Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Zwanzig
Der Fürst und die Fürstin von Ithilien

Erst, wenn wir etwas verlieren, beginnen wir wahrhaftig, seinen Wert zu schätzen.
(Isildur zugeschrieben)

Éomer hatte Schneestürme gesehen, die mehr Wärme ausstrahlten als die Prinzessin von Dol Amroth. Die Tatsache, dass ihre Brüder auf beiden Seiten ihres Pferdes Aufstellung genommen hatten – mit einem Ausdruck auf den Gesichtern, die man nur als kriegerisch bezeichnen konnte – half auch nicht gerade. Éomer hatte ohnehin nicht die Absicht, sich ihr zu nähern. Er hatte genug davon, dass man ihn aussehen ließ wie einen vollkommenen Schuft. Und sein Ruf in Gondor würde einen weiteren Schlag wie den, den er am Tag zuvor eingesteckt hatte, wahrscheinlich nicht überleben.

In ein reiches, blaues Gewand gekleidet, die Schleppe über Winterhauchs Kruppe drapiert, die Haare aufwendig um ihren Kopf geflochten, sah sie jeden Zoll wie die Prinzessin aus, die sie war. Und doch erschien es Éomer, dass sich – ganz wie bei einem dunklen Waldsee, der von einer dünnen Eisschicht bedeckt war – unter ihrer kühlen und gesammelten Haltung eine verletzliche und verlorene junge Frau verbarg. Es schmerzte ihn, sie so zu sehen, aber Lothíriel hatte mehr als deutlich gemacht, das sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Der beste Dienst, den er ihr erweisen konnte, war der, sich von ihr fern zu halten.

Während Éomer zusah, langte Amrothos nach oben und half Lothíriel vom Pferd. Sie strich ihren Rock glatt, ehe sie den Arm ihres Bruders nahm, und nur für einen Moment fragte er sich, ob sie wohl herüber kommen würde. Allerdings suchten die beiden sich ihren Weg zwischen den Pferden hindurch auf eine weitere Gruppe von Reitern zu, die darauf warteten, dass der Festzug sich sammelte. Von seinem hohen Aussichtspunkt auf Feuerfuß' Rücken entdeckte Éomer mit Leichtigkeit die massige Gestalt von Herrn Girion unter ihnen.

Der Herr von Lossarnach stand da und sprach mit einem Freund; sein dröhnendes Lachen schallte über die kleine Gruppe von Gefolgsleuten hinweg und zeigte, dass er seine normale Gemütsruhe wiedergefunden hatte. Tatsächlich hatte sich die gestrige Jagd trotz des katastrophalen Auftaktes immerhin als recht erfolgreich heraus gestellt. Während die Vögel endgültig verloren waren,hatten sie unerwartet einen großen Hirsch aufgescheucht, den Girion selbst erlegt hatte, und das ausgezeichnete Mittagessen hatte ihn nur noch mehr besänftigt.

Wellen des Schweigens breiteten sich in der Menge aus, während Lothíriel und ihr Bruder näherkamen, und endlich fiel das auch Girion auf; er drehte sich um, um nachzuschauen, was geschah. Éomer drängte Feuerfuß vorwärts, damit er besser sehen konnte und sah, wie ein Ausdruck, den man nur als Vorsicht bezeichnen konnte, über das Gesicht des Edelmannes huschte. Lothíriel ließ den Arm ihres Bruders los und machte die letzten paar Schritte allein. Dann versank sie in einem tiefen Hofknicks, und das Gewand breitete sich wie ein schimmernder Teich rings um sie aus.

„Mein Herr, ich schulde Euch Abbitte dafür, dass ich Euch die Jagd verdorben habe,“ sagte sie, die Stimme erhoben, so dass jedermann sie hören konnte.

Girion betrachtete sie einen langen Augenblick, und Éomer hielt seine Zügel fester. Konnte der Mann denn nicht sehen, was es sie kostete, das zu tun? Wenn er es wagte, ihr gegenüber auch nur ein unfreundliches Wort zu äußern, dann würde er dem König von Rohan Rede und Antwort stehen müssen.

