Harthad Uluithiad
von Aratlithiel, übersetzt von Cúthalion


3. Kapitel
Cormallen

Nach Hause. Auf dem Weg nach Hause und zum ersten Mal in zahllosen Monaten wusste er es, er wusste wirklich, was das bedeutete. Erinnerungen, die langsam, flüchtig und traumartig zu ihm zurückkehrten, waren jetzt mit einer scharfen Klarheit in seinem Geist verstreut und suchten ihn in den eigenartigsten Momenten unerwartet heim. Wie hatte er nur vergessen können?

Der sanfte Abhang des Bühls, schockierend smaragdgrün gegen die kobaltblaue Leinwand eines Augustnachmittages; der wogende Anblick von Bockland, lohbraun und duftend von den Nachwehen der Ernte. Er sah jetzt all das, und die Tatsache, dass er so lange nicht imstande gewesen war, and dunklen Orten Trost daraus zu ziehen, machte es jetzt nur noch lindernder für ihn. Nachdem er so lange in seinem Herzen gewusst hatte, dass es für immer für ihn verloren war, reichte es nun aus, einfach auf dem Weg in seine Richtung zu sein, um dieses sein Herz zu beruhigen und seinen Geist zu befrieden, wie es nichts anderem gelungen wäre. Er war auf dem Weg nach Hause und das... das war alles, was er sich gewünscht hatte.

Er rutschte mit einem gedämpften Grunzen in seinem Sattel herum. Der Schuss Silber in seinem Haar war nicht das einzige Zeichen von Alter und Mühe, das sich gezeigt hatte. Es schien, als ob jedes einzelne der Jahre, das er im Besitz des Ringes verbracht hatte, jetzt seinen Körper angriff – als Vergeltung dafür, dass er sich ihnen zuvor verweigert hatte. Seine Knochen schmerzten von der Erschöpfung einer langen Reise wie nie zuvor, und er war ewig dankbar für jeden Aufenthalt, der ihm auf dem Weg Ruhe und Erfrischung bot.

Ironischerweise war er auch für genau diese Schmerzen dankbar, die ihn bei jeder Unebenheit der Straße ein Gesicht ziehen ließen. Die Wirkungen des Ringes auf seinen Körper ließen nach. Vielleicht war es nicht zuviel zu hoffen, dass andere Dinge es auch tun würden.

Scharfe Pein durchzuckte seinen Rücken, als das Pony stolperte, und er fluchte farbig in sich hinein. Er langte mit der Hand nach hinten, um sich ins Kreuz zu fassen und hielt mitten in der Bewegung inne, als er sah, dass der König mit einer Mischung aus Humor und Besorgnis auf ihn herunterschaute.

„Geht es dir gut, Frodo?“ fragte Aragorn, ein unsicheres Lächeln um die Mundwinkel. Frodo konnte den oberen Teil von Sams Lockenkopf sehen, der sich auf der anderen Seite von Aragorns Schlachtross nach oben reckte, um einen Blick zu erhaschen.

Frodo lächelte bitter. „Ich fange an, das regelmäßige Keuchen und Stöhnen zu verstehen, das ich so oft von Gandalf höre“, sagte er. „Es scheint mir, als ob es nicht so leicht ist, etwas älter zu sein, wie ich es mir vorgestellt hatte.“

Aragorn lachte. „Wenn du etwas älter bist, Frodo, dann bin ich uralt.“ Er warf dem Hobbit einen strengen Blick zu. „Und ich bin nicht uralt.“

„Wie du wünschst, mein Gebieter“, lachte Frodo. „Ich werde dir deine kleine Eitelkeit nicht übel nehmen. Aber nach der Zählweise meines Volkes bin ich wenigstens mittleren Alters, und ich fange an zu fürchten, dass dieses Pony, das du mir liebenswürdigerweise geschenkt hast, mir nicht gestatten wird, meine späteren Jahre zu erleben.“

Aragorn tat beleidigt. „Wenn du mein Geschenk nicht zu schätzen weißt, mein lieber Frodo, dann werde ich mich glücklich schätzen, es wieder in Besitz zu nehmen und dir zu gestatten, den Rest des Weges zu laufen.“

Frodo hob eine Augenbraue. „Das glaube ich keine Sekunde, Meister Heiler.“ sagte er mit einem Lächeln.

„Heda!“ rief Sam von Aragorns Seite herüber. „Was geht denn da drüben vor?“

Aragorn warf Frodo ein blitzendes Grinsen zu. „Gar nichts, Meister Gamdschie“, scherzte er. „Frodo fällt von seinem Pony und ist entschlossen, den Rest des Heimweges zu Fuß zu gehen.“

Es kam ein erschrockenes Grunzen und Hufgeklapper, und plötzlich befand sich Sam an Frodos Seite und beäugte ihn ängstlich.

„So was wird er nicht tun!“ erklärte Sam mit Festigkeit. Er starrte auf das übereinstimmende Grinsen bei seinem Herrn und dem König und wurde rot. „Oh, ich verstehe“, nörgelte er gereizt. „ihr habt euren Sam zum Besten, oder? Das ist nett, wirklich.“

Frodo streckte die Hand aus, klopfte Sam auf den Rücken und schnaubte. „Entspann dich, Sam“ sagte er fröhlich. „Wenn ich eine Glucke brauche, dann wirst du der erste sein, dem ich das mitteile.“

„Du wirst entschuldigen, dass ich das sage, Herr Frodo, aber wenn ich diesem Versprechen trauen könnte, dann bräuchtest du keine Glucke, oder nicht? Nebenbei“, fuhr Sam fort, „es ist weniger eine Glucke als gesunder Hobbitverstand.“

„Was heißt, dass ich keinen habe“, neckte Frodo, das Grinsen noch immer hell auf seinem Gesicht.

