitnehmen, und mich für zwei Tage einrichten. Ich wollte ein paar von den Büchern lesen, die Frodo mir immer empfiehlt. Es ist kalt genug, dass ich auf meiner Wache nicht eindöse, und irgendjemand könnte kommen und lang genug übernehmen, dass ich ein paar Stunden schlafen kann. Dann könnte dieser Jemand wer auch immer für den Rest vom Julfest wieder hierher zurück kommen. Ich brauche nur ein kleines bisschen Schlaf vielleicht drei Stunden oder so?“
Das Letzte klang so, als ob er hoffte, dass jemand kommen würde, während er sich ausruhte. Jul dauerte immerhin zwei volle Tage, und selbst ein energiegeladener Bursche in seinen Zwiens brauchte ein bisschen Erholung.
„Du bietest an, Jul mit deiner eigenen Familie zu verpassen, Peregrin,“ sagte der Thain langsam.
„ Weiß ich,“ sagte der Junge. „Ich verbringe Jul immer mit meiner Familie. Das habe ich schon mein ganzes Leben lang getan, und ich weiß, wie wichtig es für die Kleinen ist, dass beide Eltern beim Geschenkeausteilen dabei sind. Ich denke, die Familien der Hirten sollten wenigstens ein haben, du nicht? Du wolltest, dass ich Verantwortung übernehme, also übernehme ich jetzt welche, wenn du erlaubst. Ich kann das tun, Vater.“
Pippin wiegte sich auf den Fersen; sein Gesichtsausdruck war ernst.
Zustimmendes Gemurmel ertönte im Raum, und der Thain erhob sich zu seiner vollen Größe und verschränkte die Hände hinter den Rücken, während er den Jungen prüfend betrachtete.
„Wenn du die Herde einmal übernommen hast, kannst du deine Meinung nicht mehr ändern. Du wirst bei den Schafen bleiben müssen, auch wenn dir deine Idee nach ein paar Stunden allein in der Kälte nicht mehr ganz so großartig vorkommt,“ erklärte Paladin Tuk.
„Ich hab schon früher Schafe gehütet,“ beharrte der jüngere Tuk. „Dieses Jahr im Frühling habe ich das zweimal in der Woche getan, und ich habe nie auch nur eines davon verloren.“
Noch mehr Gemurmel war aus der Versammlung zu hören. Der Thain seufzte, als wäre die ganze Sache für ihn reichlich ermüdend, dann sagte er: „Du bist dir sicher? Du bist willens, das Julfest mit deinen Schwestern und dein Vettern aufzugeben, damit diese beiden Schafhirten Jul gemeinsam mit ihren Familien verbringen können?“ Er deutete in die Richtung der beiden Hobbits, die gekommen waren, um genau das vom Thain zu erbitten.
„Jawohl, Herr,“ sagte der Junge fest, den Kopf hoch erhoben, die Augen voller Entschlossenheit.
„Sehr schön,“ sagte der Thain. Er hielt seinem einzigen Sohn die Hand hin. Leicht erschrocken streckte der Junge seine eigene Hand aus, und die beiden besiegelten in der Gegenwart eines ganzen Raumes voller Zeugen die Abmachung per Handschlag.
„Du wirst Jul in diesem Jahr in den grünen Hügeln verbringen, Peregrin, zusammen mit der Herde,“ sagte Paladin Tuk. Und das war der Augenblick, als Pippin Gedanken anfingen, mit seinem durchgegangenen Mundwerk aufzuholen nur bis dahin war es zu spät.
Das war zwei Tage vor Beginn des Julfestes gewesen, und sein Vater hatte den Rest der Einzelheiten für ihn geplant, als es offensichtlich geworden war, dass Pippin in seiner Vorausschau nicht weiter gediehen war, als das großzügige Angebot zu machen.
Die Hirten, die beide kleine Kinder hatten, und von denen keiner je das Julfest in den Groß-Smials verbracht hatte, waren Pippin überschwänglich dankbar gewesen. Sie waren beide zu ihm hinüber geeilt und hatten ihm so kräftig auf den Rücken geklopft, dass sie ihn in ihrer Begeisterung fast zu Boden schlugen. Sie waren vor den Thain gekommen, um zu fragen, ob sie ein paar Burschen im Ort anheuern dürften, die Geld brauchten, damit sie die Feiertage mit ihren Familien verbringen konnten. Sie hatten angeboten, dafür aus ihren eigenen Ersparnissen zu bezahlen, aber der Thain hatte diese Bitte mit der Begründung abgeschlagen, dass irgendwelche angeworbenen Burschen vielleicht nicht erfahren genug sein mochten für die Aufgabe, sich um die Schafe zu kümmern. Die Tuks konnten sich nicht leisten, irgendwelche Schafe durch Achtlosigkeit einzubüßen. Letztes Jahr, während der härtesten Zeit des Winters, hatten Wölfe einen großen Teil der Herde getötet, und der Bestand hatte sich gerade erst zu einer ordentlichen Anzahl erholt. Wenn sie in diesem Jahr während der Schur genügend Wolle für den Markt haben wollten, dann musste die kleine Herde sorgsam bewacht werden.
Der Thain hatte all dies mit Bedauern in der Stimme angeführt, aber er war fest geblieben. Dies war der Moment gewesen, als Pippin mit der Geschwindigkeit einer der Feuerwerksraketen des alten Zauberers Gandalf auf die Beine kam und sein Angebot machte. Der Junge war um die Schafherden herum aufgewachsen und hatte tatsächlich schon für sie gesorgt, also war Unerfahrenheit hier nicht das Problem. Um Angesicht des großzügigen Angebotes und dem Raum voller Tuks hatte der Thain in der ganzen Sache tatsächlich keine große Wahl. Pippin war noch weit davon entfernt, erwachsen zu sein, aber ein Kind war er auch nicht. Wenn der Thain sich weigerte, seinem Sohn zu gestatten, dass er diese Aufgabe übernahm, dann würde es so aussehen, als würde er den Kleinen verhätscheln. Weil Pippin das Nesthäkchen der Familie war, gab es sowieso bereits gelegentliche Beschwerden, dass der Thain und seine Familie den Jungen verwöhnten oder übermäßig behüteten.
