Fremdling (Foundling)
von illyria-pffyffin, übersetzt von Cúthalion

Ich schaue in die Gesichter der Männer, an denen ich vorübergehe; ich suche nach den grauen Augen, die ich noch immer in meinen Träumen sehe und ich frage mich, ob der Mann, den ich zurückgelassen habe, in den Augen der Frauen von Ithilien wohl mich sucht.

Ich sitze an dem runden Tisch im Café, und wenn ich die Augen schließe, während ich den Duft meines Kamillentees einatme, dann manchmal... nur manchmal... kann ich Ioreth hören, wie sie mich schilt, Mardil’s sanftes Lob, Merry’s tändelnde Worte, Pippins klare Stimme. Frodo, der mir seinen Traum erzählt. Und den einzigen Mann, den ich wahrhaft liebe, der mich mit Staunen und Zärtlichkeit in seiner Stimme „Noerwen“ nennt.

Nachts liege ich im Bett und frage mich, ob mein Leben nun für immer so leer sein wird, eine solch endlose, traumartige Wanderung. Ich stelle die verborgene Weisheit derer in Frage, die mich in eine andere Welt hineinwarfen, nur um mich dann in diese zurückzubringen, wo ich nur ein Flüchtling bin, eine verirrte Seele am falschen Platz, die sich nach Verbindung sehnt und nach Verständnis.

Ich betrachte den reglosen Schatten an der Decke und denke über den Pengolodh nach. Hat er jemals so empfunden? Oder war es für ihn immer eine ganz andere Erfahrung? Nur Aufenthalte, die seinen Geist belebten, bevor er heimkehrte in eine Welt, die sein Herz festhielt und zu Menschen, denen wahrhaftig seine Liebe gehörte? Für ihn war es nie dieser lebenserschütternde Moment, der mich verloren und entwurzelt zurückließ. Frodo sagte, dass die Heimkehr ins Auenland sich eher so anfühlte, als würde er wieder einschlafen. Jetzt kann ich ihn verstehen. Dieses Bett, das schwach nach Waschmittel und Weichspüler duftet; dieser Raum mit dem schwachen Rauschen der Klimaanlage und das gelbe Leuchten der Straßenlaternen draußen, die ihre Lichter auch noch über die entfernteste Mauer ziehen – nichts davon ist wirklich. Jede Minute, jede Sekunde werde ich die Augen öffnen und meinen Mann finden, der neben mir liegt, seine Arme besitzergreifend und schützend um mich geschlungen, und wir sind in der kleinen Kammer, die sie mir in den Häusern der Heilung gegeben haben.

*****

Ich kehre an meinen Arbeitsplatz zurück; die Leute begrüßen mich überschwänglich, sie stellen mir Fragen, die ich mit einem Lächeln beantworte, ausweichend und verneinend. Marc, mein Kollege, steht hinter seinem Schreibtisch auf und kommt herüber zu meinem, ein breites Lächeln auf den Lippen und Besorgnis in den blauen Augen.

„Du weißt gar nicht, wie froh wir sind, dich zu sehen,“ sagt er, nachdem er mich herzlich umarmt und mir einen impulsiven Kuss auf die Wange gegeben hat. „Die Nachrichten sind voll von einem Serienmörder, der nachts auf den Straßen junge Frauen jagt ... Als du nicht mehr aufgetaucht bist, als du unsere Annrufe und unsere Mails nicht mehr beantwortet hast, da war ich sicher, dass... na ja... ich hasse den Gedanken, dass du als Teil der Statistik endest,“

Er hockt auf meiner Schreibtischkante und hält meine Hand. „Allzu gut siehst du nicht aus,“ fährt er kritisch fort. „ich weiß nicht, was passiert ist, und wenn es dir zuviel ausmacht, darüber zu reden, dann frage ich dich nicht.“ Er streichelt sachte und ernsthaft meine Hand. „Aber wenn du irgendwann soweit bist, es herauszulassen, dann schrei einfach, okay? Du hast meine Nummer.“

Ich drücke seine Hand und tue mein Bestes, ihn anzulächeln. „Dankeschön, Marc, das weiß ich zu schätzen. Bist du sicher, dass du nicht gerade auf der Jagd nach einer von deinen ,Spannendes-Drama-im-wahren-Leben’-Stories bist?“ Mein Lachen klingt nervös und spröde und ich unterdrücke es rasch.

„Sabrina!“ Marc sieht ehrlich schockiert aus, und sofort komme ich mir närrisch vor, so frivol über sein Angebot zu reden. „He, du bist meine Freundin, Mädchen, keine Nachricht.“

„Oh. Ich bin sicher, du hattest die besten Absichten.“ bemerke ich in einem weiteren Versuch, mich tapfer zu geben. Wieso tue ich das... warum verstelle ich mich und stoße einen Freund vor den Kopf? Wen versuche ich zu täuschen?

