Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Fünf
Die Bezwingerin des Hexenkönigs  

Finsternis bemeistert, Morgen gewonnen
In strahlender Ehre die Eide erfüllt
Doch Schatten fiel über mächtigen König
Und blutloser Feind ließ fliegen den Pfeil
Nun Herz liegt gebrochen, Schneemähne erschlagen
.
(Anonyme Ballade aus Rohan)

Das Pferd regte sich unruhig unter ihr, und Lothíriel verstärkte ihren Griff um Elphirs Mitte. Sie war ebenfalls ungeduldig, sagte aber nichts. Nach dem Vorfall vom letzten Abend schien es ihr diplomatischer zu sein, keinerlei übermäßige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Tatsächlich schätzte sie sich selbst glücklich, dass sie für den Rest ihres Aufenthaltes in Minas Tirith nicht auf das Haus beschränkt blieb. Jedoch wünschte die Herrin Éowyn sie zu sehen, also war sie hier, auf dem Weg zu einem Besuch im Lager der Rohirrim.

„Sind alle bereit?“ fragte Elphir.

Was als einfacher Morgenritt mit Amrothos geplant gewesen war, hatte sich zu einer kleineren Expedition ausgewachsen. Lothíriel hatte das Gefühl, dass ihr jüngerer Bruder nach Meinung ihres Vaters nicht länger als mäßigender Einfluss genügte, was der Grund war, weswegen Elphir angewiesen worden war, sie zu begleiten. Dann hatte Alphros darauf bestanden, auch mitzukommen, um einen Blick auf das zu werfen, was er nach wie vor als sein Pony betrachtete. Dies widerum hatte dazu geführt, dass Annarima beschloss, sich ihnen anzuschließen, da sie ihren kostbaren Sohn nicht in der Obhut seiner unzuverlässigen Tante zu lassen wünschte. Wenigstens hatte ihr eisiger Tonfall während der wenigen Gelegenheiten, bei denen sie das Wort an Lothíriel richtete, genau das angedeutet.

Gerade als sie hatten aufbrechen wollen, waren Annarimas Mutter und ihre jüngere Schwester, die Herrin Wilwarin, auf einen unangekündigten Besuch eingetroffen. Zwei junge Edelleute – offensichtlich glühende Verehrer der letzteren – begleiteten sie. Die ganze Gruppe hatte entschieden, ihren Ausflug mitzumachen, und es hatte eine Weile gedauert, Wachleute auszusuchen, die sie eskortieren sollten. Aber jetzt sah es endlich so aus, als könnten sie sich auf den Weg machen.

Durch Minas Tirith zu reiten, war für Lothíriel immer ein Genuss. Sie ließ die Unterhaltung einfach über sich hinweg spülen und stellte sich statt dessen die Aussichten vor, von denen sie wusste, dass sie an jeder Ecke grüßten. Die kurzen Einblicke in die Vorhöfe der Leute, die kleinen, gewundenen Seitengassen, die von der Hauptstraße abgingen und die kleinen Springbrunnen, die sich in geheimen Winkeln verbargen. Ein ganzes Netz aus Pfaden führte an den Rückseiten der Häuser entlang; in Wirklichkeit waren sie dazu gedacht, dass die Dienerschaft sie benutzte, aber für Kinder waren sie ebenso nützlich.

Neue Geräusche und Gerüche bestürmten ihre Nase, als sie den Jahrmarkt erreichten. Quacksalber priesen lärmend ihre Waren an, wobei einer immer versuchte, die anderen zu übertönen; sie ließ sich von Elphir erklären, was es zu sehen gab. Das war der Vorteil daran, wenn sie mit ihrem älteren Bruder ritt. Amrothos war geistreich und amüsant, aber er besaß oft nicht die Geduld, ihre Fragen in so vielen Einzelheiten zu beantworten, wie sie es gern wollte. Elphir antwortete freundlich und unermüdlich; er beschrieb die Stände mit den farbenfrohen Seidenstoffen, den kostbaren Gewürzen und dem getriebenen Silberschmuck, den man tief aus dem Süden importiert hatte, ebenso wie die vielen Lebensmittelhändler. Es ging auf die Mittagszeit zu, und Lothíriel knurrte bei den köstlichen Düften der Magen. Müßig fragte sie sich, ob wohl im Lager der Rohirrim irgendwelche Erfrischungen serviert werden würden.