Pippin lauschte schweigend, während sein Vater einen Dienstplan für die beiden Schafhirten aufstellte. Jeder von beiden würde während der zwei Tage des Julfestes einmal für jeweils sechs Stunden zur Herde zurückkehren, damit Pippin sich ausruhen konnte. Die übrige Zeit hatten die Hirten die Erlaubnis, die Feiern auf jede Weise zu genießen, die ihnen einfiel. Pippin konnte spüren, wie sich etwas in seinem Magen zusammen zog, während sein Vater diese Dinge mit den beiden Hirten besprach. Es war Jul, was er da gerade aufgegeben hatte, und es gab keinen vernünftigen Grund, sich jetzt wieder heraus zu winden. Seine Bemühungen, seinen Vater mit seiner Reife zu beeindrucken, gemeinsam mit einem plötzlichen Anfall von Großmut den beiden jungen Schafhirten gegenüber hatte Pippin kopfüber in etwas gestürzt, das ihm jetzt vorkam wie die übelste Idee, die er jemals gehabt hatte. An welchem Punkt seines Lebens, fragte er sich, würde er wohl lernen, bis zehn zu zählen, bevor er den Mund aufmachte?
Seine Mutter hatte tatsächlich geweint! Dies hatte Pippin in Schrecken versetzt. Sie hatte die Arme um ihn geschlungen und gejammert, als wäre er kurz davor, zur Grenze des Auenlandes geführt und fort geschickt zu werden, um den Rest seines Lebens unter Trollen zu verbringen. Sie hatte seinen Vater derart finster angestarrt, dass ihre Augen Pfeile abzuschießen schienen, während sie sagte: „Er ist nur ein Junge! Er ist schließlich kaum in seinen Zwiens! Er ist nicht alt genug, um das Julfest zu versäumen. Er sollte hier sein, bei uns! Wie konntest du das erlauben!“
Irgend ein Teil von Pippins Geist hoffte, sein Vater würde die Weisheit in den Worten seiner Mutter sehen und sich weigern, ihn sein übermäßig spontanes Angebot wahr machen zu lassen, aber einmal mehr weigerte sich sein Mund, geschlossen zu bleiben, als er hörte, dass sie ihn „nur einen Jungen!“ nannte.
„Ich bin alt genug dafür, und immerhin war es meine Idee!“ protestierte er. Sie wandte ihren finsteren Blick in seine Richtung , doch dann löste sie sich in Tränen auf und umarmte ihn lediglich ganz fest: sie quetschte ihm mit ihrer Stärke die Luft aus den Lungen, bis sein Vater sie sanft weg führte, damit er die Sache in Ruhe mit ihr besprechen konnte.
Am Morgen des ersten Jultages, als die Sonne noch nicht aufgegangen war und Pippin sein Pony bestieg, da legte ihm sein Vater eine Hand auf die Schulter und hielt ihn davor zurück, in den Sattel zu klettern. Pippin drehte sich um, schaute zu ihm hoch und wartete. Sein Vater seufzte tief, wie er es so oft tat, bevor er irgendetwas zu seinem jüngsten Sohn sagte.
„Mach ein Feuer, kurz bevor die Sonne untergeht und halt es während der Nacht in Gang, für die Wärme. Hab ein Auge auf die Hunde. Sie werden dich wissen lassen, wenn es irgendwelchen Ärger durch wilde Tiere gibt. Halt deinen Bogen bereit und benutze ihn nicht, Peregrin, es sei denn, du musst.“
Pippin wusste, dass sein Vater sich Sorgen machte, Pippin könnte in Wirklichkeit eines der Schafe erschießen. Er machte sich selbst ziemliche Sorgen deswegen. Trotz des Tuk-Erbes war er nie ein sehr guter Bogenschütze gewesen. Er konnte ausgezeichnet mit der Schleuder umgehen und niemand tat es ihm gleich, wenn es darum ging, mit einem Stein ins Schwarze zu treffen, aber seine Fähigkeiten mit dem Bogen waren betrüblich mangelhaft. Er war dankbar, dass sein Vater es nicht zur Sprache brachte; schließlich wussten sie es beide.
„Wenn deine Ablösung kommt, dann nutze die Zeit gut und schau, dass du soviel Ruhe bekommst wie möglich. Du wirst es fertig bringen müssen, lange Zeit ohne Gesellschaft wach zu bleiben, und wenn du nicht gut ausgeruht bist, könntest du feststellen, dass du einduselst, wenn du wachsam sein solltest.“
Pippin nickte. „Das werde ich.“
„Du tust da etwas sehr Gutes, Peregrin, auch wenn es ein ziemlich überstürztes Angebot war,“ sagte sein Vater wehmütig. „Das mag dir eine Ahnung davon verschaffen, was es bedeutet, ein verantwortungsvoller Erwachsener zu sein, und es mag dich zukünftig davon abhalten, dich kopfüber in etwas hinein zu stürzen.“
Er zog Pippin an sich und umarmte ihn kurz. Dann trat er zurück und ließ Pippin genügend Platz, um auf das Pony zu steigen.
„Ab mit dir, oder du kommst zu spät.“
Unfähig zu sprechen, aus Angst, dass er das verzweifelte Verlangen verraten könnte, in den Smial zu rennen und sich unter seinem Bett zu verstecken, wandte Pippin sich von seinem Vater ab, bestieg sein Pony und ritt so schnell aus dem Stall, als wäre jemand hinter ihm her.
*****
Es waren noch immer zwei Stunden, bis seine Ablösung eintraf, und Pippin bereute die ganze Sache aus tiefstem Herzen. Er hatte den Morgen damit verbracht, die Schafe zu bewachen und sämtliche Jullieder zu singen, dir ihm einfielen. Danach und weil er außer Hörweite von jedermann war hatte er all die unanständigen Wirtshauslieder gesungen, die Merry ihm über die Jahre beigebracht hatte. Diese unanständigen Lieder waren ohne ein Publikum aus schockierten oder belustigten Hobbits nicht annähernd so unterhaltsam, aber er gab sich trotzdem alle Mühe. Es war ganz gut, für das nächste Mal zu üben, wenn er und Merry mit den Jungs aus waren.