Dann streckte Girion eine Hand aus und ließ Lothíriel aus ihrem Hofknicks aufstehen. „Meine Herrin, ich nehme Eure Entschuldigung mit Freuden entgegen.“

„Ihr seid sehr gütig.“

Er hatte den Anstand, leicht verlegen drein zu schauen. „Nicht im mindesten. Ich wünschte, Ihr hättet nicht getan, was Ihr getan habt, aber glaubt mir, ich lasse meinen Ärger üblicherweise nicht an Kindern aus.“ Er betrachtete sie anerkennend. „Auch nicht an hübschen Frauen.“ Sie errötete, und er lachte; er verspürte sichtlich wieder festen Boden unter den Füßen. „Ich weiß eine Dame mit Temperament zu schätzen.“

Stirnrunzelnd stellte Éomer fest, dass der Mann Lothíriels Finger noch immer festhielt. Sie zog sie sachte zurück. „Ich danke Euch.“

Amrothos trat vor und sie verabschiedete sich von Herrn Girion. Sein Blick hing noch ein wenig länger an ihrer gepflegten Figur, und Éomer konnte spüren, wie der Ärger in ihm hoch stieg. Der Mann war doch bestimmt alt genug, ihr Vater zu sein?

Bruder und Schwester gingen zurück zu der Gruppe aus Dol Amroth, und Amrothos half Lothíriel, wieder auf Winterhauch zu steigen. Plötzlich wurde Éomer bewusst, dass jedermann es betont vermied, ihn anzuschauen. Verspätet begriff er, dass Lothíriel dadurch, dass sie so öffentlich Herrn Girion um Verzeihung bat, nicht aber ihn, seinem Ruf soeben einen weiteren Tiefschlag versetzt hatte. Er verbiss sich den Fluch, der ihm auf der Zunge lag, und wandte sich wieder seiner Schwester und Faramir zu. Glücklicherweise schien Éowyn nicht bemerkt zu haben, dass irgend etwas nicht stimmte. Sie hatte sich entschieden, heute ein traditionelles Rohirric-Reitgewand zu tragen, obwohl es weit üppiger bestickt war als ihre übliche Kleidung, während ihr Verlobter in Schwarz und Silber großartig aussah. Sie lächelte Faramir an, und Éomer war erleichtert zu sehen, dass nicht einmal die Sorge über die Angelegenheiten ihres Bruders dazu angetan war, ihr die Freude und das Glück an diesem besonderen Tag zu verderben.

Der klare Fanfarenstoß einer Trompete erklang – das Zeichen, ihre Plätze einzunehmen. Braut und Bräutigam würden an der Spitze des Festzuges reiten, ihre Trauzeugen gleich hinter sich. Amrothos zeigte Lothíriel ihre Position neben Éomer und warf ihm schweigend einen finsteren Blick zu, der ihm Vergeltung androhte, sollte er seine Schwester erneut verstimmen. Dann ritt er davon, um sich mit dem Rest der Gruppe aus Dol Amroth hinter den Bannerträgern einzureihen.

Während sie sich langsam in Bewegung setzten, schaute Éomer zurück auf Minas Tirith hinter ihnen; Flaggen wehten von jedem Turm und jeder Kuppel. Es war ein bravouröser Anblick. Da er wusste, dass Lothíriel es liebte, wenn man ihr beschrieb, was es rings um sie her zu sehen gab, wandte er sich der Frau neben sich zu, um eine Bemerkung zu machen – aber er änderte seine Meinung, als er sah, wie angespannt sie auf ihrem Pferd saß. Lothíriel sah nicht so aus, als würde sie irgendeinen Gesprächsversuch von seiner Seite willkommen heißen. Während überall um sie herum die Leute fröhlich plauderten, schien sie von einer Luftblase angestrengten Schweigens umgeben zu sein. Er seufzte innerlich. Wie hatten die Dinge so fürchterlich schief gehen können?

Es schien, als sei die gesamte Bevölkerung von Minas Tirith auf den Beinen, um sie zu verabschieden. Viele Menschen säumten die Straße nach Osgiliath, sie klatschten und jubelten, und zuerst ging es nur langsam voran. Lothíriel trug ein starres Lächeln auf dem Gesicht, das anmutig und höflich aussah, und doch schien sie sich angesichts des begeisterten Geschreis und der Blütenblätter, die auf sie herab regneten, unwohl zu fühlen. Dann geschah es: eine Frau warf ihnen einen Blumenstrauß zu und traf Winterhauch damit versehentlich am Kopf. Die Stute fuhr heftig zusammen. Doch bevor sie sich aufbäumen konnte, langte Éomer hinüber und packte sie am Zügel.

