Dies Illa
von Cúthalion

1. Hogwarts

 Manchmal ist die Stille laut genug, dass sie ihm in den Ohren dröhnt. Er geht die Treppe zum Schlafsaal hinauf und erwartet das tröstliche Chaos aus Büchern, Kleidung und Pergamentrollen neben der geöffneten Truhe zu sehen; erst vor ein paar Minuten hat er dort alles fallen lassen. Es war ein plötzlicher Panikanfall, erstickende Hitze, die durch seinen gesamten Körper rann, gefolgt von eisiger Kälte, die ihn erschaudern und seine Zähne klappern ließ… es war beängstigend, es war ein Zeichen von Leben, und er schoss von seinem Bett hoch und flüchtete aus dem Turm. Auf den Stufen verlor er beinahe das Gleichgewicht und rannte durch die endlosen Gänge, bis der Nebel ihn wieder einhüllte und dafür sorgte, dass sein hämmernder Herzschlag sich zu seinem üblichen, dumpfen Rhythmus verlangsamte.

Stille.

Die Truhe ist zu. Er öffnet die Schlösser und starrt hinunter auf die sauber gefalteten Pullover, Hosen und Mäntel; Bücher sind in weichen Stoff verpackt, anstatt überall dahin gestopft worden zu sein, wo noch Platz ist. Dobby könnte das getan haben… nein Dobby hat das ganz sicher getan, und Harry verspürt das erste wirkliche Gefühl seit Tagen. Es ist eine rasch aufflammende Dankbarkeit, dass er nicht gezwungen ist, in diesem Moment die großen, lampenartigen Augen zu sehen, das clownsartige Gesicht, das seinen Kummer mit riesigen Tränen, zitternden Lippen und einer quäkenden Stimme herausschreit. Er ist nicht gezwungen, der offenen, ungehemmten Trauer zu begegnen, die er sich selbst jetzt noch nicht gestatten will.  

Das Dröhnen in seinen Ohren wird lauter. Etwas blitzt auf in seinem Geist, eine Erinnerung, die er nicht ganz wiedererkennt, und für einen schwindeleeregenden Augenblick ist seine Nase erfüllt von dem starken, scharfen Geruch nach Salzwasser.

Salz?

Das Meer?

Es ist verschwunden, ehe er imstande ist zu begreifen, wo es herkommt, und er schließt in schmerzhafter Erschöpfung die Augen. Frühstück. Frühstück zuerst, mit all diesen Augen, die ihn anstarren und den Blick abwenden, sobald er hinschaut… starrende Augen in bleichen Gesichtern, gedämpftes Gemurmel, das lauter wird, wenn er die Halle betritt und langsam erstirbt, wenn er sich hinsetzt, abgeschirmt von den vertrauten, tröstlichen Gestalten von Ron und Hermine. Zuerst das Frühstück.

 Und dann die Beerdigung.


2. Der Fuchsbau

Wieder mit dem gesamten Weasley-Clan zusammen zu sein, ist, als fiele man in einem riesigen Korb voll weicher Handtücher. Molly beäugt ihn von Kopf bis Fuß, stimmt die übliche „Du bist viel zu dünn für dein Alter“-Litanei an und kocht seine sämtlichen Lieblingsgerichte. Wenn er es versäumt, sich ein zweites oder drittes Mal von ihrem Shepherd’s Pie oder ihrem Karottenauflauf mit Hackfleisch zu bedienen, nimmt sie es tapfer nicht zur Kenntnis… und sie ist sowieso vollauf mit den Vorbereitungen für Bills und Fleurs Hochzeit beschäftigt.

 Der Fuchsbau platzt aus allen Nähten. Ein paar Tage nach Harrys Ankunft apparieren Tonks und Remus genau in der Mitte vom Gänsepferch, begrüßt durch das wütende Flügelschlagen und giftige Zischen von einem halben Dutzend verdatterter Vögel. Vielleicht habe sie sich ganz einfach vor Tonks Haar erschreckt, denkt Harry mit einem trockenen, kleinen Glucksen. Er ist von hellen, fröhlichen Pink, glänzend und länger, als er sich erinnert; nichts ist übrig von der grauen, elenden Maus der letzten Monate. Eine scheue, ungläubige Freude strahlt von ihr aus wie Wärme von einem Feuer. Harry schämt sich, dass er nicht imstande ist, sich für sie zu freuen… und für Remus.