Er hatte nur zwei Schafe mit Hilfe der Hunde jagen müssen, und so war es ein ruhiger, wenn auch einsamer erster Julmorgen gewesen. Pippin hatte sich mit Brot und Käse für das zweite Frühstück zufrieden gegeben; er hatte es gegessen, während er sich an sein erstes Frühstück aus Eiern, Speck und Röstbrot in der warmen Küche erinnerte. In Wirklichkeit hatte er diese Mahlzeit nicht sehr genossen, denn seine Mutter war herum geflattert und hatte die ganze Zeit versucht, nicht zu weinen. Pippin hatte das Gefühl gehabt, das der Großteil des ersten Frühstücks ihm in der Kehle fest steckte, aber es war immer noch besser gewesen als Brot und Käse mit den Hunden.
Als die Mittagszeit endlich da war, hatte Pippin ein großes Paket Brathähnchen aus seinem Bündel gezogen und es rasch verschlungen, um die Aufmerksamkeit der Hunde nicht zu erregen. Wenn sie die Gelegenheit dazu hatten, waren sie mehr als willens, sein gesamtes Essen mit ihm zu teilen. Das Wetter war zwar frisch, aber nicht zu schlecht für diese Jahreszeit. Die Sonne schien ziemlich warm und Pippin hatte seinen neuen Mantel, ein frühes Julgeschenk seiner älteren Schwester Perle. In der selben Minute, in der sie herausfand, dass Pippin das Julfest bei den Schafen verbringen würde, hatte sie das Paket hervor gezogen und darauf bestanden, dass er es öffnete.
„Ich kann meine Julgeschenke doch aufmachen, wenn ich nach Hause komme,“ hatte Pippin widersprochen. „Ich bin bloß ein paar Tage weg, Perle.“
Sie hatte ihm das Paket energisch in die Hände gedrückt und streng gesagt: „Du machst das Geschenk noch in dieser Minute auf, Peregrin Tuk. Ich werde Jul nicht damit verbringen, mir Sorgen zu machen, dass du dich zu Tode frierst.“
Pippin hatte sie angegrinst, gehorcht und das Paket ausgewickelt; zum Vorschein kam der dunkle Mantel in bläulichem Grün mit dem dicken Wollfutter und den tiefen Taschen. „Der ist ja großartig!“ hatte er gekräht und ihn hoch gehalten.
Hinter ihm hatte sein Vater leicht die Stirn gerunzelt und gesagt: „Der sieht sehr warm aus, Perle, aber gab es ihn nicht auch in anderen, weniger auffälligen Farben?“
„Die Farbe ist tatsächlich das, was ich an diesem Mantel am liebsten mag,“ hatte Pippin gesagt, ehe Perle antworten konnte. „Bei Festen werde ich meinen Mantel immer zwischen all den anderen herausfinden können.“
Darüber hatte Perle gelacht, und dann hatte sie darauf bestanden, dass er ihn anprobierte. Im Augenblick allerdings war das, was er an dem Mantel am liebsten mochte, das Wollfutter. Das Mittagessen war lange her, und die Sonne war jetzt untergegangen. Das Abendessen war eine Erinnerung, und der einzige Schutz vor der Kälte waren sein kleines Lagerfeuer und sein mit Wolle gefütterter Mantel.
„Jetzt vermisse ich gerade die Julfeier,“ stöhnte Pippin, während sein Magen sich zusammenzog und unglückselig knurrte. Er hatte noch mehr zu Essen in seinem Bündel, aber er wagte nicht, die Mahlzeiten für morgen anzugreifen; er würde diese Aktion sonst morgen bedauern. Im Augenblick gab es schon genug, was er zu bedauern hatte.
„Wahrscheinlich gibt’s Bratente, und Schweinebraten, und gebackenen Schinken, mit Honig glasierte Karotten, und Pilze in Buttersoße, und Tomaten und Beeten und Kartoffeln und Brot und Kohl und heißen Apfelwein und alle Sorten Gebäck.“ Pippin leckte sich die Lippen und hatte die Wolle von seinem Schal auf der Zunge. Er zog den Schal herunter und spuckte ein paarmal aus; er betrachtete seine dösende Schafherde und fuhr fort. „Rüben, Marmelade, Bohnen, Pudding, Karamell, Äpfel, Karamelläpfel, Torten, Kuchen, Walnüsse, Erbsen, kandierte Kirschen, sauer eingelegtes Gemüse, Bratensoße, Tante Esmies Marmeladentörtchen.“ Pippin seufzte und rieb sich den Magen. „Was hält Schafhirten eigentlich davon ab, vor Hunger zu sterben?“
Pippin blinzelte, betrachtete die Schafe und runzelte die Stirn. „Lammbraten, Lammtopf.“ Er schüttelte den Kopf, als ein winziges Lamm zu seiner Mutter rannte und sich neben ihr zum Schlafen niederlegte. „Nein, keinen Lammbraten. Hier draußen werde ich nicht über Lammbraten nachdenken.“
Einer der Hunde winselte, stieß Pippin gegen das Bein und schnüffelte an seiner Manteltasche.
„Keine Sorge. Um am Hundebraten zu denken, bin ich nicht ausgehungert genug,“ sagte Pippin und reichte dem Hund einen Bissen Käse aus der Tasche. Pippin hatte ständig Leckereien für die Hunde in den Taschen, zusammen mit anderen Gegenständen von Interesse. Taschen waren schließlich dazu da, gefüllt zu werden.
Binnen der nächsten zwei Stunden schlief Pippin praktisch im Stehen ein. Er musste hin und her laufen, um wach zu bleiben. Ihm war kalt, aber er entfernte sich vom Feuer, damit es ihm nicht zu warm und bequem wurde. Er wusste, er würde einschlummern, wenn er sich selbst gestattete, sich ans Feuer zu setzen. Er vertrieb sich die Zeit, indem er zu den Sternen auf starrte und versuchte, einige der besonderen Sterne zu finden, die Frodo ihm gezeigt hatte. Er fragte sich, ob Frodo auf der Julfeier tanzte, oder ob sein älterer Vetter mit Merry und einigen von den älteren Jungs wohl einen Branntwein trank und eine Pfeife rauchte. Pippin durfte nicht viel Branntwein trinken, aber Merry brachte es immer fertig, ihm während der Julfeier heimlich den einen oder anderen Schluck zuzuschanzen. Vermutlich würde ihm dieses Jahr sein bisschen Branntwein entgehen.