„Ruhig!“ rief er auf Rohirric.

Lothíriel war ebenfalls zusammengefahren, aber jetzt beugte sie sich vor und tätschelte ihrem Pferd beruhigend den Hals. „Ist schon gut,“ sagte sie. „Ich komme zurecht.“

Éomer ließ Winterhauchs Zügel los, doch die Stute schien noch immer schreckhaft zu sein. Alle beide, Pferd und Reiterin, dachte er bitter. Sie ritten schweigend weiter, und langsam kam Winterhauch wieder zur Ruhe. Ein Seitenblick zeigte ihm, dass Lothíriel sich auf die Unterlippe biss. Sie wickelte nervös den Perlenstrang, der auf ihrer Brust ruhte, um einen Finger. Mit Anstrengung wandte er den Blick ab.

„Ich danke Euch,“ sagte sie endlich, und es tat ihm weh, zu sehen, wieviel Mühe diese einfachen Worte sie kosteten. Alle ärgerlichen Gedanken flohen beim Anblick ihres unglücklichen Gesichtes aus seinem Geist.

„Lothíriel, gibt es irgend etwas, das ich tun kann?“ fragte er und sprach mit so sanfter Stimme, wie er es fertig brachte.

Sie schüttelte den Kopf, dann zögerte sie. „Tatsächlich hat mein Neffe...“

Was hatte Alphros dieses Mal angestellt? „Ja?“

„Er hätte gern einen Zahn von dem Warg, den Ihr getötet habt, um seinem Freund zu beweisen, wie groß er war. Ich habe ihm versprochen, dass ich Euch frage.“

Ein Wargzahn! Er hatte auf eine andere Bitte gehofft, aber wenigstens würde er imstande sein, diesen zu erfüllen.

„Ich schicke ihm den Pelz, sobald er gegerbt worden ist. Das wird bestimmt Beweis genug sein.“

„Ich danke Euch.“

Ihr ernstes Gesicht riss an seinem Herzen. Er wollte die Hände ausstrecken, sie umarmen, all den Schmerz vertreiben. Und doch wusste er, dass das die Lage nur noch verschlimmern würde.

„Lothíriel, ich stehe Euch zu Diensten,“ sagte er leise. Und dieses Mal war es keine leere Förmlichkeit.

Sie neigte den Kopf, sagte aber nichts, und doch kam es ihm so vor, als hätte sich die Atmosphäre leicht aufgehellt.

Während sie Minas Tirith hinter sich ließen, wurde die Menge der Menschen, die den Weg säumten, allmählich kleiner; sie konnten das Tempo steigern und kurze Strecken sogar im Trab reiten. Kurz nach der Mittagszeit erreichten sie Osgiliath, wo sie den Anduin auf einer der Brücken überquerten. Éomer blickte unwillkürlich flussabwärts, dorthin, wo die Mûmakil-Steine glänzend in der Sonne lagen, unschuldige Zeugen seiner Narrheit.

Die Hauptstraße verlief hier nach Osten zu den Kreuzwegen, doch sie nahmen einen Treidelpfad, der entlang des Flusses nach Süden führte. Zu ihrer Linken erstreckten sich die Hügel von Emyn Arnen, die niedrigeren Abhänge mit Weinbergen bepflanzt, die weiter oben in Wälder übergingen. Nach einer Weile begann die Straße anzusteigen und durchquerte dichtes Gehölz, und endlich überquerten sie einen niedrigen Grat, der ihnen einen mitreißenden Ausblick nach Süden bot. Ein Nebenfluss des Anduin strömte hier in die Tiefe, erst rasch und wild, dann aber langsamer und in träge schlängelnden Kurven durch das fruchtbare Land, dass an das Wasser grenzte. Wo die bergigen Ausläufer in die Ebene mündeten, floss der Strom in einem weiten Bogen um einen Hügel mit flacher Kuppe herum und verwandelte ihn beinahe in eine Insel. Oben auf der Kuppe war ein großes Landgut errichtet worden; Gärten und Obstplantagen bedeckten die Abhänge. Ein Wachturm überblickte den schmalen Streifen Landes, wo die Straße zum Haupttor hinauf führte. Emyn Arnen.