Natürlich tut er alles, um zu vermeiden, dass er mit Remus alleine ist… er hat Angst vor diesen ruhigen, wissenden Augen, unter deren Blick er sich vorkommt wie durchsichtiges Glas. Während der kommenden Tage entwickelt sich sein Versteckspiel zu einem merkwürdigen, kleinen Tanz; wenn Remus ein Zimmer betritt, findet Harry irgendeinen schrecklich wichtigen Grund, sofort durch die nächstbeste Tür zu verschwinden. Und nach der ersten Woche meint er in all diesen vertrauten Gesichtern wissende Augen zu sehen – in Mollys, Rons, Hermines, sogar in dem von Bill.

Allerdings nicht in dem von Ginny… sie weicht ihm mit der stillen Mühelosigkeit von einer aus, der jeden Winkel in diesem Irrgarten genau kennt. Er weiß, dass sie da ist… er hört ihre leise Stimme und manchmal sogar ihr Lachen hinter verschlossenen Türen, und einmal kommt er in einen Raum, wo Fleur auf einem niedrigen Hocker steht, von ausnahmslos allen weiblichen Mitgliedern des Haushaltes umringt und in eine weiße Wolke aus Seide und Spitzen gekleidet; sie ist atemberaubend schön, wie eine Prinzessin, die aus einem uralten Märchenbuch heraus gestiegen ist. Aber die Erinnerung an seine Schwärmerei für sie noch vor weniger als zwei Jahren hat ihre Macht verloren… alles, woran er sich erinnert, als er das Haus verlässt, sind undurchdringliche Augen in einem klaren, sommersprossigen Gesicht, die feurige Haarmähne zu einem dicken Zopf geflochten.

Nur noch drei Tage bis zur Hochzeit. Die grünen Wiesen hinter dem Fuchsbau haben sich in einen provisorischen Campingplatz verwandelt; alle möglichen, merkwürdig aussehenden Zelte sind aufgestellt worden, um all die zahlreichen Weasley-Verwandten aufzunehmen. Fleurs Familie hat die Entscheidung ihrer Tochter, im Haus ihres zukünftigen Ehemanns zu heiraten, mit einer gewissen Resignation und mit Würde akzeptiert, und ihr Zelt ist für jedermann die absolute Sensation. Harry belauscht mehrere kichernde Cousinen von Ron, die es durch den Eingang jenes scheinbar simplen Gebildes aus malvenfarbiger Leinwand und silbernen Zeltstangen geschafft haben; sie reden in gedämpftem Ton von einem eleganten Park mit Marmorspringbrunnen, von singenden Statuen, prächtig beschnittenen Buchsbaumhecken und einem französischen Landsitz genau in der Mitte. „Château Cheverny!“ sagt eines der Mädchen mit ehrlicher Bewunderung, „es sieht aus wie Château Cheverny!“ Und Harry verspürt angesichts seines Mangels an Interesse eine vage Bestürzung. Nur ein paar Monate früher – ein ganzes Leben früher – hätte er nichts Eiligeres zu tun gehabt als sich die Wunder, die die Mädchen beschreiben, mit eigenen Augen anzusehen. Nun will er bloß noch weg von dem Tohuwabohu, das er zu anderen Zeiten mit offenen Armen willkommen geheißen hätte. Eine halbe Stunde später hat er das Feld hinter dem Fuchsbau überquert und ist wieder von Stille umgeben.

Stille.

Die Sonne hat sich weiter auf den Horizont zu gesenkt, und der Wieselkopf ist ein dunkler Umriss gegen den tiefgoldenen Himmel. Harry folgt dem Weg nach Ottery St.Catchpole mit den Augen, aber er will nicht zu weit laufen. Es ist wichtig für ihn, rechtzeitig zu Molly Weasleys köstlichem Abendessen wieder da zu sein; heute hat sie versprochen, ihrer zukünftigen Schwiegertochter bei der Zubereitung eines Boeuf Bourguignon zur Hand zu gehen. Die Küche ist seit Stunden erfüllt von den leckeren Düften nach brutzelndem Fleisch, Kräutern, Knoblauch und Rotwein. Und solange er sich gemeinsam mit ihnen an den Tisch setzt, solange er es schafft zu lächeln und zu reden, über Freds Witze zu lachen und über Georges neuesten üblen Streich, solange wird niemand Fragen stellen – die Fragen, die er in ihren stillen, besorgten Gesichtern sehen kann, in ihren verdüsterten Augen.

Er geht zwischen Weizen- und Roggenfeldern entlang; die Halme wiegen sich in der kühlen Abendbrise wie die Wellen eines riesigen Ozeans. Der Wind scheint ein schwaches, kaltes Aroma von Salz mitzubringen – schon wieder – und er erstarrt mitten in der Bewegung und holt tief Luft. Das ist lächerlich. Er schüttelt den Kopf und setzt seine einsame Wanderung fort. Direkt vor sich sieht er ein kleines Wäldchen aus Eichen und jungen Birken, wo der Weg eine Biegung macht und hinter sauber gepflanzten Rübenreihen verschwindet.

