Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Acht
Blut im Wasser  

Das Zeichen des wahren Kriegers ist zu wissen, wann er handeln muss und es rasch und entschieden zu tun, wodurch er seine Feinde in Verwirrung stürzt. Er wird wissen, wie er diesen Moment zwischen Erkenntnis und Tat ergreift und ihn zu seinem Vorteil wendet.
(Hyarmendacil: Die Kunst des Krieges)

Ein Warg! Und nicht bloß irgendein Warg, sondern einer der größten, die Éomer je gesehen hatte, im Wasser zusammen gekauert und sprungbereit. Der Pelz auf seinem Rücken vom Alter versilbert, die Augen leuchtend vor Bosheit, beobachtete er die auf der Lichtung versammelte Gruppe. Éomer fluchte, als er sah, dass der Mann, der das gegenüberliegende Ufer des Stroms bewacht hatte, reglos auf der Erde lag. Das Tier musste sich am Rand der Lichtung entlang geschlichen haben, während ihre Aufmerksamkeit auf die beiden jungen Edelleute gerichtet war. Neben ihm zog Elphir sein Schwert mit einer geschmeidigen Bewegung aus der Scheide, zögerte aber, sich zu bewegen, um den Warg nicht zu tödlichem Handeln anzustacheln. Amrothos fluchte ununterbrochen in sich hinein, die Augen unverwandt auf seine Schwester gerichtet.

Am Strand wandte sich Prinzessin Lothíriel ihrem Neffen zu, einen verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht. Bitte, sag nichts! dachte Éomer. Zu spät.

„Alphros, was ist denn los?“

Der Warg drehte seinen riesigen Kopf in die Richtung der beiden. Éomer sah, dass der kleine Junge vor Angst zitterte.

„Alphros?“ fragte die Prinzessin wieder; ihre klare Stimme trug über die plötzlich stumme Lichtung hinweg. Eine der Frauen wimmerte leise.

Wenn der Warg imstande gewesen wäre zu lächeln, er hätte es getan. Éomer wusste, dass Warge weit mehr waren als nur kluges Getier. Nein, sie besaßen eine böse Intelligenz und eine Lust, so viel Schmerz zu bereiten wie möglich. Dieser hier sah aus wie ein Überlebender des Ringkrieges, und die Tatsache, dass er beschlossen hatte, sich vom Fluss her zu nähern und sie an ihrer schwächsten Seite anzugreifen, zeigte seine Schläue. Wieso hatten sie nur keine Bogenschützen mitgebracht!

„Haltet still!“ befahl Éomer mit der Stimme, die über das Schlachtfeld des Pelennor hinweg getragen hatte, und sie erstarrte, wo sie stand; sie begriff, dass irgend etwas ganz und gar nicht in Ordnung sein musste. Alphros klammerte sich an den Saum ihrer Tunika und flüsterte ihr ein paar Worte zu, und Éomer sah, wie das Blut ihr langsam aus dem Gesicht wich.

Ihre Stiefel noch immer in der einen Hand und ihren dünnen, hölzernen Gehstock in der anderen, bewegte sich die Prinzessin langsam vorwärts, und Éomer wurde sofort klar, dass sie sich zwischen den Jungen und die Bestie bringen wollte. Ein tapferes Unterfangen, aber wahrscheinlich nutzlos. Er hatte gesehen, wie Warge einem erwachsenen Mann die Kehle heraus rissen und sich dann ihrem nächsten Opfer zuwandten, in weniger Zeit, als nötig war, um ein Schwert zu ziehen. Oben in den Bäumen schimpfte eine Elster über die unwillkommene Störung, der einzige Laut, der die angespannte Stille durchbrach. Éomer hatte dieses besondere Gefühl schon früher erlebt – für einen atemlosen Moment am Rand einer Klippe zu balancieren, bevor er sich in einen Wirbel aus Gewalt und Blutvergießen stürzte. Seine Gelegenheit zum Handeln – wenn er sie denn ergreifen konnte.

„Feuerfuß! Hierher!“ rief er.

Der große Graue reagierte auf der Stelle. Er entzog sich Oswyns schlaffem Griff und erreichte mit ein paar langen Sätzen seinen Herrn. Während der Hengst an ihm vorüber stürmte, langte Éomer nach dem Sattelknauf. Er sprang, hängte seinen Fuß in den Steigbügel, der ihm an nächsten war und nutzte den Schwung, um sich in den Sattel zu hieven. Sie hatten dieses Manöver hundertmal geübt, doch nie zuvor in solch tödlichem Ernst. Sein Herz hämmerte wild; er presste die Beine fest gegen die Flanken des Hengstes und griff nach seinem Schwert.