Erbaut von Truchsess Húrin, hatte das Haus während des Ringkrieges schwere Schäden davon getragen, doch Faramir hatte hart gearbeitet, um es rechtzeitig für die Hochzeit herrichten zu lassen. Eine Lage, die leicht zu verteidigen war, wie Éomer anerkennend bemerkte; nicht, dass er vom Heim des Fürsten von Ithilien irgend etwas anderes erwartet hätte. Er wusste, dass Faramirs Männer die Gegend weitläufig mit Streifgängen überzogen und Wache hielten gegen einen Überraschungsangriff der Haradrim. Er würde seine Schwester in sicheren Händen zurück lassen.

Während sie hinab ritten, um die schmale Dammstraße zu überqueren, wurden sie von den Familien von Faramirs Waldläufern begrüßt, die beschlossen hatten, sich mit ihrem Herrn in Süd-Ithilien anzusiedeln. Einige der Gäste würden in einer Reihe Zelte untergebracht werden, die am Fuß des Hügels aufgestellt worden waren, aber die größte Gruppe ritt hinauf zum Haus. Im Vorhof rannten Stallburschen durcheinander, um die Pferde in die Ställe zu führen, und Éomer stieg ab.

Er wandte sich zu Lothíriel. „Darf ich Euch herunter helfen?“

Zuerst zögerte sie, nickte dann aber zögernd und nahm die Stiefel aus den Steigbügeln. Als Éomer näher trat, schwang sie ein Bein über Winterhauchs Widerrist und ließ, während sie seitwärts saß, ihre Hände auf seinen Schultern ruhen. Er langte nach oben und hob sie sanft herunter. Plötzlich war er sich ihrer Nähe sehr bewusst. Die Erinnerung daran, wie Lothíriel sich an ihn lehnte und zu ihm aufschaute mit Augen, aus denen das Vertrauen leuchtete, schoss ihm durch den Kopf. Keine Narrheiten mehr, mahnte er sich selbst streng und ließ sie auf der Stelle los. Er hatte schon zu viel von diesem unschuldigen Vertrauen zerschmettert.

Aber sie stand noch nicht ganz sicher – oder vielleicht war sie steif von dem langen Ritt - und stolperte. Sofort streckte er die Hände aus und packte sie bei den Armen, um sie zu stützen. Für die Dauer eines Herzschlages stand sie gegen ihn gelehnt, ihre Hände auf seiner Brust, ganz so, wie sie es in jener Nacht getan hatte. Zufrieden und entspannt.

„Lothíriel!“ rief eine weibliche Stimme.

Sie fuhr heftig zusammen und wirbelte herum, gerade, als eine ältere Frau sich unter Winterhauchs Hals hindurch duckte.

„Hier seid Ihr!“ rief die Frau. Sie hielt inne und betrachtete Lothíriel ganz genau. „Was ist los?“

„Nichts, Hareth.“

Plötzlich stellte Éomer fest, dass er einer gründlichen Prüfung unterzogen wurde, und zwar durch ein Paar scharfsichtige, blaue Augen. Unwillkürlich fühlte er sich an die Zeit erinnert, als die Haushälterin von Aldburg ihn als Fünfjährigen dabei erwischt hatte, wie er Honigkonfekt stibitzte. Automatisch setzte er seine unschuldigsten Miene auf.

Die Frau blickte von einem zum anderen und schnaubte. „Das ist also Euer König von Rohan?“

„Ja. Nein.“ Lothíriel wurde rot.

Die Frau strich sich eine graue Haarsträhne zurück und nickte weise. „Ganz recht. Kommt Ihr jetzt ins Haus, um Euch vor der Hochzeit frisch zu machen?“

Lothíriel zögerte. „Was ist mit Winterhauch?“

„Ich werde mich um sie kümmern,“ erbot sich Éomer.

„Gut.“ Die alte Frau nahm Lothíriel bei der Hand und führte sie entschlossen von dannen. Doch bevor sie in der Menge verschwand, warfen jene blauen Augen ihm einen letzten, nachdenklichen Blick zu. Éomer fragte sich, ob er sich soeben einen Feind gemacht – oder eine Verbündete gewonnen hatte?

Faramirs Haushofmeister hatte in den Gärten ein leichtes Mahl aufstellen lassen, und die Gäste versammelten sich dort, plauderten und bewunderten die Aussicht. Éomer musste zugeben, dass der Anblick von Minas Tirith, auf der anderen Seite des Anduin am Fuße des Mindolluin gelegen, großartig war. Obwohl – seiner Meinung nach kam nichts wirklich der Ausssicht von der Terrasse von Meduseld gleich, hinweg über die grünen Grasebenen der Riddermark.