Noch immer denkt er über die Unterhaltung von Rons Cousinen nach – offenbar Töchter aus einem wohlhabenderen Zweig der Familie, denn die eine, die Château Cheverny erwähnt hat, muss in Frankreich gewesen sein, vielleicht in den Ferien. Seine Erinnerung produziert kaum mehr als ein stolzes, weißes Gebäude in irgendeinem Schulbuch… er hat England nie verlassen, nie wirklich Paris oder die Schlösser der Loire zu sehen bekommen. Es gab nie…

„…was?“

Plötzlich ist der Geruch nach Salzwasser überall, und er steht stockstill, die Augen hinter ihren Gläsern weit offen und durchsichtig vor Schreck.

Die Sache ist die – vor Jahren, zwei Jahre, bevor der Brief kam, der sein Leben verändert hat, da gab es tatsächlich einmal eine Urlaubsreise.

Und er hat sie vergessen, als wäre sie niemals passiert.


3. Der Strand

Die Dursleys hatten keine Möglichkeit gefunden, ihn wie sonst abzuschieben; sie hatten zwei Zimmer in einem Hotel in Brighton gebucht, und zwei Tage, ehe sie in Onkel Vernons neuestem Luxusauto an die Küste fahren wollten, erwischte Mrs. Figg eine Dose grüne Bohnen weit jenseits des Haltbarkeitsdatums, ohne es rechtzeitig zu merken, und benutzte sie für einen Eintopf mit Schweinefleisch und Kartoffeln. Als Ergebnis musste man sie ins nächste Krankenhaus bringen… und so kam Harry dazu, sich über seinen ersten Urlaub zu freuen.

Obwohl… Freude war sicherlich etwas anderes. Tante Petunias Vorstellung von einem Urlaub am Meer war die, in einem Sessel in der Hotellobby herumzusitzen und die neuen Gäste misstrauisch anzustarren, die langen Finger mit so festen Griff um die Handtasche in ihrem Schoß gekrampft, dass die Knöchel weiß wurden. Onkel Vernon machte kurze – sehr kurze – Spaziergänge an der Promenade entlang und verbreitete sich danach dröhnend über die gesunde Seeluft. Die Dursleys verschlangen riesige Mittagsmahlzeiten im Restaurant (während Harry im Hotelzimmer zu bleiben hatte und lustlos auf einem trockenen Sandwich mit ledriger Salami und schlaffem Salatblatt herumkaute). Abends trafen sie sich im Fernsehzimmer (abgesehen von Harry natürlich), wo Dudley die letzten verbliebenen Hohlräume in seinem riesigen Magen mit gesalzenen Weinessig-Chips und Cola füllte.

Deshalb war es mehr als begreiflich, dass Harrys kurze Aufregung über den Umgebungswechsel einen raschen Tod starb. Am letzten Tag, bevor die Dursleys wieder nach Hause fuhren, bekam er endlich die Chance, zu entkommen: Pastinakensuppe, Yorkshire Pudding, Rostbraten und ein üppiger Nachtisch mit Vanillecreme, Sahne und Früchten hatte seine Verwandten bis zu einem Grad erschöpft, dass sie allesamt am frühen Nachmittag einschliefen. Harry – der kaum wagte, an sein Glück zu glauben – schlich sich aus dem Zimmer und nach unten; er hastete durch das Foyer und trat ins Freie, bevor irgendwer ihn zurückhalten konnte.

Und da war das Meer.

Harry schenkte der grellen Promenade keine Beachtung, den wilden Farben und dem schrillen Krach der Spielhöllen auf beiden Seiten. Alles was er sah und hörte war die weite, bleiche Ausdehnung des Strandes und der langsame, zischende Atem der grauen Flut vor ihm. Er spürte den Sand unter den Schuhsohlen, der ihm langsam in die Socken rieselte, aber das war ihm egal. Er erreichte den harten Saum zwischen Land und Wasser und setzte seine Forschungsreise barfuß fort. Erst ging er langsam, dann wurden seine Schritte schneller und endlich rannte er. Das hoffnungslos übergroße, schmuddelgraue Sweatshirt blähte sich um die dünne Gestalt eines neunjährigen Jungen, das billige Brillengestell vor seinen grünen Augen war mit einem Stück Pflaster geflickt. Er kam stolpernd zum Stehen, ein schmaler, einsamer Schattenriss inmitten der Leere von Himmel und Meer, und dann fing er an zu schreien.