Die ganze Zeit über wusste Éomer, dass er zu spät kommen würde. Er musste die Lichtung überqueren; der Warg musste nur einen Satz machen. So wie er es sah, lag seine einzige Chance darin, die Bestie so zu erschrecken, dass sie Fersengeld gab und flüchtete.

Er brüllte lauthals, während er sein Schwert zog.Vor ihm hob der Warg den Kopf; das Maul hing halb offen wie bei einem Grinsen und zeigte eine schreckliche Reihe scharfer Zähne. Er war noch nicht gesprungen – fast, als ob er bis zum allerletzten Moment warten wollte, um die Qual seiner Beute zu verlängern. Oder die Pein des Retters? Dies war kein leicht abgeschreckter Welpe, sondern ein Kriegsveteran, und nicht im mindesten eingeschüchtert. Einen Herzschlag lang begegneten die glitzernden schwarzen Augen denen von Éomer, erfüllt von bösartigem Bewusstsein.

In diesem Moment trat die Prinzessin vor und ließ den dünnen, hölzernen Gehstock mit solcher Wucht auf den Kopf des Wargs herunter sausen, dass der Stock entzwei brach.

„Alphros, lauf!“ schrie sie.

Durch einen glücklichen Zufall hatte ihr Stock die empfindliche Nase der Bestie getroffen. Sie schwang das übrig gebliebene Ende und stach mit der schartigen Spitze gerade in dem Moment zu, als der Warg seinen Kopf in ihre Richtung drehte. Dicht am Auge getroffen, jaulte er vor Schmerz und wich zurück. Die Bestie hielt angesichts dieser unerwarteten Gegenwehr inne, und Alphros fing stolpernd an zu rennen. Wieder brüllte Éomer, während der Warg in erneuerter Wut knurrte und sich daran machte, sein auserwähltes Opfer zu zerreißen. Doch sie hatte Éomer beinahe genügend Zeit erkauft. Nur noch ein paar von Feuerfuß' langen Schritten lagen zwischen ihnen.

„Lothíriel – runter!“ bellte er.

Und die Prinzessin tat glücklicherweise genau wie ihr geheißen und warf sich zu Boden.

Die eisenbeschlagenen Hufe von Feuerfuß schlugen einen Fingerbreit von ihrem Kopf entfernt auf, und dann flog er mit einem mächtigen Satz über ihre hingestreckte Gestalt hinweg und begegnete dem Angriff des Wargs mitten in der Luft. Éomer schwang sein Schwert in Richtung des Kopfes der Bestie, aber durch einen unglaublichen Reflex gelang es dem Warg, sich zur Seite zu drehen und der Klinge auszuweichen.

Mit einem Aufklatschen landete Feuerfuß im flachen Wasser und geriet bei dem Versuch, sich seinem Feind zuzuwenden, auf dem Kies des Flussbettes ins Rutschen. Éomer warf sein gesamtes Gewicht nach links, um dem großen Grauen dabei zu helfen, die Balance zu halten, und wäre dabei beinahe aus dem Sattel gefallen. Der Hengst fand seinen sicheren Tritt wieder und griff den Warg an, der nun im Wasser kauerte.

Éomer verfluchte sich dafür, dass er seine Lanze nicht mitgebracht hatte. Obwohl es dafür geschaffen war, vom Pferderücken aus zu kämpfen, besaß sein Schwert nicht annähernd die Reichweite einer Lanze. Und einem Warg während des Kampfes zu nahe zu kommen, war ein schlechter Einfall. Er konnte den ungeschützten Bauch eines Pferdes mit einem einzigen Biss aufreißen.

Doch hatten sie schon früher gegen Warge gekämpft, und mittlerweile teilte Feuerfuß die Wut seines Herrn. Er machte nicht den Fehler, sich aufzubäumen, sondern stürzte sich statt dessen mit einem lauten, zornigen Wiehern auf das Tier. Bedroht durch diese tödlichen Hufe, verlor der Warg die Nerven, sprang beiseite und knurrte zu dem Hengst hoch. Die falsche Bewegung. Nun bot er Éomer ein klares Ziel. So weit vorgebeugt, wie er konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, legte Éomer seine ganze Kraft in einen mächtigen Schwertstreich. Gúthwine biss so tief in die Kehle des Wargs, dass ihm das Schwert, als die Bestie zusammenbrach, fast aus der Hand gerissen wurde. Mit einem letzten gurgelnden Knurren sank das große Tier in das flache Wasser, das sich sofort zu einem tiefen Rot verfärbte, während sein Lebensblut davon strömte.