Sam errötete noch tiefer. „Nun, das ist es nicht, was ich gesagt hab, Herr.“

„Nein, aber ich bin sicher, das es das war, was du gemeint hast, lieber Sam“, sagte Frodo. Sam fing an zu protestieren, und Frodo gab ihm einen liebevollen Schlag auf die Schulter. „Keine Angst, edler Samweis. Deine Worte und ihre Bedeutung werden beide wohl aufgenommen und geschätzt. Ich werde mich deinem Urteil beugen, wenn es um den Verstand geht und ich versichere dir, dass ich keinerlei Absichten hege, das Reiten in nächster Zeit aufzugeben. Wenn der König den Wunsch hat, sein Pony zurückzunehmen, dann wird er mich schon davon herunter stoßen müssen.“

„Eine beängstigendere Aufgabe kann ich mir nicht vorstellen, da ich sicher bin, ich müsste durch Meister Samweis hindurch, um sie zu vollbringen“, lachte Aragorn.

Sam war den beiden einen Seitenblick zu, schaute finster drein und schüttelte den Kopf. Er beäugte seinen Herrn verstohlen aus den Augenwinkeln. Er sah noch nicht sehr gut aus, aber Sam musste zugeben, dass er besser aussah. Anders war, dass er ein wenig Farbe im Gesicht hatte, und obwohl seine Augen noch immer von Erschöpfung und Schwermut verschattet waren, gab es ein Glitzern in ihnen, das Sam allzu lange nicht mehr gesehen hatte.

Bring ihn nach Haus, Samweis, dachte er bei sich, bring ihn nach Haus und die Dinge kommen wieder zurecht. Frodo ertappte ihn beim Starren, und Sam errötete und wandte sich rasch ab.

Frodo legte ihm eine sanfte Hand auf den Arm. „Es wird alles gut, Samweis.“ murmelte er mit gesenkter Stimme.

Sam formte seine Züge zu einem sonnigen Lächeln. „Klar wird’s das, Herr“, sagte er heiter. „Da hab ich gar keinen Zweifel.“

*****

Frodo spähte mit wachsender Beklemmung von seinem Pony herunter, das Gesicht finster. Er sah einer schwierigen Entscheidung entgegen und es war nicht leicht, das geringere dieser beiden Übel zu wählen.

Wieder schaute er hinunter und murmelte etwas vor sich hin. Wenn er ehrlich war mit sich selbst, dann würde er zugeben müssen, dass der kurze Absprung mehr war, als er heute hinbekommen würde, so, wie seine Gelenke weh taten, und mit dem dumpfen Rhythmus, der hinter seinen Augen pochte. Er fühlte sich schrecklich, und die Tatsache, dass er hoffnungslos auf seinem eigenen Pony fest saß, ließ seinen Kopf nur noch mehr schmerzen.

Also schön, alter Junge, entweder versuchst du, alleine hinunter zu klettern und endest als zerknitterter Haufen im Dreck, oder du bittest mit so viel Würde, wie du kannst, um Hilfe. Komisch, dass es ihm nur ein paar Stunden zuvor, als er zum Frühstück abgestiegen war, nicht so hoch vorgekommen war.

Er sah sich nach den Menschen und Elben um, die damit beschäftigt waren, das Gelände vorzubereiten, wo die Gruppe für den Mittagsimbiss rasten würde. Wo zum Henker war eigentlich Sam, zum Donnerwetter? Er hatte sich beinahe schon entschieden, das Pony zu einem Baum außer Sichtweite hinüber zu lenken und ihn als Stütze zum Absteigen zu benutzen, als Merrys Stimme an seinem Elbogen ihn aufschreckte... und er hätte sein äußerst würdeloses Problem beinahe dadurch gelöst, dass er in seiner Überraschung aus dem Sattel purzelte.

„Lieber Himmel, Frodo, was in aller Welt wolltest du denn da versuchen?“ rief Merry aus. Er packte Frodo um den Leib, hievte ihn aus dem Sattel und hielt ihn aufrecht, bis er wieder fest auf den Füßen stand.

Frodo warf Merry einen vernichtenden Blick zu. „Ich habe versucht, abzusteigen, ohne auf mich aufmerksam zu machen.“ gab er gereizt zurück und schlug nach den Händen seines Vetters. „Nimm freundlicherweise deine Hände weg, du riesiger, grobschlächtiger Rüpel.“

Merry schnaubte. „Dann lasse ich dich das nächste Mal einfach auf den Kopf fallen. Grobschlächtiger Rüpel, also wirklich.“ Er gab Frodo frei und trat zurück, während sein Vetter ein großes Theater daraus machte, seine Jacke glatt zu ziehen und sie penibel abzubürsten. Er warf ihm einen abwägenden Blick zu. „Geht’s dir gut, Frodo? Du siehst scheußlich aus.“

Frodo hörte mit der Kleiderpflege auf und sah seinen Vetter mit schmalen Augen an. „Auf der Suche nach meiner guten Seite heute, wie ich sehe, Meriadoc“, erwiderte er ungeduldig. „Es geht mir gut. Danke für deine Besorgnis und Unterstützung.“ Er packte die Zügel des Ponys und machte sich daran, es zu den anderen hinüberzuführen, die ein kurzes Stück weit weg im Gras standen.

„Frodo“, rief Merry hinter ihm her.

Frodo hielt an und drehte sich um; er wappnete sich gegen besorgte Augen und Fragen über seine Gesundheit und seine Schlafgewohnheiten. Er war überrascht zu sehen, dass Merry eine Augenbraue hob und ihn spitzbübisch anlächelte.

„Es ist nett, dich wiederzuhaben, Vetter“, sagte er und schlenderte von dannen.

Frodo starrte einen Moment hinter ihm her und sein Mund verzog sich zu einem widerwilligen Lächeln. Er wandte sich ab, um sein Pony abzuliefern und sich etwas zum Mittagessen zu suchen.

*****

Das läuft überhaupt nicht gut, dachte er verzweifelt bei sich. Er hatte schon seit einer Weile versucht, sich dazu zu überreden, seinen schmerzenden Körper von der Decke hoch zu zerren und sich zum Pony hinüberzuschleppen, aber besagter Körper schien augenblicklich nicht die Absicht zu haben, mitzuspielen. Sein Kopfweh hatte sich stetig bis zu einem kreischenden Pochen weiter entwickelt, und jedes einzelne seiner Glieder fühlte sich schwach und zittrig an. Seine Schulter pulsierte mit einem eisigen Schmerz und er hatte ernsthafte Zweifel, dass er auch nur imstande sein würde, die Zügel zu halten, wenn er erst einmal aufgestiegen war. Allein der Gedanke, wieder zurück auf sein Pony zu klettern, ließ ihn die Zähne zusammen beißen – er zögerte, sich auch nur auszumalen, wie es war, darauf zu sitzen und durchzuhalten, bis sie zum Abendessen und Schlafen anhielten.