Nach einer Weile kamen seine Schwester und Faramir zu ihm. Éowyn hatte sich umgezogen und trug ein Gewand aus reinweißer Seide; ihr flachsblondes Haar floss ihr offen über die Schultern herab.

Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Faramir hat mir den Blick von der Spitze des Hauses gezeigt. Er behauptet, dass man an einem klaren Tag das Meer sehen kann.“

Den Blick? Ihre Augen leuchteten vor Glück, während sie zu Faramir auflächelte. Nun, es ging ihn wirklich nichts an, wenn seine Schwester einen privaten Moment mit ihrem zukünftigen Mann verbringen wollte. Er hatte bemerkt, dass sie sich während der letzten Tage mehrmals gemeinsam davon geschlichen hatten.

„Und, hast du es gesehen?“ fragte er.

Mit sichtlicher Anstrengung riss Éowyn ihre Aufmerksamkeit von Faramir los. „Was gesehen?“

Éomer verdrehte die Augen. „Kümmer dich nicht darum.“ Er peilte die Sonne am Himmel an, die langsam unterging. „Ich denke, es ist Zeit.“ Und nach den hungrigen Blicken zu urteilen, die ihr beiden wechselt, in mehr als einer Hinsicht, Schwester.

Ein großer Rasen erstreckte sich bis zur Westseite des Hauses, wo die Zeremonie abgehalten werden würde. Die Gäste versammelten sich bereits in einem losen Kreis, und einige von den Kindern der Waldläufer hielten Weidenbögen hoch, mit Blumen und Bändern dekoriert, unter denen Braut und Bräutigam hindurchgehen mussten. Éomer bot seiner Schwester den Arm, und sie nahm ihn mit einem Lächeln. Mit Faramir und Lothíriel dicht hinter sich und Aragorn und Arwen als Abschluss duckten sie sich unter den Weidenzweigen hindurch und betraten das Hochzeitsgelände.

Er eskortierte Éowyn in die Mitte und nahm dann seinen eigenen Platz am östlichen Punkt des Kreises ein. Er gewann heute einen Bruder, anstatt eine Schwester zu verlieren, erinnerte er sich selbst. Mit einer Verneigung reichte Faramirs Haushofmeister ihm einen kleinen Brotlaib. Ihm gegenüber im Westen, eine Fackel in der Hand, stand Aragorn, während Arwen und Lothíriel sich jeweils im Süden und im Norden aufgestellt hatten.

In Erinnerung an das lange unter den Wellen versunkene Númenor fanden Trauungen in Gondor stets bei Sonnenuntergang statt. Die Strahlen der westlichen Sonne schienen Éowyns Kleid in Brand zu setzen und färbten es zu einem tiefen Orange, und selbst der allzeit gegenwärtige Wind erstarb, wie in Erwartung. Langsam wurde die Menge still.

Faramir nahm Éowyns Hände in seine eigenen, um seine Gelübde zu sprechen.

„Éowyn von Rohan, Éomunds Tochter,“ begann er, die Stimme fest und klar. Und während er versprach, seine Weiße Herrin in Ehren zu halten und zu beschützen, und damit fortfuhr, dass er ihr sein Leben und seine Liebe zuschwor, da tranken seine Augen den Anblick der Frau, die vor ihm stand, in sich hinein.

Éowyn sah auch ihn an, das Gesicht ernst und freudig. „Faramir, Denethors Sohn, ich empfange dich als meinen Ehemann,“ erwiderte sie; sie sprach jedes Wort laut und voller Überzeugung. Sie versprach ihm ihrerseits, ihm die Treue zu bewahren und sein Glück und seine Stärke zu sein.

Als sie geendet hatten, trat Arwen mit ihrer üblichen elbischen Anmut vor; sie trug einen kleinen Teller, den sie Faramir hinhielt. Darauf lagen Salzkristalle, eine Erinnerung an das Meer, das die Schiffe der Númenorer an diese Küsten getragen hatte. Faramir nahm einen und legte ihn Éowyn – jetzt seine Frau – auf die Lippen, und sie tat dasselbe bei ihm.