Éomer brachte seinen erregten Hengst unter Kontrolle und stellte sich zwischen den sterbenden Warg und die Prinzessin hinter sich, nur für den Fall, dass die Bestie einen letzten Satz versuchte. Einen Herzschlag später lag der riesige Kadaver still.

Er blickte auf und sah, dass seine Männer auf ihn zu rannten. Sie waren erst halb über die Lichtung; der gesamte Kampf hatte so wenig Zeit gekostet. Einer der jungen gondoreanischen Edelleute stand, wo er sich seinen Weg aus den Büschen heraus gesucht hatte und blickte sich verwirrt um. Éomer spürte, wie die Anspannung langsam aus ihm heraus sickerte und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Wie stets nach einem Kampf war er nass geschwitzt bis auf die Haut.

Langsam stieg er ab und drehte sich zu der Prinzessin um. Wieder auf den Beinen, das Gesicht blutleer, hielt sie den bedauernswert gesplitterten Stock vor sich, als wäre sie bereit, weitere Angriffe abzuwehren. Éomer machte einen Schritt auf sie zu.

Dann hatte Amrothos sie erreicht und zog sie in seine Arme. „Lothíriel!“ rief er aus.

„Geht es dir gut?“

Mit einem Schluchzen vergrub sie das Gesicht an seiner Brust und klammerte sich an ihn. „Ist es vorbei?“

Amrothos hielt sie fest an sich gedrückt. „Die Bestie ist tot.“

„Alphros?”

„Er ist in Sicherheit.“

Hinter Éomer schnaubte Feuerfuß leise, und er drehte sich zu seinem Pferd um. Die Prinzessin hatte etwas ungestörte Ruhe verdient, um sich zu erholen. Er untersuchte rasch die Beine seines Grauen, aber zu seiner Erleichterung war alles in Ordnung.

Er tätschelte den Hals von Feuerfuß, der jetzt von Schweiß dunkel befleckt war. „Danke, alter Freund,“ flüsterte er. Der Hengst senkte den Kopf und blies ihm sachte ins Haar. Er wusste, er hatte es gut gemacht.

Oswyn kam gerannt, um das Pferd weg zu führen und abzureiben. Einen Moment später kam sein Hauptmann Éothain, um Bericht zu erstatten. Zu Éomers Erleichterung war der Mann, der die andere Seite des Flusses bewachte, nicht getötet worden, wie er zuerst gedacht hatte. Scheinbar hatte sich der Warg nicht die Mühe gemacht, ihn vollständig zu erledigen, als er eine noch begehrenswertere Beute erspähte. Allerdings hatte der Reiter eine Wunde am Kopf, die heftig blutete und tiefe Risswunden an einem Arm. Sobald man ihm Verbände angelegt hatte, würde man ihn so schnell wie möglich zu einem Heiler bringen müssen.

Er drehte sich um, um zu sehen, wie es der Prinzessin ging. Sie saß auf einem großen Felsbrocken, Amrothos neben sich, seinen Arm um ihre Schultern. Er ging zu ihnen und der Prinz nickte ihm zu.

„Was war es denn nun eigentlich?“ fragte Prinzessin Lothíriel ihren Bruder.

Éomer versuchte sich vorzustellen, wie es wohl sein mochte; ein Kampf, der rings um sie her tobte, ohne dass sie wusste, was eigentlich vorging. Sicherlich war es vollkommen verwirrend und erschreckend gewesen.

„Ein Warg,“ sagte er.

Sie blickte zu ihm auf. Ihre Augen waren riesig in dem kalkweißen Gesicht, und er konnte noch immer etwas von dem Entsetzen sehen, das darin fort dauerte. Tränenspuren zeichneten ihre Wangen.