Sam hatte seinen leeren Teller vor einer Weile mitgenommen und gesagt, er würde nach den Ponys sehen und sich mit ihm treffen, wenn es Zeit war, aufzubrechen. Er hatte zwischen jedem Bissen unablässig über die verschiedenen Mitglieder der Gruppe geplaudert – seine Faszination von den Elben wurde in keiner Weise durch ihre Gesellschaft gemindert. Frodo war es gelungen, sein wachsendes Unbehagen dadurch zu verbergen, dass er während Sams Pausen unverbindliche Geräusche von sich gab und hauptsächlich seine Augen abwandte.

Aber nun war er an dem Punkt, wo er sich entweder bewegen oder riskieren musste, dass jemand merkte, dass er der einzige war, der noch nicht aufgestiegen und bereit zum Aufbruch war. Er dachte, Aragorn würde es ein wenig eigenartig finden, einen leeren Sattel neben sich zu entdecken, also kämpfte er sich auf die Knie und hielt inne, damit die Welt sich langsamer drehte, bevor er versuchte, seine Füße davon zu überzeugen, dass sie ihn trugen.

Er schloss einen Moment die Augen und rang um sein Gleichgewicht. Er erschrak, als er eine Hand an seinem Ellbogen fühlte, blickte auf und entdeckte Elrond, der sich über ihn beugte, ein warmes Lächeln auf seinem schönen Gesicht.

„Kann ich dir irgendwie behilflich sein, Frodo?“ fragte er.

Frodo blickte sich rasch um und dann, als er sah, dass niemand ihnen Aufmerksamkeit schenkte, lächelte er den Elbenherrn verlegen an und nahm die angebotene Hand.

„Danke, Herr Elrond“, sagte er. „Bloß ein bisschen reisemüde heute, nehme ich an.“

„Ist dir nicht wohl?“ fragte Elrond und betrachtete ihn aus der Nähe. „Du siehst aus, als könntest du etwas mehr Ruhe brauchen. Vielleicht kann der Rest der Gruppe---“

„Nein“, sagte Frodo rasch. Er atmete hastig ein und versuchte, sich zu beruhigen. „Nein, danke, obwohl ich Eure Besorgnis zu schätzen weiß. Es geht mir ganz gut. Danke für Eure Hilfe, Herr Elrond.“

Der Elb warf ihm einen scharfen Blick zu. „Du vergisst, mit wem du sprichst, Frodo“, sagte er mit strenger Stimme. „Es geht dir nicht gut, und du versuchst, das vor deinen Freunden zu verheimlichen. Glaubst du, dass du ihnen oder dir einen guten Dienst erweist, indem du solche Dinge verbirgst?“

Frodo schaute einen Augenblick zu Boden und dann wieder trotzig zu Elrond auf.

„Was ich für meine Freunde tue oder nicht tue ist meine Entscheidung“, konterte er. „Ich würde ihnen oder mir keinen guten Dienst erweisen, wenn ich den Sorgen, die sie bereits haben, noch mehr hinzufüge. Ich möchte nicht, dass sie sich über Dinge bekümmern, die man nicht ändern kann.“ Er hielt inne. „“Ich möchte nicht respektlos sein, Herr, aber sie alle haben mehr für mich getan, als ich irgend das Recht hatte, sie zu bitten. Ich möchte ihre Sorgen nicht vermehren.“

Elrond runzelte die Stirn. „Aber dir ist doch sicher klar, dass sie es aus Liebe getan haben?“

„Natürlich“, antwortete Frodo. „Und aus Liebe zu ihnen habe ich die Wahl getroffen, sie nicht weiter zu belasten. Es ist die einzige meiner Entscheidungen in letzter Zeit, dich ich tröstlich finde.“

Elrond schüttelte den Kopf. „Meine Tochter hat die Wahrheit gesagt“, meinte er. Frodos Augen blitzten auf und er öffnete den Mund, um zu sprechen, aber Elrond hob die Hand. „Wir werden nicht jetzt darüber reden, Ringträger. Aber ich denke, es wäre weise, dass wir darüber reden, bevor unsere gemeinsame Reise endet. Such mich heute Abend auf, wenn du es wünschst. Jetzt warte hier und ich werde schauen, was ich in meinen Taschen habe, um dein Unwohlsein zu lindern.“

Er ging davon und Frodo sah ihm dabei zu. Er überlegte, sich wieder hinzusetzen, bis Elrond zurückkehrte, aber der Gedanke daran, dass man ihm erneut auf die Beine helfen musste, überzeugte ihn davon, zu bleiben, wo er war. Es dauerte nicht lange, bis der Elbenherr sich ihm wieder näherte und ihm zwei lange, ölige Blätter hinhielt.

„Zerkau die hier zu einem Brei und schluck den Saft hinunter“, sagte er. „Du kannst sie hinterher ausspucken. Sie werden deiner Schulter nicht helfen, aber sie werden dich von deinen Kopfschmerzen befreien und sollte den Schmerz in deinen Gelenken lindern.“

Frodo blickte argwöhnisch zu ihm auf. „Woher wusstet ihr...?“

Elrond warf ihm einen schrägen Blick zu, „Ich glaube, der Einzige, der deine Verletzungen und Schmerzen besser kennt als ich selbst, ist der König“, erwiderte er. „Aber nachdem du dich entschieden hast, dies vor ihm zu verbergen, wirst du mit mir zurecht kommen müssen.“

„Danke, Herr Elrond“, murmelte Frodo verblüfft und steckte sich die Blätter in den Mund. „Vergib mir, wenn ich unverschämt war. Ich bin erschöpft und heute wohl ziemlich überkreuz, wie es scheint.“