Nicht, dass sie sich ganz sicher war, wie man sie dort empfangen würde. Was ihr am Abend zuvor wie ein solch vernünftiges Betragen vorgekommen war, sah an diesem Morgen sehr nach Rücksichtslosigkeit aus. Bevor sie aufbrachen, hatte ihr Vater sie auf ein paar Worte beiseite genommen, und obwohl er nicht viel gesagt hatte – das tat er nie – war sein Missvergnügen über die Tatsache, wie der König von Rohan zu einem zugegebenermaßen nicht sehr nützlichen, zusätzlichen Packpferd gekommen war, mehr als offenkundig gewesen. Sie hatte versprechen müssen, makellos höflich zu sein, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass König Éomer sich des armen Galador bereits entledigt hatte. Tatsächlich war ihr dieses Versprechen leicht gefallen. Einer Sache war sie sich sicher: er würde stets sein Wort halten.

Was sie noch immer verwirrte, war, wieso er sie am Abend zuvor gerettet hatte. Bis er das Wort ergriff, hatte sie nicht einmal gewusst, dass er da war, weil sie so sehr damit beschäftigt war, ihren Vater davon zu überzeugen, dass er sie das Pony behalten ließ.

Irgendwie passte die Reaktion des Königs von Rohan nicht mit dem Bild zusammen, das sie sich von ihm gemacht hatte. All die Geschichten, die sie gehört hatte, beschrieben ihn als mächtigen Krieger und als meisterhaften Anführer seiner Männer. Es hatte sie beinahe wie ein Schock getroffen, dass jemand, der ihr wie ein Held aus einer uralten Geschichte vorgekommen war, auch eine menschliche Seite besaß. Jetzt war sie neugierig, wie diese sogar noch legendärere Gestalt, die Bezwingerin des Hexenkönigs, wohl sein mochte.

In diesem Moment wurden sie von den ersten Posten um das Lager der Rohirrim begrüßt; sie waren selbst in Friedenszeiten von scharfer Wachsamkeit. Allerdings erkannten sie Elphir, begrüßten sie höflich und geleiteten sie weiter in das Lager hinein, wo sich das Zelt ihres Königs befand.

Er erwartete sie bereits und begrüßte sie mit Wärme. Lothíriels leichte Nervosität schwand, als sie das ehrliche Vergnügen in seiner Stimme bei ihrem Anblick hörte, und sie lächelte auf ihn hinab, als er anbot, ihr beim Absteigen zu helfen.

„Wenn Ihr so freundlich wärt, mein König,“ erwiderte sie und erwartete, dass er ihr eine Hand reichte, damit sie vom Pferderücken hinab gleiten konnte.

Statt dessen packte er sie um die Taille und hob sie einfach in einer glatten,schwungvollen Bewegung hinunter. Einen Herzschlag lang war sie in seinem kraftvollen Griff vollkommen hilflos, aber zu ihrer Überraschung fand sie das Gefühl nicht unangenehm. Ihr Puls ging schneller.

Er setzte sie sanft ab. „Dankeschön,“ stammelte Lothíriel verwirrt.

„Es war mir ein Vergnügen, meine Herrin,“ antwortete er. „Darf ich Euch meinen Arm anbieten? Meine Schwester freut sich sehr darauf, Euch kennen zu lernen.“

Sie nickte; noch immer fühlte sie sich unerklärlich unsicher. Er reichte ihr seinen Schildarm und sie konnte spüren, wie die mächtigen Muskeln unter dem dünnen Gewebe seiner Tunika spielten. Glücklicherweise wurde sie in diesem Moment abgelenkt. Das Rascheln eines Gewandes zeigte an, dass sich auf seiner anderen Seite eine Frau näherte.

„König Éomer,“ rief diese Frau mit leiser Stimme aus. Die Herrin Wilwarin; Lothíriel erkannte sie sofort. „Ich hoffe, Ihr vergebt diese Zumutung, aber es ist wirklich solch ein schöner Tag, dass ich nicht anders konnte, als um einen Platz in Begleitung meiner Schwester zu bitten.“

„Ihr seid hier stets willkommen,“ versicherte ihr der König. Frau Wilwarin dankte ihm mit einem bezaubernden, silbrigen Lachen. Ihre weiche, seidige Stimme erinnerte Lothíriel an flüssigen Honig.