„Ich wette, du hast gedacht, ich hab dich vergessen!“ rief eine Stimme; Pippin drehte sich um und sah den jüngeren der beiden Schafhirten den Hügel hinaufsteigen, einen Sack auf dem Rücken. „Ich hab nicht auf die Zeit geachtet, oder ich wäre schon vor einer Stunde hier gewesen. Ich bin da geblieben und hab der Frau geholfen, die Kleinen ins Bett zu bringen.“ Der Schafhirte grinste von Ohr zu Ohr, während er sprach. „Ich komm nicht so oft dazu, das zu tun, wie ich möchte, aber es tut mir ganz sicher Leid, dass ich zu spät zu dir gekommen bin, nach allem, was du für mich getan hast.“
Pippin lächelte schwach, zog seinen Schal herunter und vergaß beim Anblick des glücklichen Hobbits vor sich seine kalte Nase. „Hab ich gar nicht bemerkt,“ log er. Die Wahrheit war, dass er die Minuten gezählt hatte, bis es Zeit sein würde, und dass er jede einzelne Minute gezählt hatte, die der Schafhirte zu spät gekommen war. Nun schien das nicht mehr so wichtig zu sein. Immerhin war der Schafhirte ja jetzt hier, nicht wahr?
„Ich hab mir gerade die Sterne angeschaut.“ Pippin lächelte. Er zog die Hände aus den Taschen, rieb sie gegeneinander und gähnte.
Beim Anblick von Pippins Handschuhen runzelte der Schafhirte die Stirn. „Du hast ja gar keine Finger an diesen Handschuhen, Junge. Du kannst meine haben, wenn du willst. Deine Hände müssen dir abfrieren.“
Pippin streckte seine Hand aus und zuckte die Achseln. „Ich mag Handschuhe nicht sehr, und Fäustlinge kann ich nicht ausstehen. Ich schneide bei allen meinen Handschuhen die Finger ab. Man weiß nie, wann man seine Finger für irgendwas Wichtiges braucht, und man kann die Sachen nicht richtig anfassen, wenn die Handschuhe Finger haben.“
Der Schafhirte kratzte sich mit einer von seinen behandschuhten Händen den Kopf. „Ich halt meine Finger gern warm; ich lasse es drauf ankommen.“
„Ich nicht,“ sagte Pippin. Er hatte Handschuhe noch nie leiden können, und als Junge hatte er absichtlich so viele Fäustlinge verloren, dass es gereicht hätte, um die Hände aller Kinder im Auenland einzupacken bis seine Tante Esmeralda einen Weg gefunden hatte, die Fäustlinge an seinen Händen zu halten. Sie hatte sie ihm um die Handgelenke gebunden, um sicher zu stellen, dass er sie nicht verlor. Wegen dieses Einfalls hatte er ein hässliches Erlebnis gehabt, das fast in einer Katastrophe mündete, und sobald er alt genug für Fingerhandschuhe war, fing er an, die Finger abzuschneiden. Merry fand das immer wieder amüsant, aber in dieser Sache ignorierte Pippin ihn. Jedes Jahr schenkte Merry Pippin spaßeshalber wenigstens ein Paar Handschuhe, und Pippin schnitt immer die Finger ab, während Merry zuschaute. Pippin vermutete, dass selbst jetzt daheim in den Groß-Smials ein Päckchen mit neuen Handschuhen von Merry lag. Er gähnte.
„Du gehst am Besten rüber, kriechst in das Zelt und schläfst ein bisschen, oder du bist morgen zu müde, um Wache zu halten,“ erinnerte ihn der Schafhirte. „Sollte ich vorher noch irgendwas über die Herde wissen? Irgendwelcher Ärger?“
Pippin lächelte müde. „Nein, sie sind alle da, und es geht ihnen gut. Ich hab sie gezählt, bis ich sie alle vom Sehen kannte.“ Er gähnte wieder. „“Weißt du, sie zu zählen, macht mich tatsächlich ein bisschen müde. Ich frag mich, wieso das wohl so ist?“
Der Schafhirte lachte. „Vermutlich, weil sie alle gleich ausschauen, und sie tun wirklich nicht gerade irgendwas Interessantes, oder?“
Pippin grinste und machte sich auf den Weg zum Zelt. „Es sei denn, du zwingst sie dazu,“ murmelte er schläfrig, und erinnerte sich an eine Gelegenheit, als er und Merry ein ziemlich widerstrebendes Schaf oben auf ein Scheunendach bugsiert hatten. Das war interessant gewesen, aber dem Schaf war es ganz entschieden nicht eingefallen.
Am Morgen des zweiten Jultages erwachte Pippin vom Geruch brutzelnder Würstchen. Eine Sekunde lang dachte er, dass er vielleicht die Augen öffnen und sich in seinem eigenen Bett wiederfinden würde, aber als er es tat, sah er das Leinendach des Zeltes über sich und spürte einen kleinen Stein, der ihn durch den Schafsack in den unteren Rücken piekste.
Er seufzte.
Noch ein ganzer Tag allein mit den Schafen, während jedermann daheim das zweite Jul ohne ihn feierte. Vielleicht würde der Schafhirte ihm ja anbieten, heute hier zu bleiben. Er hatte einen ganzen Jultag zusammen mit seiner Familie gehabt. Vielleicht würde er ja anbieten, Pippin aus seinem unbedachten Versprechen zu entlassen, aus Dankbarkeit für diesen einen Tag. Pippin setzte sich auf, streckte sich und krabbelte aus seinem Schlafsack. Wenigstens gab es irgendwo Würstchen.
Während Pippin in der Pfanne gebratene Würstchen, Röstbrot und Äpfel aus dem Feuer aß, erzählte der Schafhirte ihm alles darüber, wie er am Tag zuvor Jul mit seinen Kleinen verbracht hatte. Er erzählte Pippin, wie er auf der Julfeier mit seiner Frau getanzt und wie er mit seinen Freunden getrunken hatte. Er erzählte Pippin davon, wie er am Feuer in der Großen Halle Jullieder gesungen hatte, und Pippin wusste, dass die Chance, dass der Schafhirte ihn aus seinem Versprechen entlassen würde, wirklich sehr gering war.