Éomer wusste, dass er als Nächstes an der Reihe war, und er trat vor und reichte den Brotlaib seiner Schwester. Sie brach ein kleines Stück ab, um es mit ihrem Ehemann zu teilen, bevor sie es zurückgab. Dann flüsterte Amrothos, der gleich hinter Lothíriel stand, ihr etwas zu; mit einem Ausdruck heftiger Konzentration auf dem Gesicht ging sie vorsichtig auf das Brautpaar zu und balancierte dabei einen überreich verzierten Weinkelch in den Händen. Jedermann hielt den Atem an, als sie ihn Éowyn reichte, die den leicht wackeligen Kelch rasch zur Ruhe brachte; sie hob ihn zuerst an den Mund von Faramir und dann an ihren eigenen.

Zuletzt kam Aragorn aus dem Westen und reichte Faramir die Fackel. Ein großer Holzstapel war am unteren Ende des Rasens aufgetürmt worden, über dem Aussichtspunkt; die Neuvermählten traten davor hin, ihre Zeugen hinter sich. Während die sinkende Sonne den Horizont berührte, stießen sie die Fackel in das Holz, das sofort Feuer fing. Als die Flammen mit einem Brüllen aufschossen, blickte Faramir einen Moment verstört drein, aber dann drückte seine ihm frisch angetraute Frau seinen Arm und flüsterte ihm etwas zu; er lächelte auf sie nieder. Das Feuer würde weiterbrennen, und am letzten der drei Festtage würden sie einige glühenden Kohlen einsammeln, um ihr Herdfeuer damit anzuzünden.

Dann nahm Faramir das Gesicht seiner Frau in die Hände und küsste sie. Sie schlang die Arme um seinen Hals, während die Gäste jubelten und pfiffen. Nun die Fürstin von Ithilien, doch noch immer die Weiße Herrin von Rohan. Éomer langte nach dem Horn, das an seinem Gürtel hing, hob es an die Lippen, holte tief Luft und blies mit aller Kraft. Der Klang schallte laut und machtvoll; einen Moment später gaben die Hörner seiner Reiter aus der Tiefe Antwort. Der Ruf stieg höher und höher und hallte von den Hügeln hinter ihnen wider, tapfer und getreu.

Als die letzten Noten erstarben, herrschte vollkommene Stille. Dann wandte Aragorn sich ihm zu.

„Das hat man sicherlich bis nach Minas Tirith gehört,“ sagte er und versetzte ihm einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter.

Éomer nickte, und langsam fingen die Leute wieder an, sich zu unterhalten. Faramir und Éowyn gingen voran ins Haus, wo in nächster Zeit Musiker zum Tanz aufspielen würden, doch er blieb zurück. Sein Blick fiel auf die Prinzessin von Dol Amroth, die ein wenig abseits stand, das Gesicht dem Feuer zugewandt. Eine einzelne Träne glänzte auf ihrer Wange.

„Habe ich Euch erschreckt?“ fragte er. „Es tut mir Leid.“

Lothíriel schüttelte den Kopf. „Das war großartig! Die großen Hörner des Nordens – endlich habe ich sie gehört!“

Sie schenkte ihm tatsächlich ein echtes Lächeln, und er machte einen Schritt auf sie zu. Doch das Lächeln verschwand so schnell aus ihrem Gesicht, wie es gekommen war, ersetzt durch einen Ausdruck der Wachsamkeit. Im selben Augenblick tauchte ihr Vater aus der Menge auf und nahm sie beim Ellenbogen.

„Lass uns hinein gehen, Liebstes,“ sagte er.

Inzwischen erwartete Éomer den misstrauischen Blick bereits, den Imrahil ihm zuwarf. Er seufzte resigniert.

*****

„Den ganzen Tag über hast du sie beobachtet wie ein hungriger Drache.“

Éomers Kopf fuhr ruckartig zu seiner Schwester herum und er verfärbte sich. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Die Prinzessin von Dol Amroth.“ Éowyn hob ihr Glas und nahm einen kleinen Schluck. Die Große Halle von Emyn Arnen strahlte von Lichtern und war voll von Musik und tanzenden Paaren. Sie deutete auf eines von ihnen: Lothíriel und Herr Girion.

