Heimat der Sterblichen (Long home for mortals)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel 2
Der Fluss

Er watete durch das Wasser, das kühl um seine Knie plätscherte, und es glitzerte so, als wäre es mehr als nur eine Täuschung des Lichts. Er konnte spüren, wie es glitzerte, als ob es unsichtbare Bläschen an seiner Haut platzen ließe, und diese Empfindung entzückte ihn. Er watete tiefer und tiefer hinein, bis das Wasser an seinem Kinn leckte, und dann begann er zu schwimmen.

Er war nicht mehr geschwommen, seit er ein Junge war und mit seinen Brandybock-Vettern in Fluss spielte. Hobbits schwammen üblicherweise nicht, aber die Brandybocks taten es, und er war einer der Besten gewesen. Als Merry alt genug wurde, brachte er es ihm bei, und sie veranstalteten Wettbewerbe – unter Wasser, damit die Zuschauer am Ufer nicht wussten, wer gewann, bis einer ihrer Köpfe an der Markierung auftauchte. Er grinste bei der Erinnerung und schluckte einen Mund voll von dem sprudelnden Wasser.

Er hatte nicht damit gerechnet, und ohne nachzudenken, atmete er es ein. Für einen Moment fürchtete er sich, zum ersten Mal im tiefen Wasser seit wie vielen Jahren? Ich werde ertrinken, dachte er, genau wie meine Eltern – und dann begriff er, dass er weder gehustet noch gewürgt hatte. Er hatte das Wasser eingeatmet, als hätte er sich in einen Fisch verwandelt!

Er drehte sich fassungslos um und blickte an seinem Körper hinunter. Nein, kein Fisch. Aber wo hatte er seine Kleider verloren? Kein Wunder, dass sich das Wasser so großartig anfühlte: er schwamm nackt! Und was würde Tante Eglantine wohl dazu sagen, dachte er mutwillig und kicherte beim bloßen Gedanken daran.

Aber er hatte das Wasser geatmet, oder wenigstens kam es ihm so vor. Konnte er es wohl noch einmal tun? Er tauchte sein Gesicht hinein und versuchte es. Ein kleiner, flacher Atemzug, um es auszuprobieren – da war keinerlei Unwohlsein, es war genauso, wie Luft zu atmen. Er hob sein Gesicht und lachte triumphierend in die Luft hinein; dann tauchte er, weiter und weiter hinunter bis auf den sandigen Grund, geschmeidig und rasch wie eine Elritze.

Dies war Schwimmen, wie er es sich nie erträumt hatte. Keine Spur von Angst, keine Hast, wieder hinauf an die Luft zu gelangen, bevor ihm der Atem ausging. Das Wasser prickelte köstlich an seiner Haut, aber es brannte ihm nicht in den Augen. Er schwamm entspannt, die Augen weit offen, und erforschte eine Welt, die er sich nie vorgestellt hatte.

Fische in allen Schattierungen des Regenbogens strichen an ihm vorbei. Ein kleiner, gefärbt wie ein grüner Apfel, prallte gegen seine Nase und drehte zu einer Seite ab. Er versuchte, nicht zu lachen, dann erinnerte er sich, dass er Wasser atmen konnte und lachte trotzdem. Ein Strom von Bläschen drang aus seinem Mund und er rollte sich auf den Rücken. Er trieb wie Seetang ein paar Fuß über dem Grund und sah, wie die Bläschen an die Oberfläche stiegen, ein Tuch aus leuchtendem Silber weit oben. Wieder lachte er, halb aus Freude, halb aus dem Vergnügen heraus, noch mehr Bläschen zu beobachten.

Er fuhr mit den Fingern über den sandigen Grund und störte einen Flusskrebs. Er starrte ihn an – das war kein gewöhnlicher Flusskrebs. Er war in blassem Pink und Flieder gemustert und schillerte wie Perlmutt. Er krabbelte davon – immerhin bewegte er sich wie ein normaler Flusskrebs - und Frodos Aufmerksamkeit wurde von dem Stein angezogen, hinter dem er sich verborgen hatte.

Der Stein war rau und uneben, so groß wie seine Faust, und er leuchtete purpurn in dem klaren Wasser. Er nahm ihn in die Hand und fuhr mit den Fingern darüber hin. Rau, viele zerklüftete Spitzen und Einkerbungen, und doch war jede einzelne Facette so glatt wie Glas. Amethyst? Ein großer, purpurner Fisch schwamm langsam an ihm vorbei, nur eine Schattierung dunkler als der Stein in seiner Hand.

Ein purpurner Fisch. Ein Brocken Amethyst in einem sandigen Flussbett. Wasser atmen, wo er schon einmal dabei war.

Dies war der seltsamste Traum, den er je gehabt hatte, und er dachte, er hätte zu seiner Zeit ein paar sehr seltsame gehabt. Allerdings auch noch nie einen, der so angenehm war.

Etwas packte ihn am Knöchel und hielt seine Vorwärtsbewegung auf. Wieder nagte Furcht an seinem Geist, und er drehte sich um, um zu sehen, was es war. Was er sah, sorgte er dafür, dass er den Amethyst fallen ließ und in schierer Verblüffung gaffte.

Pippin?