Lothíriel hatte Amrothos' Worte nicht vergessen, dass man dachte, der König von Rohan würde der schönen und wohlerzogenen Frau Wilwarin höchstwahrscheinlich einen Antrag machen, doch obwohl sie sorgfältig lauschte, konnte sie in seinem Tonfall nicht mehr als eine höfliche Bewunderung hören. Wenn ich nur sein Gesicht sehen könnte, dachte sie plötzlich, dann sagte sie sich selbst streng, dass sie die Sache überhaupt nichts anging.

„Also, Éomer, brauchst du noch den ganzen Tag?“ wollte eine neue Stimme zu ihrer Linken wissen, und sie fuhr zusammen.

König Éomer musste ihre erschrockene Reaktion bemerkt haben, denn er legte kurz eine beruhigende Hand auf die ihre. „Prinzessin Lothíriel,“ sagte er, „lasst mich Euch meiner Schwester Éowyn vorstellen, die so ungeduldig ist wie immer. Éowyn,“ fügte er hinzu, „du bist Frau Wilwarin schon begegnet, nicht wahr? Sie besucht uns ebenfalls.“

„Ich bin entzückt,“ erwiderte seine Schwester in einem Ton, dem jegliches Gefühl abging.

„Es ist mir ein Vergnügen,“ sagte Frau Wilwarin. Wenn möglich, war ihre Stimme sogar noch sanfter geworden. Bildete Lothíriel sich das nur ein, oder war die Temperatur soeben spürbar gesunken?

„Wenn Ihr zum Pavillon mitkommt,“ sagte Frau Éowyn, „dann könnt Ihr etwas trinken und essen, und wir können nett miteinander plaudern.“ An ihren Bruder gewandt, fügte sie hinzu: „Gib mir deinen anderen Arm, Éomer,und mach schnell, deine Gäste warten auf dich.“

Er lachte, gehorchte ihr aber widerspruchslos. Auf dem Weg stellte König Éomer Lothíriel einigen der anwesenden Herren und Damen vor, aber sie konnte nicht mehr als einen höflichen Gruß mit ihnen wechseln. In Windeseile fand sie sich in einem kleinen Sessel auf einer Seite des offenen Pavillons wieder, mit einigen Scheiben Brot und etwas, das sich nach einem vorsichtigen Knabbern als kleine Käseauswahl auf einer Platte herausstellte.

„Mögt Ihr Wein?“ fragte Frau Éowyn sie, und als Lothíriel nickte, wurde ihr ein Glas in die Hand gedrückt. Überall rings um sie her sprachen die Leute Westron mit diesem besonderen, singenden Klang, der den Rohirrim gemeinsam war.

„Na endlich,“ sagte die Frau, die den Hexenkönig erschlagen hatte; ihr Sessel knarrte, als sie sich hinsetzte. „Wisst ihr, ich bin vor Neugier, Euch kennen zu lernen, fast umgekommen.“

Lothíriel fand diese Feststellung ziemlich erschreckend. „Seid Ihr das?“

„Aber ja! Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich dieses außergewöhnliche Tier zu Gesicht bekam, das Ihr Éomer angedreht habt. Da wusste ich, dass ich Euch kennen lernen muss.“

„Aber ich habe es Eurem Bruder nicht angedreht!“ rief Lothíriel aus und musste ihr Weinglas festhalten, damit es nicht umkippte. „Tatsächlich hat er mir aus freiem Willen angeboten, Galador zu nehmen.“

Frau Éowyn tätschelte ihr die Hände. „Ja, natürlich. Bitte macht Euch keine Gedanken. Es wird meinem Bruder gut tun, und vielleicht könnte es ihn sogar ein wenig Demut lehren.“

Lothíriels Appetit hatte sie ganz und gar verlassen. „Bitte, Frau Éowyn,“ sagte sie, und schob ihren Teller weg, „glaubt mir, das war nicht meine Absicht. Ich werde das Pony mit mir nehmen, wenn wir gehen. Ich bin sicher, mein Vater kann einen Platz für ihn finden.“

„Aber so habe ich das nicht gemeint!“ sagte Frau Éowyn, gerade, als die tiefe Stimme des Königs von Rohan sie unterbrach.