„Also stimmt es, was Alphros sagte,“ flüsterte sie. „Ich dachte, er hätte sich vielleicht geirrt und es wäre nur ein Wolf.“

„Nur ein Wolf!“ rief Amrothos aus. „Einer der größten Warge, die ich je gesehen habe! Und was hast du dir dabei gedacht, ihm auf den Kopf zu schlagen? Das hat ihn wirklich wütend gemacht.“

„Es tut mir Leid,“ entschuldigte sich die Prinzessin. „Aber ich konnte nicht einfach da stehen und nichts tun, um den armen Alphros zu verteidigen. Er hat vor Angst gezittert!“

Sie hielt noch immer die Überreste ihres Stocks umklammert. „Ein Warg! Ich habe einen Warg angegriffen...“ flüsterte sie, als spräche sie mit sich selbst. Das wenige an Farbe, das sie zurück gewonnen hatte, wich ihr erneut aus dem Gesicht.

„Ihr habt genau das Richtige getan,“ unterbrach Éomer mit mehr Nachdruck, als er beabsichtigt hatte. Wieso blickte Amrothos jetzt so überrascht drein, fragte er sich, konnte der Mann denn nicht sehen, was für eine tapfere Schwester er hatte?

„Ich hätte Euch nicht rechtzeitig erreicht, wenn Ihr das Tier nicht für diesen einen, entscheidenden Moment abgelenkt hättet,“ sagte Éomer fest. „Das war eine sehr mutige Tat.“

Ganz offensichtlich hatte der Warg nicht erwartet, dass seine zierliche Beute sich wehrte; er wusste nicht, dass bei der Prinzessin von Dol Amroth die Wildheit in keiner Weise von der Größe abhing. Etwas Farbe kam in ihr Gesicht zurück geflutet, doch sie schüttelte den Kopf. „Aber nein.“

„Woher habt Ihr gewusst, wo Ihr ihn mit Eurem Stock treffen müsst?“ fragte Éomer. Er hatte sich gefragt, ob das wohl reines Glück gewesen war.

Sie lächelte zittrig. „Oh, das war einfach. Ich habe an seinem Atem gemerkt, wohin ich zielen muss, und nebenbei, er stank.“

Éomer schüttelte den Kopf. Einfach?

Jetzt kam Elphir zu ihnen, der seinen Sohn in den Armen wiegte. Der kleine Junge schluchzte leise.

„Ist das Alphros, der da weint?“ fragte die Prinzessin und erhob sich sofort. „Wo ist Annarima?“

Elphir deutete mit dem Kopf dorthin, wo die Frauen sich in einer Traube um seine Frau sammelten. „Sie ist in Ohnmacht gefallen.“

Éomer sah, dass seine Schwester und Hereswyth, Elfhelms Frau, sich um Annarima kümmerten, die jetzt wach war und scheinbar einen hysterischen Anfall erlitt. Er entschied, die Angelegenheit ihnen zu überlassen. Die Frau des Marschalls, eine unübertrefflich vernünftige Frau, blieb immer ruhig, selbst – wie er bemerkt hatte – wenn sie von ihrem zahlreichen und überaus lebhaften Nachwuchs umgeben war. Sie würde sehr gut imstande sein, mit dieser Sache fertig zu werden.

Die Prinzessin streckte eine Hand aus und strich ihrem Neffen zögernd über das Haar. „Bitte hab keine Angst, Alphros. Du weißt, dein Vater würde niemals zulassen, dass dir irgend etwas Schlimmes geschieht.“

„Ich will nach Hause,“ forderte der kleine Junge unter Tränen.

„Wir gehen von hier fort, sobald wir können,“ versprach Éomer.

Die Prinzessin schien einen plötzlichen Einfall zu haben. „König Éomer denkt, du warst sehr mutig,“ sagte sie und nahm sich Éomer zum Vorbild.

Das Schluchzen verwandelte sich in Schluckauf und Alphros hob den Kopf. „Wirklich?"

Éomer erkannte ein Stichwort, wenn er eines hörte. „Ja, sehr mutig,“ erwiderte er sofort.

„Ich habe dir gesagt, die Männer würden uns schützen, nicht wahr?“ fragte die Prinzessin. „Und sie haben es getan.“

Ihre Stimme war voller Vertrauen, doch Éomer konnte sehen, dass ihre Hände immer noch bebten. Der plötzliche Drang, hinzugehen und den Warg in kleine Stücke zu schneiden, rauschte durch ihn hindurch. Sehr kleine Stücke. Das Vieh war viel zu schnell gestorben, dachte er. Die Tiefe seines Zornes überraschte ihn.

Wie auch immer, es gab ein besseres Ziel. Er deutete auf einen seiner Reiter. „Diese beiden gondoreanischen Narren... bringt sie her.“ Der Mann musste nicht fragen, wen er meinte, und eine kurze Weile später brachte er die beiden jungen Edelleute vor seinen König. Jetzt erinnerte sich Éomer, dass sie die Söhne irgend eines geringeren Herren aus Lebennin waren. Es verschaffte ihm einige Befriedigung, ihre zerkratzten und blutigen Gesichter und ihre zerrissene Kleidung zu sehen.