Marc betrachtet mich nachdenklich. Seine Stimme ist weicher, als er wieder spricht. „Wenn du soweit bist, okay?“ Dann zieht er mich noch einmal an sich, und dieses Mal gestatte ich mir, die tröstende Wärme und Nähe seiner Umarmung zu genießen; ich lehne meinen schmerzenden Kopf an seine Schulter und schließe die Augen. Lieber Marc, ich weiß, er meint es gut. Aber er wird es nicht verstehen. Das wird niemand.

„Danke,“ flüstere ich, und ich fühle mich unwohl, als ich mich in seine Arme schmiege. Es fühlt sich so sicher an und es ist eine Qual, ihn loszulassen, aber ich muss, denn ehe ich mich unter Kontrolle habe, fange ich an, an andere Arme zu denken, einen anderen Kuss... ich frage mich, ob ich für immer an diese Hände denken werde, an diese Lippen, wenn ein anderer Mann mich küsst. Ich frage mich, ob er sich noch immer daran erinnert, wie mein Mund schmeckt, an die Wärme meines Körpers, daran, wie es ist, mich zu lieben.

Nachts laufe ich durch die leeren Straßen und ich starre auf mein Spiegelbild in den Schaufenstern der Geschäfte. Wer ist die Frau, die meinen Blick erwidert? Sabrina? Oder Noerwen? Die Worte von Frodos Traum gehen mir durch den Sinn, und wenn ich den Schleier fortblinzele, dann sehe ich , wie mein Spiegelbild Tränen vergießt.

*****

Vielleicht hätte ich auf Marc hören sollen, den Nachrichten mehr Aufmerksamkeit schenken sollen, die in dicken Schlagzeilen die Morgenzeitungen und das Fernsehprogramm beherrschen. Aber das salbungsvolle Auftreten der Nachrichtensprecher, die pompöse Titelmusik, die dröhnende, betäubende Wiederholung des Schreckens sind allesamt ein Teil der Wirklichkeit, die ich verleugnen und der ich entkommen möchte.

Deshalb trifft mich der Angriff völlig unerwartet.

Der Mann muss mir schon einige Zeit gefolgt sein, ohne dass ich es gemerkt habe; er hat auf die Chance gewartet, mich zu überfallen, und jetzt zerrt er mich in eine dunkle, feuchte Straße hinter eine Reihe leerer Lagerhäuser. Meine Schreie klingen rasend und schrill, aber sie sind nichts gegen das Aufheulen von Entsetzen, Unglauben und Empörung, das meinen Geist erfüllt. Das kann mir doch nicht noch einmal passieren!

Die Dunkelheit verbirgt meinen Kampf, sie registriert jeden Tritt, jeden Schlag und jeden Biss gegen meinen Angreifer; jedes atemlose Kichern, das er von sich gibt zwischen Ausbrüchen von Obszönitäten, die das einzige sind, was er zu mir sagt. Seine Finger graben sich wie Schraubstöcke in meine Arme, als er mich packt und zu Boden stößt. Wasser spritzt, als ich in eine schlammige Pfütze falle. Der Mann spreizt mir die Beine und hält meine Hände über meinem Kopf fest.

Denk nach denk nach denk nach! beschwöre ich mich selbst; meine Füße suchen Halt auf Beton und Kies. Aber als er mich wieder schlägt, um mich zum Stillliegen und zum Schweigen zu bringen, da ist alles, woran ich mich erinnern kann, ein langer, verzweifelter Hilfeschrei in einer Sprache, die ich einst gesprochen habe, ohne zu wissen wie. Dann fühle ich, mehr als dass ich es höre, ein kaltes, metallisches Zischen, und als die Klinge trifft, eisig scharf...

Weiche Wildlederstiefel. Das kostbare Schwarz und Silber der Krieger von Gondor. Augen, die sanft leuchten und mir zuzwinkern. Und das Lächeln, das ich immer sehe, wenn ich die Augen schließe.

„Noerwen.“ ruft er mich.

Und als ich in seine Arme hineintrete, lächele ich.

*****

„Kommt sie wieder in Ordnung?“ Es ist ein Flüstern, schwach und weit weg. Ich treibe auf einer Wattewolke aus Licht und Wärme.