Er schrie gegen die Dunkelheit und die betäubende Angst im Schrank unter der Treppe an, gegen die sinnlose Brutalität von Dudley, die giftige Zunge seiner Tante und die lärmende Verachtung seines Onkels. Er schrie gegen die feige Kumpanei der Kinder in der Schule an, die es nicht wagten, sich gegen seinen Cousin zu behaupten, um ihm zu helfen, und gegen die lustlose Gleichgültigkeit der Lehrer, die ihn längst als verlorenen Fall aufgegeben hatten. Er schrie an gegen den Schmerz und die Wut, gegen das nagende Gefühl, anders zu sein, gegen diese eigenartigen, unbegreiflichen Fähigkeiten, die seine Probleme nur noch schlimmer machten, gegen die bittere, sehr unkindliche Gewissheit, dass er nicht fliehen konnte, wenigstens die nächsten paar Jahre noch nicht.

Er war eine Stunde später ins Hotel zurückgekehrt und hatte sich für eine kurze, segensreiche Zeitspanne immun gefühlt gegen die endlose Feindseligkeit. Denn die Bestie in ihm – wenn es denn überhaupt eine Bestie war – hatte den Kopf gehoben und gebrüllt, und er hatte sich an die zerbrechliche Erleichterung dieser kurzen Rebellion geklammert, so lange er nur konnte.


4. Das Wäldchen

Er kommt wieder zu sich und blinzelt wie eine Eule. Sein Herzschlag ist ein lautes Donnern in seinen Ohren, und die Stille – diese schützende, abschirmende Stille – ist fort. Mit schrecklicher, atemloser Panik begreift er, dass die zurückkehrende Erinnerung nicht nur die Tür zu dem kleinen, unglücklichen Jungen aufgestoßen hat, der er einst war – sie hat auch den Käfig entriegelt, wo er noch ganz andere Erinnerungen eingesperrt hat. Nähere Erinnerungen, gefährlich und verstörend, und er fängt wieder an, sich zu bewegen, krampfhaft bemüht, den Stimmen in seinem Kopf zu entkommen.

„Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht, oh bitte, lass es aufhören und ich werde nie wieder…“

„Es ist meine und nicht deine Gnade, die jetzt zählt.“

 „Severus… bitte…“

Lass es aufhören. Lass es aufhören.

Lass es aufhören.

Er hat keine Ahnung, dass er rennt. Er erreicht das kleine Wäldchen und die Schatten der Baumkronen hüllen ihn in ihr dämmriges, grünes Licht. Er stolpert vorwärts, Moos und niedriges Unterholz unter den Füßen. Die Zweige schlagen ihm ins Gesicht und dann bricht er durch auf eine kleine Lichtung und stellt fest, dass er nicht allein ist.

Sie sitzt auf der Erde, den Rücken gegen den Stamm einer Eiche gelehnt. Ihr dicker, kupferroter Zopf fängt die gefilterten Sonnenstrahlen ein, und sie wendet den Kopf in seine Richtung, das Gesicht ruhig und ohne jede Überraschung.

„Lass es aufhören.“

Der Klang seiner eigenen Stimme lässt ihn nach Luft schnappen. Sie antwortet nicht, aber sie begegnet seinem Blick, eine sanfte Frage im blassen Silber ihrer Augen.

„Die Schreie…“ stammelt er. „Seine Schreie.“

Und meine.

Er lässt sich neben ihr zu Boden sinken, und ohne ein Wort nimmt sie seine Hand. Er riecht den schwachen Blumenduft ihres Shampoos und einen Hauch des Boeuf Bourguignon in Mollys Küche, und er holt tief und mühsam Atem.

Lass es aufhören.

Seine ach so tapferen Worte kommen zurück, um ihn heimzusuchen, seine klugen, ritterlichen Gründe für Trennung und weisen Rückzug. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber alles, was herauskommt, ist ein dünnes, verzweifeltes Quietschen, und dann spürt er, wie die ersten Tränen ihm die Sicht verschleiern… nicht die wenigen Tränen der Beerdigung, heiß und widerwillig, sondern ein überwältigender, endlich frei gesetzter Schmerz, genährt von einer Quelle tief in seinem Herzen. Ginny öffnet die Arme und er sinkt nach vorne, blind und ohne nachzudenken.

Seine Stirn berührt ihre Schulter und er spürt, dass sie ihn festhält. Sie wiegt ihn sanft hin und her, noch immer ohne etwas zu sagen, und endlich fängt er an zu weinen.


FINIS

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 Für alle, die sich nicht so gut mit geistlicher Musik auskennen: Dies Illa ist eine Phrase aus dem klassischen, lateinischen Text des Requiem, und sie bedeutet Tag der Tränen.


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