„Du hast sogar die Stirn gerunzelt, als Aragorn ein paar Worte mit ihr gewechselt hat. Und es überrascht mich, dass der arme Girion nicht auf der Stelle umkippt, wenn man die finsteren Blicke bedenkt, die du in seine Richtung wirfst. Bloß gut, dass er so üppig gepolstert ist.“

Gegen seinen Willen musste Éomer lachen. Sie grinste ihn an; sie war bester Laune. „Komm schon, Bruder! Lass dieses finstere Brüten! Kannst du dich nicht einfach bei ihr entschuldigen, für was immer du auch getan hast?“

Er blickte auf sein eigenes Glas hinunter. „Das ist nicht so einfach.“

Éowyn zog ihn ein Stück nach hinten, in den Schatten einer der Steinsäulen, die das hoch aufragende Dach stützten. „Liebst du sie?“ fragte sie abrupt.

„Du bist jetzt die Fürstin von Ithilien, du solltest lernen, diplomatischer zu sein,“ protestierte er und versuchte, Zeit zu gewinnen.

„Tust du's?“ drängte sie weiter, ohne sich ablenken zu lassen.

„Ja,“ seufzte er.

„Und willst du sie heiraten?“

„Ja.“

Sie nickte befriedigt. „Also hast du die Frau gefunden, nach der du gesucht hast – eine anmutige Gastgeberin für Meduseld, königlich, würdevoll und allezeit höflich?“

Éomer starrte sie an. „Wovon sprichst du?“

„Nun, du hast doch gesagt, dass es das wäre, was du willst, nicht wahr? Ich habe bemerkt, dass Lothíriel heute sehr würdig und königlich gewesen ist.“

Er stöhnte verärgert. „Natürlich will ich nicht, dass sie kalt und förmlich mit mir umgeht! Wirklich, Éowyn, der heutige Tag sollte der glücklichste in deinem ganzen Leben sein! Wie kannst du mich so grausam necken?“

Sie hob bloß eine Augenbraue, und wieder stöhnte er. Allerdings hatte seine Schwester Recht. Wann hatte er diese Vision von seiner idealen Königin aufgegeben? Zwei Nächte zuvor? Oder sogar noch früher?

Éowyn ließ den Wein in ihrem Glas herum wirbeln. „Und was werden deine Ratgeber dazu sagen, dass du eine blinde Frau heiratest?“

„Das kümmert mich nicht,“ erwiderte er gereizt. „Sie sollten froh sein, dass ich meine Pflicht erfülle. Elfhelm reitet ständig darauf herum.“

„Ich würde liebend gern ihre Gesichter sehen, wenn du dem Rat deine Pläne mitteilst.“

Er zuckte die Achseln. „Es steht ihnen jederzeit frei, in den Ruhestand zu gehen und Platz für jüngere Männer zu machen. Ich bin noch immer der Herr in meinem eigenen Haus.“

Seine Schwester grinste. „Also, wen du auch heiratest, irgendjemand wird sich immer beschweren. Eine Frau aus der Ostmark oder der Westmark, eine Dame aus Gondor... du wirst es nicht allen Recht machen können, also kannst du genauso gut tun, was dir selber gefällt.“

Auf der anderen Seite der Halle hatte Lothíriel neben Cadda Platz genommen und unterhielt sich lebhaft mit ihm; zweifellos tauschten sie Geschichten oder Lieder aus. Er entdeckte ein blaues Band, das um die Harfe seines Barden geschlungen war und verspürte einen verärgerten Stich. Dann schenkte sie Cadda ein argloses Lächeln voller Freude, und Éomer musste die Augen schließen, so überrascht war er von dem schwarzen Zorn, der ihn durchfuhr... dem Drang, den anderen Mann zu erdrosseln.

„Éomer?“ Seine Schwester klang besorgt.

Er schüttelte den Kopf. „Es ist nichts.“

„Für mich sieht es nicht nach nichts aus. Und mehr noch, ich glaube, du solltest deswegen besser etwas unternehmen.“ Sie nahm ihn beim Arm. „Komm schon, entschuldige dich dafür, was du getan hast, was immer es auch war. Bitte um Vergebung. Krieche vor ihr!“

Wieso hatte er den Eindruck, dass seine Schwester die Sache genoss? Doch einen Moment später wurde sie ernster. „Éomer, sprich einfach mit ihr... sag ihr, was du fühlst.“

„So einfach ist es nicht,“ sagte er wieder.