„Es geht ihr gut.“ Eine andere Stimme jetzt, die knappe, professionelle Sicherheit von jemandem, der weiß, was er tut. Ioreth? Allein die Erinnerung sorgt dafür, dass meine Lippen ein Lächeln formen. „Sie fühlt sich jetzt wohl, wie Sie sehen. Ich glaube, sie lässt sich einfach ein bisschen Zeit mit dem Aufwachen.“

Die erste Stimme klingt näher, als ich sie das nächste Mal höre. „Ich bin froh.“ Sie klingt entschieden männlich. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als ich sie gefunden habe.“

„Sie haben sie im allerletzten Moment gerettet.“ erwidert die weibliche Stimme. „Der Messerstich wäre tödlich gewesen, wenn Sie nicht rechtzeitig eingegriffen hätten. Ihretwegen wird sie wieder gesund werden.“

„Es ist seltsam.“ Wieder spricht die männliche Stimme. Und jetzt gibt es keinen Zweifel mehr. Diese Stimme kenne ich. Mit einer großen Anstrengung will ich die Augen öffnen und etwas sagen.

Eine breite, starke, warme Hand nimmt die meine und hält sie sanft fest; der Daumen streichelt über meine Haut. Es ist seine Hand.

„Ich gehe kaum jemals über diese Straße, geschweige denn diese Allee entlang, und ganz sicher nicht um diese Zeit in der Nacht. Aber es war...“ Ein nachdenkliches Zögern. „... als wäre ich dorthin gerufen worden, von irgendetwas angezogen... einer unerklärlichen Macht.“

Jedes Wort ist ein Lied für mich, ein Gedicht, einfach, weil er es ist, der sie spricht. Einfach, weil er es ist.

Ich öffne die Augen und blinzele die blendende Helligkeit fort. Ein lächelndes Gesicht schaut auf mich herunter. Vertraute graue Augen, ein vertrautes, kräftiges Kinn, ein vertrautes Lächeln. „Damrod.“ Ich seufze voller Freude.

„Unglücklicherweise nicht.“ Sein Lächeln wird breiter und sieht aus, als wollte er sich entschuldigen. „Ich bin weder ein Soldat von Gondor noch ein Mann aus Ithilien.“ Jetzt zwinkern seine Augen. „Aber ich lese die Bücher jetzt seit zwanzig Jahren... nur für den Fall, dass Sie sich wundern.“

Ich möchte vor Glück laut aufschreien, aber ich bringe nur ein blasses, kleines Lächeln zustande. Ich fühle mich zu betäubt und gleichzeitig zu wohl, um mir die Mühe zu machen, irgendwelche klaren Gedanken zu fassen oder sie gar auszudrücken.

Eine Frau in Schwesterntracht, die lächelt, während sie meinen Puls fühlt. „Nun,“ gluckst sie, „er mag nicht sein, für wen auch immer Sie ihn halten, aber er ist derjenige, der Sie letzte Nacht gerettet hat. Erinnern Sie sich an irgend etwas davon?“

„Nein.“ flüstere ich. „Ich... ich will nicht darüber nachdenken. Noch nicht. Wie könnte ich auch, wo doch meine Welt aus diesen sanften grauen Augen und diesem tröstenden Lächeln besteht?

„Ich verstehe, Liebes.“ sagt die Schwester und lässt mein Handgelenk los.

„Ich weiß, wir sind uns nie begegnet,“ beginnt der Mann leise. „Aber ich habe das allerseltsamste Gefühl, dass ich Sie schon mein ganzes Leben lang kenne.“ Er schaut weg, sichtlich ein wenig verblüfft von seiner eigenen Freimütigkeit, und mehr als nur ein bisschen verlegen. „Ich weiß, es klingt albern, wenn ich das sage,“ meint er; er dreht sich wieder um und schenkt mir ein ziemlich schüchternes Lächeln, als seine Augen den meinen wieder begegnen. „Glauben Sie mir, normalerweise bin ich vernünftiger.“

Mein eigenes Lächeln wird breiter und es ist schwer von Tränen, als ich antworte. „Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich ganz genau das Gleiche für Sie empfinde?“

Er strahlt hoffnungsvoll. „Wie heißen Sie?“ fragt er und ich kann das leuchtende Staunen in seinen Augen kaum fassen.

“Sabrina.” erwiderte ich nach einer Pause.

„Ich bin Ralph.“ sagt er. „Schön, dich kennenzulernen, Sabrina.“

Ich strecke beide Hände aus und sie finden ihren vertrauten Ruheplatz auf seinem kraftvollen Rücken. Er passt in meine Arme, als hätte er schon sein ganzes Leben lang dorthin gehört.

„Ich danke dir, Ralph.“ flüstere ich, und ich nehme seinen berauschenden Geruch nach Damrod in mich auf, die gezähmte Stärke und sanfte Wildheit seiner Berührung. „Ich danke dir, dass du mich gefunden und gerettet hast.“

Zum zweiten Mal.


ENDE


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