„Mein König, Ihr wolltet mit uns sprechen?“ stammelte der Ältere der beiden; offensichtlich behagte ihm der Ausdruck auf Éomers Gesicht nicht.

„Was habt ihr euch dabei gedacht, einen Warg geradewegs in eine Gruppe zu führen, die auch aus Frauen und Kindern bestand?“ fragte er ohne jegliche Vorrede.

Der Mann machte einen Schritt rückwärts. „Wahrhaftig, es tut mir Leid. Aber er kam hinter uns her! Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“

„Also seid ihr davon gerannt,“ stellte Éomer trocken fest. Er hob die Stimme nicht; das war auch nicht nötig. Rings um sie her waren seine Männer still geworden, und manche schauten ganz offen zu.

„Es tut mir Leid.“ Der Mann schluckte krampfhaft.

Sein jüngerer Bruder hatte hinter ihm Zuflucht gesucht, aber vor Éomers Blick konnte er sich nicht verbergen. Die beiden waren jung und offenbar nicht an Verantwortung irgend einer Art gewöhnt, aber in Éomers Augen war das keine Entschuldigung für ihr gedankenloses Benehmen. Er hatte in ihrem Alter bereits seinen ersten Éored geführt. Zu wissen, dass seine Entscheidungen für die Männer unter seinem Befehl Leben oder Tod bedeuten konnten, war eine ernüchternde Erfahrung gewesen.

Im Moment war das einzige hörbare Geräusch das gedämpfte Schluchzen, das aus Frau Annarimas Richtung kam. Er genoss es, die Stille bis fast zur Unerträglichkeit in die Länge zu ziehen.

„Das nächste Mal werdet ihr entweder Eure Köpfe oder Eure Schwerter benutzen,“ sagte er endlich; seine Stimme war so leise, dass sie sich vorbeugen mussten, um ihn zu hören, „aber ihr werdet niemals wieder – ich wiederhole: niemals wieder – irgend jemanden in Gefahr bringen, der unter meinem Schutz reitet. Ist das klar?“

Er legte den Schlag einer Peitsche in diese letzten Worte, und beide fuhren zusammen.

„Ja, König Éomer,“ nickten sie.

Er war allerdings noch nicht mit ihnen fertig. „Gut. Ihr könnt hier bleiben, nachdem wir fort sind und den Kadaver abhäuten. Ich will den Pelz haben.“ Das wollte er nicht wirklich, aber er dachte, dass er ihnen damit vielleicht eine Lektion erteilte. Sie blickten angemessen erschreckt drein.

„Aber was, wenn da noch mehr von ihnen sind?“ fragte einer der beiden.

„Klettert auf einen Baum,“ riet Éomer ihnen.

Éowyn und Hereswyth hatten Frau Annarima hinlänglich beruhigt, so dass sie daran denken konnten, sich auf den Weg zurück ins Lager zu machen. Eine weitere kurze Verspätung ergab sich, als Alphros nicht hinter seiner Mutter sitzen wollte; er bestand darauf, er sei kein Baby und könnte auf seinem eigenen Pony reiten. Elphir löste die Angelegenheit, indem er seiner Frau schlicht mitteilte, dass der Junge besser dran wäre, wenn er alleine ritt. Frau Annarima presste die Lippen zusammen, blieb aber friedlich.

Éomer hatte halb und halb erwartet, dass Lothíriel es vorziehen würde, hinter ihrem ältesten Bruder zu reiten, doch sie stieg beherzt wieder auf Winterhauch und schien tatsächlich in der Gesellschaft der Stute Trost zu finden. Sie brachte es sogar fertig, Oswyn anzulächeln, als er das Pferd für sie herbei führte.

Nachdem jedermann aufgesessen war und sie endlich abrücken konnte, warf Éomer einen letzten Blick zurück. Die beiden jungen Edelleute standen neben dem toten Warg, umklammerten ihre Schwerter und beobachteten das Tier nervös, als erwarteten sie, es könne jeden Moment wieder zum Leben erwachen. Gut, dachte er.

Während sie der Reihe nach die Lichtung verließen, fand er sich neben der Herrin Wilwarin wieder.