„Du musst dich nicht entschuldigen, Ringträger“, versicherte Elrond. „Ich habe dir einen ungebetenen Rat erteilt. Ich bin es, der sich entschuldigen sollte, denn diese Entscheidungen musst in der Tat du treffen.“

„Ich erwarte ebenfalls keine Entschuldigung“, gab Frodo zurück. „Aber ich werde meine Unverschämtheit fortsetzen, indem ich Euch bitte, mich nicht Ringträger zu nennen.“

„Es ist ein ehrenvoller Titel, Frodo“, stellte Elrond fest. „Darf ich fragen wieso?“

Frodo wand sich unbehaglich unter dem festen Blick des Elben. „Ich trage den Ring nicht länger“, erwiderte er schlicht. „Es ist eine Ehre, die mir nicht länger zusteht, und ich wünsche sie hinter mir zu lassen.“

„Ich werde tun, was du wünschst, Frodo.“ Elrond betrachtete ihn ganz genau. „Aber dir ist doch sicher klar, dass du den Ring immer tragen wirst?“

Frodo erschrak und sah stirnrunzelnd zu Elrond auf. „Ich... ich weiß nicht...“

Elrond legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wie reden später darüber, Frodo.“ erklärte er und ging davon.

Frodo blieb einen Moment stehen und sah dem Elb zu, wie er auf sein Roß stieg. Er ballte die Fäuste, wandte den Kopf ab und spuckte die Blätter aus. Er fuhr sich mit einer zitternden Hand durch das Haar, holte tief Atem und machte sich auf den Weg zu seinem Pony.

*****

Der Duft nach Salzwasser, voll und stechend in seiner Nase, und aus der Entfernung der schwache, melancholische Klang einer Glocke. Er schließt die Augen und lässt sich vom rhythmischen Dröhnen in seinem Kopf beruhigend erfassen und einhüllen. Der Wind fängt sein Haar ein und hebt es mit Fingern aus nebliger Gischt von seiner Stirn; sie küssen seine Augenlider, liebkosen seine Wange und tanzen warm und nass auf seinen geöffneten Lippen.

Etwas pulsiert in seiner Faust, etwas Lebendiges, Singendes, fest von seiner Hand umschlossen. Er hebt die Hand, öffnet die Augen und weiß, was dort liegt, um ihn in diesem Augenblick der Rast zu verhöhnen. Die Finger strecken sich und ihm entfährt ein Keuchen. Nicht golden, rund und vollkommen, sondern weiß, uneben und fehlerhaft. In einem Bett aus glitzerndem Sand liegt es in seiner Hand, und die Hand erzittert unter seinem Pulsschlag des Lebens. Er erkennt die Muschel, obwohl er noch nie eine gesehen hat, und er wundert sich nicht über dieses unerwartete Wissen.

Er schließt seine Faust darum, denn er wagt nicht, sie zu verlieren. Er weiß es nicht, aber er spürt, dass sie sein Leben und sein Herz enthält, und ist sie einmal dahin, dann wird auch er es sein. Also klammert er sich daran und zerbricht sie fast in seiner verzweifelten Liebe.

Da ist ein Fallreep zu seinen Füßen und er schaut auf. Da, fast im Dunst der Brandung verborgen, liegt einladend ein graues Schiff, und er geht. Er öffnet die Faust, um seinen Schatz zu betrachten; dann lächelt er und schließt seine Finger wieder schützend darum.

Die Küste voraus glitzert im Zwielicht, Strände aus Edelsteinen, Klippen aus Elfenbein und Riffe aus Ebenholz gegen das Silber der mondnebligen See. Er läuft durch die Untiefen, nass bis zu den Knien, und weißer Sand rinnt ihm warm und geschmeidig zwischen den Zehen hindurch.

Ein Echo von einer weit entfernten Hügelspitze ruft ihn, die süße Musik von Flöten und lispelnden Stimmen klingt zu ihm hinüber, um ihn näher zu locken. Die See hinter sich, das Gelächter vor sich, lächelt er und stellt fest, dass er den Hügel erklimmt, seinen Schatz fest im Griff. Sie tanzen dort oben auf der Hügelspitze, und vielleicht darf er sich anschließen, vielleicht ist er willkommen.

Er erreicht den Kamm; plötzliche Stille dröhnt ihm kalt und jammervoll in den Ohren. Er ruft, aber sie sind vor ihm davon gerannt, das niedergetretene Gras ein beredtes Zeugnis von den raschen Pfaden ihrer Flucht. Seine Kostbarkeit hat hier keinen Platz, und willkommen ist er nicht. Und doch ist sie alles, was ihm geblieben ist, und er wird sie nicht loslassen – nicht für einen wirbelnden Tanz auf einer weit entfernten Hügelspitze an diesem beraubten, edelsteinübersäten Ort. Er umklammert sie, unwillig, sie zu preiszugeben, die Faust noch fester darum gekrampft. Die Muschel in seiner Hand pulst in ihrem Rhythmus und weint in seiner Handfläche.

Das Schiff wartet noch, also geht er einmal mehr an Bord, voll Sehnsucht nach Zuhause. Verzweifelt hält er sich an der Muschel fest; seine Liebe, seine Heimat, sein Volk. Die schönen Mädchen auf dem Hügel hätten getanzt und ihn bis zur Atemlosigkeit herumgewirbelt, lächelnd auf diesem smaragdgrünen Gras, aber oh! um welchen Preis! Ein viel zu kostbarer Preis für den tauperlenden Kuss von einem schönen Mädchen unter einem juwelenbesternten Himmel, umgeben von lispelnden Flöten und Gelächter.

Wieder tritt er hinein in die Brandung und er weiß, er ist daheim, also lächelt er und ballt die Faust um seinen Preis. Hier würden sie ihn nie von ihm fordern. Hier gibt es keinen Preis, nur seine Liebe zu ihnen – und die überlässt er ihnen willig.