Pippin aß gerade seinen letzten Rest Würstchen, als der Schafhirte sagte: „Ich weiß, du hattest hier gestern und heute Nacht eine lange, einsame Wache. Ich möchte, dass du weißt, wie dankbar ich dir bin, und wie sehr meine Familie es zu schätzen weiß. Ich möchte auch, dass du weißt, dass Jody genauso dankbar ist.“
Jody war der andere Hirte, der für die Herde verantwortlich war. Er war älter als der Hirte, der für Pippin Frühstück gemacht hatte, und er tat diese Arbeit schon länger. Normalerweise hätten die beiden das Julfest zwischen sich aufgeteilt, und jeder wäre abwechselnd in seinen eigenen, kleinen Smial zurückgekehrt, um mit seiner Familie zu feiern. Keiner von ihnen hätte den Ausflug zu den Groß-Smials gemacht, der von dieser Weide aus fast drei Stunden entfernt war, auf einem schnellen Pony. Die Schafhirten hätten still mit ihren Familien gefeiert, und jeder von beiden hätte einen Jultag verpasst, damit er sich um die Schafe kümmern konnte.
Pippin machte den Mund auf, um dem dankbaren Schafhirten zu antworten, aber der Hobbit hielt eine Hand hoch und sagte: „Du bist ein junger Kerl und verdienst es, auch bei deiner Familie zu sein. Ich hab mich darauf vorbereitet, heute hier zu bleiben, damit du zurückgehen und den zweiten Jultag mit ihnen verbringen kannst.“ Pippin spürte, wie ihm bei diesen Worten das Herz leichter wurde.
„Die Frau und ich haben darüber geredet, und es ist bloß gerecht. Jody und ich haben Strohhalme gezogen, und ich hab den kürzeren erwischt.“ Der Schafhirte grinste. „Also packst du am Besten dein Zeug zusammen und sattelst das Pony.“
Pippin stand auf, eifrig darauf bedacht, zu gehen doch nun, als der Augenblick da war, brachte er es nicht fertig.
„Du gehst,“ sagte er in einem weit fröhlicheren Ton, als er gedacht hatte, ihn hinzubekommen. „Es macht mir nichts aus, hier zu bleiben. Ich hatte es so geplant, weißt du. Geh nach Hause, zu deinen Kindern. Heute ist der Tag, an dem die Kleinen immer das Julspiel aufführen, und das willst du doch nicht verpassen.“
Eine winzige Stimme in seinem Hinterkopf bestand darauf, dass er völlig verrückt sein musste, wenn er sich die Chance entgehen ließ, aus dieser Sache herauszukommen und zum Julfest zurückzukehren, aber er schob sie in dem Moment beiseite, als er sah, wie das Gesicht des Schafhirten aufleuchtete.
„ Bist du dir sicher?“
Pippin nickte. „Ich habe ein Buch, das ich heute Nachmittag lesen will.“ Was für eine komplette Ladung Schafscheiße, Peregrin! sagte die winzige Stimme in seinem Kopf, und jetzt klang sie merkwürdig nach Gandalf, was ziemlich verstörend war. Gandalf würde doch nie „Schafscheiße“ sagen, oder?
Der Hirte lachte, und nur für einen Sekundenbruchteil dachte Pippin, dass er die Stimme vielleicht auch gehört hatte. „Wir schulden dir was, Junge. Meine Familie und ich, wir schulden dir eine ganze Menge.“
„Nein, tut ihr nicht.“ Pippin lächelte. „Ich habe mich freiwillig gemeldet, und ich bin wirklich froh.“ Die Gandalf-Stimme in seinem Kopf gab ein ziemlich rüdes Haaarumpf-Geräusch von sich, aber Pippin ignorierte sie weiter.
Der Hirte lächelte, klopfte Pippin kräftig auf den Rücken und sagte dann: „Das hätte ich fast vergessen!“ Er eilte zu seinem eigenen Bündel hinüber, das auf der Erde dicht am Feuer lag und zog ein kleines Päckchen heraus. „Dein Brandybock-Vetter, der Sohn des Herrn, hat mich heute Morgen gebeten, dir das zusammen mit deinem ersten Frühstück zu geben. Tut mir Leid, dass ich beinahe nicht dran gedacht hätte.“ Er hielt Pippin das Päckchen hin, dann seufzte er ein bisschen schuldbewusst. „Ich hasse es, so überstürzt abzuhauen, aber wenn ich mich beeile, kann ich rechtzeitig für den Elf-Uhr-Imbiss wieder in der großen Halle sein.“
„Danke, dass du mir das mitgebracht hast,“ lächelte Pippin. Er schüttelte das kleine Päckchen, obwohl er ganz genau wusste, was darin war.
Er wartete, bis der Schafhirte davon geritten war, bis er die Schafe gezählt und die Hunde gefüttert hatte, bevor er sich hinsetzte und Merrys Geschenk aufmachte. Er zog die Karte unter den Band auf der Oberseite heraus und öffnete sie zuerst.
Pippin,
ich hoffe, sie gefallen dir. Ich habe sie selbst ausgesucht. Du kannst sie ausprobieren, wenn du das nächste Mal in Bockland bist und der Fluss zufriert. Sie sehen aus, als wären sie hervorragend dafür geeignet, auf dem Eis herum zu rutschen, aber ich kann nicht sicher sein, bevor du sie angezogen hast. Aber zieh sie bloß nicht irgendeinem von deinen Schafen an. Ich sehe dich morgen früh falls du dich nicht noch freiwillig für irgendwas anderes meldest, du dämlicher Arsch.
Viel Spaß mit den Handschuhen, und ein Frohes Jul!
Dein überaus ansehnlicher, älterer Vetter
Merry”
Pippin las die Nachricht laut vor, in seiner besten Imitation von Merry, dann öffnete er das Päckchen und zog ein Paar rot und grün gestreifter Handschuhe heraus. Er lächelte und legte sie in ihre Schachtel zurück. Er würde warten, bis er Merry ah, bevor er die Finger abschnitt.
Die Handschuhe waren nicht die einzigen Genüsse, die der Hirte mitgebracht hatte. Pippin stellte fest, dass er ihm eine Dose Julkekse da gelassen hatte, die seine Frau gemacht hatte, dazu einen frischen Laib Honigbrot, den seine eigene Mama mitgeschickt hatte. Pippin ließ sich die Kekse schmecken, während er an diesem Morgen zwischen den Schafen auf und ab ging. Das Brot hob er sich für den Elf-Uhr-Imbiss auf, wenn jedermann in den Groß-Smials heiße Zimtbrötchen haben würde, Lebkuchen-Hobbits, Teekuchen und andere Leckereien zum Essen, während mehrere Geschichtenerzähler aus dem Ort die Schmausenden mit Erzählungen von vergangenen Julfesten unterhielten. Pippin erinnerte sich, dass Bilbo einer dieser Geschichtenerzähler gewesen war. Beim letzten Jul hatte Frodo eine Geschichte zum Besten gegeben und fast soviel Beifall eingeheimst wie Bilbo früher. Und du, Peregrin Tuk, bist närrisch genug gewesen, die Feiertage zu verpassen, um lieber Zeit zwischen diesen einfältigen Viechern zu verbringen, sagte die Gandalf-Stimme in Pippins Kopf verächtlich.