„Was für ein entsetzlicher Vorfall,“ sagte sie leise. „Beim Anblick dieser Bestie wäre ich beinahe ohnmächtig geworden.“

Éomer schätzte sich glücklich, dass sie es nicht getan hatte. Eine Frau, die in Ohnmacht fiel, war vollkommen ausreichend, aber er hielt es nicht für taktvoll, ihr das mitzuteilen.

„Es tut mir Leid, dass Ihr Euch gefürchtet habt,“ sagte er statt dessen.

Sie warf ihm durch die Wimpern einen Blick zu. „Nun... ich wusste, dass ich unter Eurem Schutz sicher war.“

Ihm war schmerzhaft bewusst, wie falsch diese Feststellung beinahe gewesen wäre; Éomer konnte sich nicht dazu überwinden, die galante Antwort zu geben, die von ihm erwartet wurde.

Die Herrin Wilwarin sprach trotzdem weiter. „Es war so mutig von Euch, dieses furchtbare Geschöpf anzugreifen. Während ich Euch beobachtet habe, ist mir vor Angst nahezu das Herz stehen geblieben.“

Éomer stellte fest, dass er keinen Geschmack an diesem Gespräch fand. „Ihr irrt Euch,“ erwiderte er kurz angebunden. „Nicht ich bin es gewesen, der heute mutig war.“

Mit einem Nicken entschuldigte er sich und drängte Feuerfuß vorwärts; er wollte herausfinden, wie es seinem verletzten Reiter ging.

*****

Zurück auf der Lichtung bezeugten nur noch der zertrampelte Boden und die große Erhebung des Wargkadavers im Fluss, was geschehen war. Die beiden Edelleute hatten versucht, ihn auf höheres Gelände zu zerren, aber er war zu schwer gewesen. Jetzt standen sie mit nassen, kalten Füßen im Wasser und taten ihr Bestes, die Bestie mit ihren Jagdmessern zu häuten.

Oben auf der anderen Flussseite beobachtete Muzgâsh die beiden aus dem dichten Unterholz. Sobald die Rohirrim fort waren, waren er und seine Männer von den Bäumen herab gestiegen, von denen aus sie den Kampf beobachtet hatten. Eine seiner beiden Wachen hob den Bogen hoch, den er bei sich trug und warf seinem Herrn einen fragenden Blick zu. Muzgâsh fühlte sich kurz versucht, die Gondoreaner töten zu lassen, entschied sich aber dagegen. Ihr Verschwinden mochte dafür sorgen, dass der König von Rohan vorgewarnt wurde, und das war das Letzte, was er wollte.

Er schüttelte den Kopf und führte sie lautlos zurück in den Wald, wo sie ihre Pferde angebunden hatten. Er hatte reichlich Stoff zum Nachdenken. Es schien, als wären die Berichte über den Heldenmut des Königs von Rohan als Krieger am Ende doch nicht übertrieben. Der Mann hatte sich mit einer Geschwindigkeit bewegt, die seine Größe Lügen strafte, und mit einer Rücksichtslosigkeit, die Muzgâsh selbst würdig war. Auch würde es keine leichte Sache sein, in seine Nähe zu gelangen. Seine Wachen waren aufmerksam und gut postiert gewesen, auch wenn der Warg sie überrumpelt hatte – genauso wie seine eigenen Männer. Und allein sein Pferd schien schon eine Macht zu sein, mit der man rechnen musste.

Es würde Schläue und Geduld erfordern, einen Weg zu finden, sich dem Mann zu nähern. Glücklicherweise besaß Muzgâsh beides. Er würde den König von Rohan studieren und den Spalt in seiner Rüstung entdecken. Die Männer des Westens waren schwach. Man musste nur die Art anschauen, wie er sein Leben riskiert hatte – bloß für eine Frau.

Muzgâsh rieb sich gedankenvoll die Wange. Es würde weit weniger schwierig sein, in Pfeilschussweite zu gelangen, und einer seiner Männer hatte schlicht und einfach vorgeschlagen, den König der Rohirrim zu erschießen. Doch was das anging, waren die Regeln klar. Wenn Muzgâsh seinen Wert beweisen wollte, dann musste er den anderen in einem Kampf Mann gegen Mann töten. Nebenbei wollte er, dass der König von Rohan begriff, wer ihn erschlug; er wollte die Erkenntnis, wieso er umgebracht wurde, in den Augen des sterbenden Mannes aufdämmern sehen.

Er hatte es dem Schatten seines Vaters versprochen: ein König für einen König.


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