Der Regen beginnt in dem Grau, das ihn umgibt, hernieder zu trommeln und wäscht den Kuss des Meeres fort. Er treibt die Straße hinunter, seinem Zuhause entgegen, der Liebe entgegen. Er grüßt die dunstigen Geistergestalten au dem Weg, aber er wird nicht erkannt, er wird nicht gesehen. Die Fenster, an denen er vorbeikommt, einst fröhlich glühend von flackerndem Kerzenlicht, verbergen sich jetzt in der Finsternis hinter Brettern, die die Geister von Lachen und Gesang gefangen halten.

Leer. Er kennt sie gut. Im Phantom seiner Seele sind sie seine Brüder.

Er erreicht seine eigene Tür, aber sie ist ihm versperrt, die Fenster kalt und drohend, ohne einen Hauch des Trostes, den er sich auf seinem Weg so sehr gewünscht hat. Seine Freunde gehen an ihm vorbei, düster und ohne ihn zu sehen.

Das Begreifen packt ihn und seine Tränen schmecken nach der See, bitter von der Kälte des Regens, der auf sein Gesicht fällt. Er klagt in den Nebel hinein; ein Lied von Trauer und Verlust fängt sich grausam und scharfkantig in seiner Kehle.

Seine Liebe war nicht genug, sein Bestes ein bleiches, unerwünschtes Geschenk. Er wandelt als Schatten unter seinen Gefährten, ein gemiedener Geist, beschämt in seinem Kummer.

Er ist ein Geist. Er ist vergangen.

Er schaut auf den Schatz in seiner Handfläche und ein Schrei stürzt aus seiner Kehle auf die Erde zu seinen Füßen. Die Muschel ist dunkel und tot... leer.

*****

Frodo erwachte; sein Herz raste, ein Keuchen würgte ihn mit nackter Kälte im Mund. Er lag still und machte sich wieder mit seinem Umgebung vertraut. Er ging nach Hause, er lagerte entlang der Straße, umgeben von Verwandten und Freunden. Er langte nach dem Edelstein um seinen Hals und umklammerte ihn fest.

Einen Moment blieb er in seine Decke gewickelt liegen, kalten Schweiß auf der Stirn. Sein Atem kam in schnellen, heißen Stößen. „Ein Traum“, dachte er und versuchte sich zu beruhigen. Kein Geist, nicht allein. Er lag hier in seinem Schlafsack, Merrys Arm quer über die Brust geworfen und Sams Gesicht in seinem Ärmel vergraben. In Sicherheit.

Sanft hob er den Arm seines Vetters hoch und schlüpfte aus dem dicht zusammengedrängten Nest aus Hobbits auf dem Boden. Noch immer brannten die Überreste eines Feuers in der Mitte des Lagers, und Frodo musste blinzeln, um die Gestalten deutlich zu sehen; sie saßen still wie aus Stein unter den Sternen, die kalt vor dem samtigen Schwarz eines schwülen Augusthimmels strahlten.

Ein Wispern lag in der Luft; ein entferntes Lied, das er weniger mit den Ohren und mehr mit dem Geist wahrnahm. Er wandte seine Gedanken der Musik zu, und obwohl er die Bedeutung weder hören noch erkennen konnte, begriff er, dass die Gestalten, die ihm wie Statuen vorkamen, weich und flüchtig in die Nacht gezeichnet, die Ringträger waren, und dass sie nun Rat hielten. Graue Gestalten in der Nacht, Umrisse, die mit der abendlichen Finsternis verschwammen, wenn er nicht sorgfältig hinschaute. „Geister“, dachte er, „sie vergehen“, und er schauderte.

Ein kapuzenverhüllter Kopf drehte sich, und er spürte, wie graue Augen die Dunkelheit durchbohrten, die sich auf seine Seele gesenkt hatte. Eine plötzliche Kälte berührte seine Haut und einen Moment lang wünschte er sich, er hätte sich einfach in seiner Schlafrolle umgedreht und wäre wieder eingeschlafen. Die Gestalt stand auf, nickte den anderen zu und kam auf ihn zu; sie schob die Kapuze zurück und enthüllte das rabenschwarze Haar und das bleiche Antlitz von Herrn Elrond.

Der Elbenherr kam vor ihm zum Stehen und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Komm, Frodo.“

Frodo folgte ihm zu einer kleinen Lichtung außerhalb des Kreises von Schlafrollen und schlummernden Gestalten. Die Ponys und Pferde wieherten einander leise zu und suchten die Ruhe, der sich ihre Herren bereits überließen. Elrond hielt an, setzte sich und gab Frodo mit einer Geste seiner Hand zu verstehen, dass Frodo das Gleiche tun sollte. Frodo gehorchte und betrachtete den Elbenherrn wachsam.

Elrond streckte die Hand aus und nahm den Abendstern sachte in seine langen Finger. Frodo ließ es zu und sah ihn schimmern; Sternenlicht glitt über die Oberfläche und blitzte einen Gruß hinauf zum Himmel.

„Es ist schwer, dies den Hals eines anderen zieren zu sehen“, flüsterte Elrond leise.

Frodo wusste nicht, was er sagen sollte, also blieb er still.

„Es ist keine einfache Sache, jemandem Lebwohl zu sagen, den du liebst, und zu wissen, dass er vergehen wird.“ Elrond ließ den Edelstein aus den Fingern gleiten und er ruhte an seiner Kette wieder auf Frodos Brust.

Frodo betrachtete das schöne Gesicht vor sich, so voller Bedauern und Kummer, dann schlug er die Augen nieder.

„Es tut mir Leid, Herr“, sagte er. „Ich wollte dir keinen Schmerz zufügen.“

Elrond lächelte weich. „Nicht du bist es, der mir Schmerz zugefügt hat, Frodo, sondern das, was du getragen hast und der eine, der es schuf. Unsere Zeit ist jetzt, da der Ring fort ist, zu Ende, und alles was an Ihn gebunden ist, wird jetzt vergehen. Es ist, wie es sein sollte.“

Frodo nickte und schwieg.