Pippin seufzte. Es machte ihm keine Freude, Gandalfs Stimme in seinem Kopf zu hören, weil der alte Zauberer nichts sehr Nettes zu sagen hatte, aber wenigstens war es eine Art Gesellschaft. Die Schafe waren nicht besonders gesprächig.
Es war ein sehr langer, sehr kalter Tag, und Pippin spürte, dass die Minuten sich fast so langsam dahin schleppten, wie früher, als er ein kleines Kind gewesen und gezwungen worden war, während förmlicher Teenachmittage oder während seiner Unterrichtsstunden still zu sitzen. Pippin beschäftigte sich damit, nach den Schafen zu schauen, die Hunde zu füttern, sein kleines Feuer am Brennen zu halten, den ganzen Laib Honigbrot aufzuessen und sich ein Julgedicht auszudenken. Besagtes Julgedicht, das Pippin „Eine Ode an das Julfest“ nannte, war mehr als grauenhaft, aber es gab ihm etwas zu tun, während er auf und ab schritt. Schafe machten wirklich nichts Interessantes.
Von allen Juls in meinem Leben
ging dieses wohl total daneben.
Ich steh bei einer Herde von Schafen
und alles, was ich will, ist schlafen!
Mein Honigbrot schon aufgegessen
Mit wundem Fuß, auf's Bett versessen
Der Wind wie Eis, der Boden feucht!
Ein Krampf im Bein ist auch nicht leicht!
Hätt' ich doch bloß den Mund gehalten
Dann wäre ich nicht hier im Kalten!
Bei Schafen und bei Böcken
Ich könnt' zu Hause stecken
Mit Teller und mit Schüssel
Und hielte meinen Rüssel
in ein volles Branntweinglas
Ach, wäre das ein Spaß!
Stattdessen mein Los ist harsch -
Fühl ich mich wie ein A...!“
Pippin trug den Schafen die letzte Fassung seiner Ode vor, und sie ignorierten sie vollkommen und fuhren damit fort, das zu tun, was Schafe eben tun. Als er seinen Vortrag beendet hatte, verneigte er sich tief und die Gandalf-Stimme in seinem Kopf verkündete: Meine Güte, du bist aber ganz schön langatmig, oder?
Pippin verbrachte den Rest des Nachmittags auf diese Weise, und es gelang ihm, seine gute Laune aufrecht zu erhalten, bis der Abend kam. Da war es, als er wirklich anfing, seine Familie zu vermissen und sich danach zu sehnen, daheim zu sein und mit den anderen das Julfest zu feiern. Es war jetzt fast vorüber. Da gab es nur noch die Feiern heute Abend, und dann würde es ein ganzes Jahr dauern, bis es wieder Jul war. Pippin würde ein ganzes Jahr warten müssen, ehe er die Gelegenheit bekam, Julpudding zu essen oder Jullieder zu singen. Man lief nicht herum und sang Jullieder, wenn gar kein Jul war, und so würde er ein ganzes, langes Jahr warten musste, ehe er wieder welche singen konnte, es sei denn natürlich, er wollte aussehen wie ein Idiot. Er blickte zu dem dunkelnden Himmel auf, während er sich die Hände über dem kleinen Feuer wärmte und sich selbst bedauerte.
Pippin blickte über die Schafe hinweg und hörte seinem neuen Freund zu, der Gandalf-Stimme in seinem Kopf, die ihm von all dem erzählte, was ihm in den Groß-Smials entging, als er plötzlich dachte, er würde Schlittenglöckchen hören. Pippin steckte sich einen Finger in die Ohren und schüttelte den Kopf. Dankenswerterweise gab es keinen Schnee, also wieso sollte irgendjemand draußen in einem Schlitten unterwegs sein? Immer noch läuteten die Glöckchen, und Pippin wandte sich von den Schafen ab, um sich nach der Quelle des Geklingels umzusehen. Vielleicht sollte er seinen Bogen holen. Glaubst du etwa, da kommt ein Schlitten voller Wölfe, um die Schafe anzugreifen, Peregrin? gluckste die Gandalf-Stimme. Alleine Zeit gemeinsam mit Schafen zu verbringen konnte dazu führen, dass man den Verstand verlor. Er war sich nicht sicher, ob er die Stimme des Zauberers überhaupt hören sollte. Gandalf hatte nicht gerade die Angewohnheit, ihn oft direkt anzusprechen, und Pippin hatte den alten Zauberer eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Keine Frage, er war dabei durchzudrehen, hier, mitten zwischen den Schafen.
Winzige Lichter waren jetzt in der Nacht zu erkennen, und Pippin sah zu, wie was auch immer es war näher kam. Es war zu dunkel, um irgendetwas jenseits dieser blinkenden Lichter zu sehen, aber es kam ganz sicher etwas auf ihn zu. Pippin blickte über seine Schulter nach hinten zu den Schafen, stellte fest, dass sie nach wie vor überhaupt nichts taten und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den sich nähernden Lichtern zu. Jetzt kam ein Paar Karrenponys in Sicht, beide mit Festgeschirren geschmückt, kleine Glöckchen am Zaumzeug und bunte Bänder in den Mähnen. Was sich angehört hatte wie ein Schlitten, war tatsächlich ein Heuwagen, auf dieselbe Weise dekoriert wie die Ponys. Der Wagen fuhr bis zu einer Stelle, die wenige Fuß von dort entfernt war, wo Pippin stand, und hielt an.
„Wo sind denn diese neuen Handschuhe, die ich dir geschenkt habe?“ schrie Merry von seinem Platz auf dem Kutschbock des Wagens. „Ich mache mir die ganze Mühe, dir ein wunderschönes Julgeschenk zu schicken, und du hast noch nicht einmal genug Manieren, sie zu tragen.“
„Merry!“ schrie Pippin überglücklich zurück. Er war drauf und dran, auf den Wagen zuzurennen, aber besann sich nach nur einem Schritt. Er wollte nicht, dass es so aussah, als würde er verzweifelt nach Gesellschaft dürsten oder so. Er versuchte, lässig zu klingen, aber seine nächste Frage purzelte hastig aus ihm heraus.