„Bitte sie, mit dir zu tanzen.“

Éomer beobachtete, wie Imrahil durch die Halle auf seine Tochter und Cadda zuging. Er wechselte ein paar Worte mit ihnen, dann nickte Lothíriel und stand auf. Sie hielt dem Barden die Hand zum Kuss hin, bevor sie den Arm ihres Vaters nahm und die Halle mit ihm gemeinsam verließ.

„Zu spät,“ sagte er.

Éowyn war seinem Blick gefolgt. „Lothíriel zieht sich schon zurück?“ fragte sie bestürzt.

„Sieht ganz so aus.“ Nicht, dass es eine Rolle spielte. Der eine oder andere ihrer Brüder hatte sich den ganzen Abend in ihrer Nähe aufgehalten, zweifellos bereit, irgendwelche Aufmerksamkeiten von seiner Seite abzuwehren.

Dann sah er die offene Besorgnis in den Augen seiner Schwester und schalt sich dafür, dass er ihr den Hochzeitstag verdarb. Er nahm ihre Hand. „Éowyn, bitte mach dir keinen Kummer wegen meiner Angelegenheiten. Ich bin sicher, es wird sich alles regeln.“ Er lächelte. „Du solltest mit deinem Ehemann tanzen und ihn nicht all den Schönheiten von Gondor überlassen.“

Sie drückte seine Finger. „Bist du sicher?“

Er drehte sie in Richtung Halle und versetzte ihr einen sanften Schubs gegen die Schulter. „Ja, ich bin sicher.“

Mit einem Lächeln zurück zu ihm verschwand sie zwischen ihren Hochzeitsgästen. Bald danach sah er sie mit Faramir tanzen. Etwas an der Weise, wie diese beiden sich anschauten, sagte ihm, dass sie die Sorgen ihres Bruders bereits vergessen hatte. Gut.

Éomer ließ die Hand in eine Hosentasche gleiten und befingerte das Band darin. Glatt und weich, wenn auch ein wenig zerknittert, und Lothíriel schuldete ihm noch immer eine Ablöse dafür. Den ganzen Tag war die Überzeugung in ihm gewachsen, dass er irgend etwas nicht mitbekam. Plötzlich beschloss er, die Sache mit Lothíriel auszufechten, und er goss den Rest seines Weines in einem Zug hinunter. Wie ein großer General gesagt hatte: wenn man nichts riskierte, mochte man die Niederlage nicht schmecken, aber man würde auch niemals aus dem Kelch des Sieges trinken. Und er wünschte sich verzweifelt, aus diesem besonderen Kelch zu trinken.

Er hielt sich an einer Seite der Halle und bahnte sich den Weg auf den Ausgang zu. Er hatte die Türen schon beinahe erreicht, als er hörte, das jemand seinen Namen rief.

„König Éomer!“

Er drehte sich um und erwartete halb und halb, die Herrin Wilwarin zu sehen; sie hatte ihm den ganzen Abend über einladende Blicke zugeworfen. Allerdings stellte er zu seiner Überraschung fest, dass ihre Schwester ihn gegrüßt hatte.

„Meine Herrin, darf ich Euch behilflich sein?“ fragte er.

Die Herrin Annarima lächelte ziemlich nervös. „König Éomer, ich wollte Euch nur dafür danken, dass Ihr meinen Sohn vor diesem Warg gerettet habt. Ich weiß, wir schulden Euch sein Leben.“

Er verneigte sich. „Bitte, ich habe nur getan, was jeder andere Mann auch getan haben würde. Hat der Junge sich gut erholt?“

Sie nickte, und er bemerkte, dass sie in den Schatten der Steinsäulen trat, als wollte sie es vermeiden, von der Halle aus gesehen zu werden. „Mein König,“ sagte sie mit gesenkter Stimme, „die Dinge sind vielleicht nicht ganz so, wie sie zu sein scheinen...“

Mit einem Stirnrunzeln machte Éomer einen Schritt auf sie zu. „Was meint Ihr damit?“

Sie sah beinahe so aus, als hätte sie mehr gesagt als beabsichtigt. „Redet einfach mit Lothíriel!“ flüsterte sie, dann wirbelte sie herum und verschwand in der Menge.

Éomer starrte hinter ihr her. Dann wandte er sich zum Gehen. Er war entschlossen, ein paar Antworten zu bekommen. Heute Nacht.


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