„Ich hätte gern, dass du dieses Geschenk verstehst, Frodo“, sagte Elrond zu ihm. „Es ist keine kleine Angelegenheit.“

„Mir ist seine Größe wohl bewusst, Herr“ versichte Frodo. „Und ich glaube, ich verstehe gut genug. Die Königin bat mich, es zu tragen und mich davon trösten zu lassen, wenn der Schatten ruft. Ich darf es für die Überfahrt in den Westen nutzen, wenn ich das wünsche.“ Frodo hielt inne und sah Elrond voll Unbehagen an. „Ich glaube nicht, das dies mein Wunsch sein wird, Herr. Ich möchte nach Hause zurückkehren und dort bleiben. Das ist alles, was ich wollte, seit dem Moment als ich fortging, und ich werde jedes Unbehagen ertragen, damit ich es haben kann.“

„Meine Tochter ist nicht die Einzige, die Maßnahmen ergriffen hat, um dieses Geschenk für dich sicher zu stellen, Frodo“, erklärte Elrond ernst. „Es gab andere, die dies für dich wünschten und für dich gebeten haben.“

Frodo sah ihn überrascht an. „Das wusste ich nicht“, gab er zu. „Wieso sollten so viele hohe Persönlichkeiten sich um meinetwillen so bemühen?“

Elrond lächelte und schüttelte in mildem Staunen den Kopf. „Es ist, wie Arwen mir gesagt hat“, sagte er bewundernd. „Du hältst dich selbst tatsächlich nicht für würdig, nicht wahr, Ringträger?“

Frodo zog eine Grimasse. „Herr“, begann er. „ich möchte dich nicht beleidigen, aber diese Unterhaltung hatte ich schon mehrfach, und langsam werde ich ihrer müde.“

„Dann werden wir sie nicht noch einmal haben, Frodo“, sagte Elrond. „Aber du solltest wissen, dass du der Einzige unter an den ,großen Persönlichkeiten’ bist – wie du sie nennst – der den Ringträger dieser Gabe für weniger als würdig hält.“

„Ich bin wahrhaftig dankbar für das Geschenk und die gute Meinung anderer“, sagte Frodo. Er schwieg einen Moment, die Handflächen schweißfeucht und schlüpfrig in den geballten Fäusten mit ihren weißen Knöcheln. „Herr Elrond“, fuhr er fort, „was, wenn ich das Geschenk zurückweisen würde? Könnte Eure Tochter immer noch segeln, wenn der König gestorben ist?“

„Ein großzügiger Gedanke“ erwiderte Elrond, „aber nein, das könnte sie nicht. Sie hat ihre Wahl getroffen.“

Frodo überdachte das einen Moment. „Was wird dann also geschehen, wenn ich mich entscheide, nicht zu segeln?“

Elrond betrachtete ihn eine lange Weile; seine Augen bohrten sich in die von Frodo, Brunnen der Trauer und der Freude, die sich auf eine Seele von solcher Tiefe öffneten, dass Frodo nicht einmal damit beginnen konnte, ihre wahre Schönheit auszuloten. Frodo war gebannt; er erwiderte den Blick in ehrfürchtigem Staunen.

„Alle in dieser Welt, die von dem Ring berührt wurden, fangen jetzt nach seiner Zerstörung an zu vergehen, Frodo“, erklärte Elrond behutsam. „Verstehst du, was das bedeutet?“

Frodo dachte an seinen Traum zurück und schauderte. Nein. Schließlich war er nur ein Hobbit. Hobbits konnten nicht vergehen. Elben vergingen, so hatte man ihm jedenfalls erzählt, obwohl er nicht wirklich ganz verstand, was damit gemeint war. Aber Elben waren mystische Geschöpfe, und man konnte erwarten, dass sie ein mystisches Ende nahmen. Hobbits waren an die Erde gebunden und sie vergingen einfach nicht. Er runzelte die Stirn.

„Nein“, gab er zu. „Ich denke nicht, dass ich ganz verstehe. Erzählst du mir, dass ich, weil ich den Ring getragen habe, jetzt zu einem Nichts vergehe – es sei denn, ich segle? Dass ich zu einem Geist werde, der heimatlos in der Nacht wandert, nur die Schatten zum Trost?“

Elrond seufzte. „Ich weiß es nicht, Frodo. Ich weiß, was es für mein Volk bedeutet und kann nur raten, was es für dich heißt. Aber du hast deine eigenen Gedanken über die Sache und ich sollte meinen, dass dir dein Herz die Wahrheit sagt, wenn du dich danach sehnst, zuzuhören.“

Plötzlicher Zorn wallte in Frodo auf; er drängte ihn zurück und zwang sich, ruhig zu bleiben.

„Mein Herz sehnt sich nach Zuhause.“ stellte er ruhig fest.

„Verlangen und Wahrheit sind zwei verschiedene Dinge, fürchte ich“, bemerkte Elrond still.

„Bitte sprecht deutlich, Herr Elrond“, sagte Frodo mit dünner Stimme. „Sagt Ihr mir jetzt, dass ich nicht nach Hause gehen kann wegen dem, was ich getragen habe? Bin ich jetzt so gezeichnet, dass der Ort, den ich mein Leben lang geliebt habe, mich nicht mehr haben will?“

„Ich sage nur, dass du auf dein Herz hören musst und dass du das Geschenk nutzen musst, wenn es dir dein Herz sagt“, erwiderte Elrond. „Deutlicher kann ich nicht sprechen, weil ich es schlichtweg nicht weiß.“

Frodo ballte seine Fäuste noch fester. „Ihr habt gesagt, dass andere um meine Überfahrt gebeten haben, wenn ich das möchte. Was ist mit meiner Bitte? Was mit meinem Wunsch, einfach nach Hause zurückzukehren? Das Leben wieder aufzunehmen, dass ich so geliebt habe, bevor es mir genommen wurde? Gibt es darauf keine Antwort?“

„Noch einmal, ich weiß es nicht, Frodo“, gab Elrond zu. „Vielleicht gibt es eine. Aber unsere Wünsche werden uns nicht immer erfüllt, wie du wohl weißt. Ist das etwas, das du riskieren möchtest?“