„Er musste mich doch hier heraus bringen, nicht wahr?“ mischte sich Frodo ein, während er von der Rückseite des Wagens hinab stieg und zu Pippin herüber kam. „Ich habe Merry gesagt, dass meine Ferien nicht vollständig wären, es sei denn, er bringt mich her, damit ich die Schafe sehen kann.“ Frodo legte Pippin einen Arm um die Schultern und drückte ihn an sich. „Sag mir, hab ich irgendwas verpasst?“
Pippin lehnte sich in die Umarmung seines älteren Vetters hinein. "Eine aufregende Sache nach der anderen - du weißt, wie das so ist mit Schafen."
"Also, das ist so ziemlich das jämmerlichste Feuer, das ich je gesehen habe!" Pippin drehte sich um, sah, dass seine ältere Schwester Nell auf ihn zu kam und gaffte sie mit offenem Mund an. "Ich sollte denken, dass du in deinem Alter weißt, wie man ein anständiges Feuer macht."
"Nell, was tust du denn hier?" fragte Pippin, und seine Augen wurden sogar noch größer, während er dabei zusah, wie seine Schwester zu dem kümmerlichen Lagerfeuer hinüber ging. Er hatte daran gedacht, noch ein Scheit oder zwei aufzulegen, aber er war ziemlich damit beschäftigt gewesen, sich selbst Leid zu tun und war noch nicht dazu gekommen.
"Das Erste, was ich tue, ist nach deinem armseligen, kleinen Feuerchen zu sehen," sagte Nell, während sie den Holzstapel betrachtete, die Hände in den Hüften.
"Lass Merry das machen, Nell," widersprach Pervinca in ihrem üblichen, herrischen Ton.
"Ich hab schon den Wagen gefahren, Fräulein Schnattersack!" protestierte Merry und nannte Pervinca bei dem Spitznamen, den er ihr verpasst hatte, als sie noch nicht ganz fünf Jahre alt war. "Wieso machst du denn kein Feuer?"
Ehe Pervinca antworten konnte, mischte sich Fredegar Bolger in das Gespräch.
"Ich mache das Feuer." Fredegar grinste und legte einen Arm m Pervinca. "Wir Bolgers sind als heißblütig bekannt, also bin ich der Richtige, um hier das Feuer zu schüren."
"Großartig!" Nell schmunzelte. "Du kümmerst dich um das Feuer, Freddy, und ich helfe Perle, das Essen aus dem Wagen zu holen."
"Perle?" sagte Pippin, als er seine Stimme wieder fand. Er hatte neben Frodo gestanden und zugesehen, wie seine älteren Schwestern, Vettern und Freunde allesamt aus dem Wagen geklettert waren. Er konnte seinen Augen immer noch nicht trauen.
"Man kann Jul doch nicht ohne Essen feiern, Pippin Tuk," rief Estella. Während sie sprach, holte sie etwas in einer zugedeckten Schüssel aus dem Wagen.
"Und ich werde ein paar Laternen anzünden," verkündete Berilac. "Ich kann im Dunkeln essen, wenn ich muss, aber ich sehe mein Essen lieber, ehe ich es herunter schlucke."
"Steck das Feld nicht in Brand," warnte Merry, während er die Zügel der Ponys an einen kleinen Baum band. "Wir haben Essen. Wir müssen keine Schafe braten."
"Fang bloß nicht so an, Merry," warnte Berilac. "Es mag ja Jul sei, aber meine fröhliche Festtagslaune hält nur noch ein ganz kleines bisschen, weißt du."
"Wenn das seine fröhliche Festtagslaune ist, dann hasse ich es, daran zu denken, wie er sich den Rest des Jahres aufführt." Pervinca schnaubte.
"Ganz genau." Merimas nickte und nahm Pervinca eine Schüssel mit Essen ab. "Jetzt weißt du, was ich auszuhalten habe."
"Ich vermute, in dem Wagen gibt es keinen Tisch, oder, Merry?" wagte Falco sich vor.
"Nein, aber wenn ihr dusseligen Hobbits die Schüsseln einfach in den Wagen zurück stellt und sie aufdeckt, dann können wir unsere Teller da volladen und an Freddys Feuer essen," schlug Merry vor.
Sie starrten allesamt völlig verblüfft drein, dass sie nicht selbst darauf gekommen waren, während Merry selbstzufrieden vor sich hin gluckste. Pippin blickte in die Nacht hinaus und blinzelte. "Wen habt ihr denn alles mitgebracht? Ist überhaupt irgendjemand in den Groß-Smials geblieben?"
"Wir haben ein paar Schafhirten und ihre Familien in den Groß-Smials gelassen. Dank dir hatten sie einen Riesenspaß. Ich habe einfach bloß ein paar hungrige Hobbits mit her geschleppt, die den zweiten Jultag und Neujahr draußen auf der Weide feiern wollten, während sie sich die Schafe anschauen." grinste Merry und ging dorthin hinüber, wo Pippin neben Frodo stand. "Du bist wahrscheinlich zu jung, um davon zu wissen, aber ungefähr alle fünfzehn Jahre ist es an Jul Sitte, dass große Gruppen Hobbits mit einer Ausrüstung für ein Fest in einem Wagen aufbrechen, auf dem Weg zur nächsten Schafweide und auf der Suche nach einem hungrigen Schafhirten." Nachdem er die Geschichte angefangen hatte, stupste Merry Frodo an und wartete darauf, dass er sie fortsetzte.
"Alle fünfzehn Jahre, wenn die Hobbits zu ihrer Suche aufbrechen, dann reisen sie so lange, bis sie einen Hirten gefunden haben, der Julfreude, warmes Essen und ein besseres Feuer nötig hat," sagte Frodo und nahm die Geschichte auf. "Wenn sie einen solchen Hirten finden. dann machen sie an seinem Feld halt, bewundern seine Schafe, und dann schmeißen sie gleich am Rand seines Feldes ein großes Julfest. Sie essen und trinken und singen und tanzen und erzählen sich launige Geschichten, ganz ähnlich wie diese hier, unter den Sternen bis tief in die Nacht. Die ganze Zeit sind sie sehr vorsichtig, keines der Schafe zu verlieren, für die sie verantwortlich sind, aber sie haben viel Spaß und bringen das Julfest zu einem Schafhirten, der es vielleicht ganz verpasst hätte, weil er ein paar anderen Schafhirten eine große Freundlichkeit erweisen wollte."