Dies war ganz entschieden der beste aller Träume. Er würde niemals daraus aufwachen, nicht, wenn er es verhindern konnte. Er hatte Pippin seit – seit sechzig Jahren nicht mehr gesehen? Er hatte in Tol Eressëa sein Zeitgefühl verloren. Aber hatte Sam nicht sechzig Jahre erwähnt? (Und wo war Sam? Sollte Sam nicht auch in diesem Traum sein?)

„Ich wusste nicht, dass du schwimmen kannst,“ sagte er und schickte einen weiteren Strom Blasen nach oben. Seine Stimme klang merkwürdig unter Wasser, hohl und langsam.

Pippin grinste – wie gut er sich an dieses schräge Grinsen erinnerte! „Es ist kein großes Kunststück, wenn du Wasser atmen kannst. Wirst du den ganzen Tag hier unten bleiben, Vetter?“

Frodo wand seinen Knöchel aus Pippins Griff frei und versuchte auf dem Grund des Flusses einen Handstand. Er schaffte es, ihn ein paar Herzschläge lang zu halten, bevor die Strömung ihn umkippen ließ. Eine Krabbe wieselte zwischen seinen Händen hindurch. Eine strahlend blaue Krabbe. Er folgte ihr mit den Augen.

„Warum nicht?“ sagte er. „Es gefällt mir hier unten. Vielleicht werde ich von jetzt an hier leben. Ich grabe eine Höhle in den Sand und bin der erste Hobbit, der unter Wasser haust.“

„Das kannst du später machen. Da oben wartet jemand auf dich.“ Pippin packte ihn am Handgelenk, um ihn an die Oberfläche zu zerren, aber ein eigenartiger Ausdruck huschte über sein Gesicht und er hielt inne.

„Frodo? Was ist mit deiner Hand passiert?“

Seine Freude an dem Traum war augenblicklich dahin. Wenn er das Aussehen seiner Hand erklären musste – und ausgerechnet Pippin, der gut genug wusste, was damit passiert war -

Seit Mordor war seine Hand eine brennende Schmach für ihn gewesen, sein fehlender Finger eine ständige Erinnerung an sein Versagen. Seine – Unwürdigkeit. Er kämpfte sich frei, stieß sich mit beiden Füßen vom Grund ab und schwamm der Oberfläche entgegen, so schnell er konnte. Pippin holte auf, als er die Untiefen erreichte und aufstand, bis zur Hüfte im Wasser.

„Frodo, warte! Schau deine Hand doch mal an!“

Er schaute – und er glaubte es nicht. Er hielt die andere Hand hoch – unmöglich, dass er vergessen haben konnte, welche Hand nur vier Finger hatte! – aber nein, sie waren beide gleich. Fünf Finger an jeder Hand. Da waren keine Narben; die Haut war glatt und unversehrt, nur seine Fingerspitzen waren runzlig vom Wasser. Er hielt sie hoch in das Tageslicht, er starrte voller Staunen und Erleichterung, und Tränen liefen ihm unbemerkt über das Gesicht. Seine Schande war von ihm genommen worden.

„Jedes Mal, wenn ich dich treffe, weinst du, Frodo,“ sagte eine Stimme vom Ufer. „Komm jetzt heraus, Kind.“

Dicht am Wasser stand der Mann, dem er in Tol Eressëa begegnet war. Er hatte ihn erst einmal gesehen, und da hatte er tatsächlich geweint – geweint, wie es er nicht mehr getan hatte seit dem Tag, als man ihm sagte, dass seine Eltern tot waren.

Ilúvatars Sohn hatte dieser Mann sich genannt. Und er hatte dafür gesorgt, dass Frodo seinem Kummer und seinem Schmerz um den Ring und der Art, wie er vernichtet worden war, ins Gesicht sah, und dann hatte er all das fort genommen. Frodos Herz war wieder heil und ganz geworden, und nur seine verstümmelte Hand war geblieben, um ihn an sein Versagen zu erinnern. Nun war selbst diese Hand geheilt.

„Du! Du hast das getan!“ rief er und hielt seine Hände hoch, damit der Mann sie sehen konnte. „Wie hast du - ! Danke!“

Er fing an, aus dem Wasser zu waten, dann blieb er verwirrt stehen. „Herr, ich – äh---“ Er sah an sich herunter und errötete.

„Du bist so, wie ich dich geschaffen habe, Frodo. Komm aus dem Wasser.“

Er watete heraus, die Augen unverwandt auf den Sohn gerichtet; er versuchte, sich nicht verlegen zu fühlen. Er stand vor ihm, tropfend nass und nackt, und es spielte keine Rolle – er vergaß alles andere in dem völligen Verstehen in diesen Augen, die seinen Blick festhielten. Hier war Einer, der ihn besser kannte, als er sich selbst kannte. Und der ihn liebte – mehr als er sich selbst liebte.

„Ich möchte nicht, dass du dich schämst, Frodo. Du bist mein Diener, und mein sehr geliebtes Kind.“

Die Liebe streckte sich zu ihm aus und erfüllte ihn. Ein leerer Ort tief in ihm füllte sich, als hätte er sein ganzes Leben lang auf dies hier gewartet, und er war vollständig. Der Sohn öffnete seine Arme und Frodo schritt in die Umarmung hinein, als wäre er wahrhaftig ein Kind... als ob das Schicksal von Mittelerde niemals um seinen Hals gehangen und ihn an den Rand der Vernichtung gezerrt hätte.

Und Pippin stand da und schaute zu, und er glühte im Abglanz ihrer Freude.


Top          Nächstes Kapitel          Stories          Home