Frodo seufzte und senkte den Kopf. „Ich weiß nicht“, war die stille Antwort, „ich fühle mich, als ob es niemanden gäbe, der auf meine Bitten hört, und ich bin nicht sicher, dass ich die Antwort bekäme, die ich haben will, wenn es jemand täte. Meine Entscheidungen sind scheinbar schon seit einer ganzen Weile für mich getroffen worden. Ich nehme an, dies ist wohl die letzte.“

„Dieses Geschenk ist keine Bestrafung, Frodo“, beschwichtigte Elrond, „Es ist eine Belohnung für deinen Mut und deine Leiden bei der Verteidigung der Welt. Dir wird Frieden angeboten und die Möglichkeit, deinen Platz in der Welt zu erkennen, ehe du dich entscheidest, sie zu verlassen. Es ist eine große Gabe.“

„Ich verstehe das, Herr Elrond“, sagte Frodo, den Blick zu Boden gerichtet. „Ich würde es aber vorziehen, meine Belohnung selbst auszusuchen, und ich würde alles für die Möglichkeit eintauschen, als alter Hobbit in meinem Bett zu sterben.“

Elrond streckte die Hand aus und legte sie sanft auf ihre Schulter. „Es tut mir Leid, Ringträger.“ sagte er und stand auf, um zu gehen.

„Herr Elrond“, begann Frodo, dann verfiel er in Schweigen.

Elrond blieb geduldig stehen und wartete darauf, dass Frodo seine Gedanken ordnete.

Frodo sah auf. „Ihr sagtet, ich würde den Ring immer tragen. Was habt Ihr damit gemeint?“

Elrond seufzte und setzte sich wieder hin. „Er hat Sein Zeichen auf deiner Seele hinterlassen, Frodo. Die Wunden, die du Seinetwegen davongetragen hast, werden dir bleiben, während du hier in Mittelerde bleibst... und vielleicht sogar noch im Segensreich, wenn das der Weg ist, den du wählst. Ich kann es nicht wissen.“

„Also...“ Frodo hielt inne und schluckte. „Dann werde ich also nie von Ihm frei sein?“

Elrond antwortete nicht.

„Was ist mit Bilbo?“

„Bilbo hat nicht solche Wunden wie du erlitten, noch war Seine Stärke so, wie sie war, als Er sich in deinen Händen befand“, bemerkte Elrond. „Aber er besaß den Ring viele Jahre, und Er hatte tatsächlich seine Wirkung auf ihn. Er darf mit dir segeln, wenn du das möchtest.“

„Aber er kann nicht segeln, es sei denn, ich tue es auch?“

„Ich weiß es nicht, Frodo. Aber dir als dem Ringträger ist das Recht zugestanden worden, in den Westen zu gehen. Vielleicht wird dieses Recht auf alle Ringträger ausgeweitet werden. Ich denke, dass die Überfahrt Bilbo mit dir oder ohne dich gestattet würde, obwohl seine Teilnahme zu dem Geschenk an dich gehört.“

Frodo nickte, aber er sagte lange nichts.

„Es scheint, als ob Eure Tochter Recht hatte, Herr“, sagte Frodo nach einer Weile. „Ich nehme an, es gibt noch immer Entscheidungen, die ich zu treffen habe. Ich danke Euch, dass Ihr mit mir geredet habt.“ Er stand auf, wandte sich zum Lager zurück und lief, so schnell seine steifen Beine es zuließen.

„Frodo“, rief Elrond.

Frodo blieb stehen und drehte sich um.

„Es ist eine gute Gabe und ein gut gewählter Träger. Ich denke, der Friede, den du suchst, wird dein sein, wenn du ihn wählst. Es ist deine Wahl.“

Frodo verbeugte sich vor dem Elbenherrn und ging in die Nacht hinein.

*****

Der Schlaf würde jetzt nicht kommen, das wusste er, also wanderte er zu den Ausläufern des Lagers und ließ sich auf einem weichen Grasflecken nicht weit vom Zelt des Königs nieder. Das Gras war hoch und duftend – ein kühles, taufeuchtes Bett, auf dem er seine erschöpften Knochen ruhen ließ. Er streckte seine Beine aus, lehnte sich zurück und blickte auf zu den Sternen, die so weit über ihm tanzten; eine Konstante in einem Leben so voll von Veränderungen.

„... der Friede, den du suchst, wird dein sein, wenn du ihn wählst.“

Eine Wahl. Wie kam es, dass er sich, selbst wenn man ihn so oft vor die Wahl stellte, so fühlte, als hätte er keine Wahl? Selbst die, von denen er glaubte, er hätte sie gehabt, schienen nun zweifelhaft zu sein, und er fragte sich ob irgendeine Wahl, vor die er während seines Lebens gestellt worden war, wirklich sein gewesen war. Musste er diese Wahl noch treffen, oder war bereits alles entschieden und er musste nichts mehr tun, als sich mit der Flut treiben zu lassen, die ihn zu einem Ende brachte, das ein anderer bereits für ihn gewählt hatte?

Spielte es eine Rolle?

Er seufzte, schüttelte den Kopf und schloss die Augen gegen die Sterne; weiße Diamanten, die kalt und schrecklich vor dem Hintergrund eines glatten Meeres aus Onyx brannten. Sie waren schon vor ihm seit einer Ewigkeit dagewesen und sie würden eine Ewigkeit weiter andauern, nachdem er diese Welt verlassen hatte. And Ende bedeutete er ihnen nichts. Sie würden genauso strahlend brennen, ob er nun lebte und so alt wurde wie sein lieber Bilbo oder zu einem Wispern im Traum eines anderen verging. Sein Leben oder Tod ging sie nichts an – sie verblassten oder vergingen nie.

Vergehen.

Was hieß das genau? Das er langsam an Substanz verlieren würde, bis er den Ring nicht länger brauchte, um zu verschwinden? Oder vielleicht war es einfach nur ein behutsameres Wort für Wahnsinn. Wahnsinn fühlte sich bereits wie eine sehr wirkliche Möglichkeit an. War es das, was die Elben meinten, wenn sie von vergehen sprachen? Dass er sich in seinem eigenen Geist verlor, bis er nichts mehr war als ein vor sich hin faselndes Objekt des Mitleids und des Jammers für seine Freunde?