Pippin blinzelte ein paar Tränen zurück, dann sagte er: "Bringen diese großzügigen Hobbits zusammen mit der Freude auch jemals einen Julpudding mit?"
Merry lachte. "Wie können sie denn Freude bringen, wenn sie keinen Julpudding haben, du dämlicher Tuk?"
"Hier ist Julpudding, aber wenn du erwartest, dass du irgendwas davon abkriegst, dann machst du besser schnell, weil Fredegar sich schon seinen Teller voll schaufelt," warnte Pervinca.
Fredegar tauchte hinter dem Wagen auf. "Nicht mein Teller, der von Pippin." Er hielt ihm den vollen Teller hin und grinste. "Frohes Jul, Pippin, mein Junge. Jetzt komm und hol ihn dir, ehe ich meine Meinung ändere."
Die fröhliche Hobbitgesellschaft aß, trank, sang, tanzte und erzählte Geschichten, bis in die frühen Morgenstunden kurz vor der Dämmerung, rings um Fredegars stark verbessertes Feuer. Die Schafe taten, was sie immer getan hatten, und die Hunde kamen gelegentlich nahe genug an die feiernden Hobbits heran, um sich eine Leckerei zu erbetteln. Das Fest hätte sich bis zum Morgen fortgesetzt, wenn der Ehrengast nicht eingeschlafen wäre.
"Leg dich hin und ruh dich ein bisschen aus, Pip," hatte Merry sanft vorgeschlagen, als Pippin zum dritten Mal hintereinander fast einnickte. Er hielt seinen Vetter an den Hosenträgern fest, damit er nicht ins Feuer fiel.
"Ich muss auf die Schafe aufpassen, Merry," widersprach Pippin und versuchte, sich selbst wach zu schütteln.
"Ich werde auf sie aufpassen," sagte Frodo und stand auf, um dorthin zu gehen, von wo aus er die Schafe besser sehen konnte. "Ich bin diesen ganzen Weg gekommen, bloß um diese Viecher anzuschauen, und ich habe noch gar keine Zeit mit ihnen verbracht."
"Das ist meine Aufgabe," sagte Pippin und versuchte, auf die Beine zu kommen. Merry streckte den Arm aus, packte Pippin um die Mitte und zog ihn wieder in eine sitzende Position zurück.
"Nein, nicht für die nächsten sechs Stunden," sagte Frodo.
"Meine Ablösung ist noch nicht da," sagte Pippin und versuchte, Merry zu entkommen.
"Doch, ist sie," sagte Frodo und verbeugte sich. "Ich bin heute Nacht deine Ablösung. ich habe die Schafhirten überredet, mich diese Aufgabe übernehmen zu lassen."
"Mit Bier bestochen hast du sie, meinst du," sagte Perle trocken.
Frodo zuckte die Achseln. "Tatsache ist, dass ich in den nächsten sechs Stunden für all diese fetten, langweiligen Schafe verantwortlich bin, und du, Peregrin Tuk, machst jetzt eine Pause und holt dir etwas Schlaf, weil du sie nachher noch ein bisschen bewachen musst, bis die Schafhirten von den Groß-Smials zurückkommen."
"Pippin, streck dich hier auf diesen Decken am Feuer aus und mach die Augen zu," wies Merry ihn an.
"Bist du sicher, dass du weißt, was du da tust, Frodo?" Pippin runzelte die Stirn.
"ich hab schon früher Schafe gesehen." Frodo seufzte. "ich habe mir schon Schafe angesehen, bevor du geboren wurdest."
"Man guckt sie nicht bloß an," widersprach Pippin mit einem Gähnen. "Man muss aufpassen, dass sie nicht weglaufen." Er lehnte seinen Kopf an Merrys Schulter und gähnte wieder.
"Ich werde ihm helfen," lächelte Nell und stand auf. "Du weißt ganz genau, dass ich auf unserem Hof in Weißquell immer mit den Schafen geholfen habe. Ich weiß alles über Schafe."
"Leg dich hin, Pip," schmeichelte Merry, und Pippin gab nach. Merry zog eine schwere Decke über seinen jüngeren Vetter und erlaubte Pippin, den Kopf gegen seinen Schenkel zu lehnen. "Jetzt mach dein großes Mundwerk zu und schlaf. Diese Schafe gehen nirgendwo hin, es sei denn, ich entschließe mich, ein paar von ihnen für einen Julritt auf meinem feinen Wagen mitzunehmen."
Pippins Augen flogen auf. "Ich frage mich, wie viele von denen wohl in den Wagen passen würden?"
"Wenn das einer von euch versuchen sollte, dann werde ich dafür sorgen, dass ihr es bereut!" warnte Frodo, während die anderen lachten. "Diese wilden Bestien stehen für die nächsten sechs Stunden unter meiner Verantwortung, und ich werde nicht zulassen, dass ihr beide sie in diesem Wagen herum kutschiert."
"Wilde Bestien? Redest du über die Schafe oder über Merry und Pippin?" fragte Nell.
Merry zuckte die Achseln. "Geh schlafen, Pippin. Schafhirtengehilfe Beutlin hat schlechte Laune."
Pippin kicherte und schloss die Augen. Merry blickte auf ihn hinunter und bemerkte, dass Pippin seine neuen Handschuhe trug; die Finger waren bereits abgeschnitten. Während Pippin in den Schlaf davon driftete, dachte er, er würde Gandalf sagen hören: Du wirst deine ,Ode an das Julfest' umschreiben müssen, Peregrin. Das war einer der schönsten Feiertage, die du je erlebt hast.
Pippin murmelte etwas, und Merry runzelte die Stirn.
"Was hat er gesagt?" flüsterte Pervinca, beugte sich über ihren Bruder und steckte die Decke unter seinem Kinn fest.
"Ich muss ihn missverstanden haben," flüsterte Merry kopfschüttelnd. "Ich hätte schwören können, dass er gerade gesagt hat: ,Halt den Rand, Gandalf, und geh schlafen.'"
ENDE
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