Oder würde er ganz einfach sterben?

Das erschien ihm am wahrscheinlichsten zu sein. Mit den Wunden, die er erlitten hatte und den andauernden Schmerzen, die sie noch immer verursachten - und die mit fortschreitendem Alter nur noch schlimmer zu werden versprachen - konnte er die Logik dieser Schlussforderung nicht zurückweisen.

Keine so schlechte Sache, das Sterben, wirklich. Er hatte es monatelang erwartet und gegen Ende sogar erhofft. In seinem Bett zu sterben war viel besser, als es in einem flammenden Berg am Ende der Welt zu tun... oder allein in einem fremden Land. Zuhause würde er von seinen Freunden umgeben sein, ihre Gesichter das Letzte, was er sah, ehe er weiterging zu was auch immer ihn auf der anderen Seite erwartete.

Gesichter voller Trauer. Gesichter voller Kummer.

Ist das wirklich das, was du willst?

Frodo schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. Natürlich würden sie trauern – was erwartete er? Es war eine natürliche Sache und kein Grund für Schuldgefühle von seiner Seite. Er konnte nicht am Leben bleiben, nur weil sein Tod die in Trauer stürzen würde, die ihn liebten. Niemand konnte so etwas erwarten. Und doch...

Wie würde er sterben? Würde er einfach eines Abends ins Bett gehen und zu atmen aufhören, während er schlief? Ein kalter Leichnam, weiß wie das Laken unter ihm, der darauf wartete, dass Sam ihn entdeckte und ihm still die Hände auf der Brust kreuzte?

Wahrscheinlich nicht.

Die Qualen, unter denen er seit seinem Erwachen in Ithilien litt, dauerten an und kannten keine Atempause. Manche Tage waren besser als andere, aber es hatte nicht einen einzigen gegeben, an dem irgend ein Teil seines Körpers nicht vor Schmerz aufschrie. Und seit des Beginns der langen Heimreise war es nur noch schlimmer geworden.

Und was war mit der anderen Qual?

Er biss die Zähne zusammen. Dieser eine war nicht so leicht zu ertragen oder zu verbergen. War diese Qual etwas, woran er sich gewöhnen konnte? Durch die er sich hindurchkämpfte? Die er versteckte?

Das dachte er nicht. Sie zehrte bereits von Augenblick zu Augenblick an seinem Herzen und war mit der Zeit nicht abgeebbt. Würde diese Qual ebenfalls schlimmer werden? War dies etwas, wovon er wollte, dass seine Freunde dabei Zeugen waren? Während dessen sie ihn pflegten? Worüber sie zerbrachen?

„Ist das etwas, das du riskieren möchtest?“

Nein. Niemals.

Er hatte Herrn Elrond gesagt, dass er ihren Sorgen nichts hinzufügen würde, und obwohl es zahllose Dinge gab, deren er sich nicht sicher war, so war dies eine etwas, das er in seinem Herzen mit kalter Klarheit wusste. Er würde seine Freunde nicht zwingen, seinen Schmerz zu ertragen. Er würde sie nicht zwingen, zuzusehen, wie er... verging.

„Es ist deine Wahl.“

Wahl oder Verwünschung? Gabe oder Fluch?

Würde er es leichter finden, sein Schicksal anzunehmen und mit seinem Schmerz zu leben, wenn er nie vor die Wahl gestellt worden wäre? Würde die Qual und der Verlust ihn noch tiefer durchbohren, nun, da er wusste, dass es einen anderen Weg gab? Nun, da er wusste, dass die Möglichkeit der Befreiung existierte, wenn er nur alles hinter sich ließ, was er liebte?

„... du wirst den Ring immer tragen.“

Aber das war nicht wirklich eine Überraschung gewesen, oder nicht? Hatte er das nicht schon gewusst, noch bevor er das Schwarze Land betrat? War das nicht zum Teil der Grund gewesen, dass der Tod keine ganz so schlimme Sache war?

„Ich würde alles eintauschen...“

Und das würde er. Er würde dieses Geschenk und jeden Augenblick, der ihm blieb, eintauschen, wenn er nur sicher sein konnte, dass dieser Tod denen, die er liebte, nicht noch mehr Leid zufügte. Wenn er sicher sein konnte, dass seine Freunde nicht gezwungen sein würden, einen langsamen, qualvollen Tod mit anzusehen oder einen Abstieg in den Wahnsinn, dann würde er den Edelstein freudig aus der Hand geben und sein Leben jetzt enden lassen, während er unter den Sternen lag und sich das betaute Gras zum Leichenhemd nahm.

Und was damit, dass er sie zurückließ? Würde das am Ende weniger schmerzhaft für sie sein? Würden sie verstehen?

Wahnsinn, Tod; Entscheidungen, Geschenke.

Er konnte wählen, ob er dieses Geschenk annahm oder ablehnte. Es war seine Wahl. Seine Wahl, und seine allein. Es würde Bilbo gestattet sein zu segeln, ob Frodo sich ihm anschloss oder nicht – diesen Teil des Geschenkes würde er annehmen, ob er Bilbo nun begletete oder nicht. Aber der Rest...

Der Rest konnte warten.

Kein Datum war festgesetzt, kein Zeitrahmen verkündet worden. Er hatte Zeit; Zeit, nach Hause zu gehen, zu sehen, was kam, Zeit, über dieses Geschenk nachzudenken.

Es war noch Zeit.

Vielleicht würde sich das Geschenk während dieser Zeit als unnötig erweisen. Vielleicht würde sich all dieses Sorgen und Fragen als nichtig herausstellen. Vielleicht würde die Rückkehr ins Auenland sein Herz ganz einfach beruhigen, so wie er es gehofft hatte, seit er fortging.

Er musste sich jetzt nicht entscheiden. Er würde abwarten und sehen.

Er würde nach Hause gehen.

Er würde hoffen.


ENDE


Cormallen – „Ringträger“

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Frodos Traum in diesem Kapitel basiert auf dem Gedicht The Sea Bell von J.R.R. Tolkien. Die Muschel in diesem Gedicht ist ein Bild für Mittelerde.


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