„Éowyn,“ sagte er scharf, „was hast du gesagt, um die Prinzessin aufzuregen?“

„Es tut mir Leid! Das war nicht meine Absicht, bitte vergebt mir,“ erwiderte seine Schwester.

Verlegen darüber, dass die Siegerin über den Hexenkönig sie um Verzeihung bat, ergriff Lothíriel das Wort. „Es ist meine Schuld, Herr,“ wandte sie sich an König Éomer. „Doch wie ich gerade zu Eurer Schwester sagte, ich kann das Pony mit mir nehmen, wenn wir gehen.“

Es gab eine kurze Pause. Lothíriel bemerkte, dass der König von Rohan nicht fragte, um welches Pony es sich handelte.

„Bitte tut das nicht,“ sagte er statt dessen. „Galador hat sich gerade erst eingewöhnt. Ich denke, es gefällt ihm hier.“

Lothíriel war hin-und her gerissen zwischen dem Verlangen, König Éomer nicht noch mehr aufzuerlegen und dem Wissen, dass sie keinen Platz hatte, wo sie das arme Ding unterbringen konnte.

Sie biss sich auf die Lippen. „Seid Ihr sicher?“

„Absolut,“ versicherte er ihr. „Tatsächlich betrachte ich es als ein großes Vorrecht.“

Lothíriel schwor auf der Stelle, den König von Rohan nie wieder zu bitten, sich um einen ihrer Schützlinge zu kümmern. Als nächstes würde er ihr wahrscheinlich dafür danken, dass sie ihm einen Gefallen tat. Es war einfach zu demütigend, und nie zuvor hatte sie sich so schuldig gefühlt.

„Danke, mein König,“ sagte sie leise und ließ sich wieder in ihrem Sessel nieder.

„Wir wollen von etwas anderem sprechen,“ schlug Frau Éowyn vor, und Lothíriel stimmte mit Freuden zu.

Der König von Rohan entschuldigte sich und ging hin, um mit seinen anderen Gästen zu reden, und Frau Éowyn fing an, ihr von den geplanten Festlichkeiten zu erzählen. Von einigen hatte Lothíriel natürlich schon gehört – wie von dem Empfang im Merethrond, der am Abend stattfinden würde - und tatsächlich hatte sie ihre Kammerjungfer schon auf einen Botengang geschickt, der damit zu tun hatte. Die meisten der Vorbereitungen für die Hochzeitszeremonie waren ihr allerdings neu.

„Zu einem gewissen Zeitpunkt dachte ich, ich würde überhaupt niemals heiraten,“ scherzte Frau Éowyn. „Die Pläne wurden immer ausführlicher, und es dauerte länger und länger.“

Lothíriel lachte. „Nun, jetzt sind es nur noch ein paar Tage.“

„Ich glaube nicht, dass ich noch viel länger warten könnte,“ seufzte Frau Éowyn, „und ich weiß, der arme Faramir wird sehr ungeduldig.“

Lothíriel wusste nicht so ganz, was sie auf eine derart unverblümte Rede antworten sollte. Sie spürte, dass sie anfing zu erröten. Dies war nicht die Art, in der wohlerzogene, gondoreanische Edeljungfern über ihre bevorstehende Hochzeit sprachen.

„Frau Éowyn, darf ich Euch etwas fragen?“ sagte sie nach einem kurzen Zögern.

„Ja, natürlich,“ erwiderte Éowyn sofort, „und bitte nenn mich Éowyn. Immerhin sind wir bald miteinander verwandt.“

„Es wäre mir eine Ehre,“ antwortete Lothíriel und stellte die Frage, die ihr während der letzten paar Monate auf der Seele gelegen hatte. „Wieso hast du mich gebeten, deine Trauzeugin zu sein? Ich möchte damit nicht sagen, dass ich mich nicht darüber freue,“ fügte sie hastig hinzu, „aber du kennst mich doch gar nicht.“

Jetzt war Éowyn mit dem Zögern an der Reihe. „Faramir hat mir von dir erzählt,“ sagte sie endlich. „und er hat erwähnt, du wärst seine Lieblingsbase.“

„Hat er dir gesagt, dass ich blind bin?“ fragte Lothíriel. Was hatte Faramir noch über sie erzählt?

Éowyn schien über ihre Offenheit nicht gekränkt zu sein. „Ja, das hat er,“ gab sie zu, „ aber ich sehe nicht, was für eine Bedeutung das haben sollte, für was auch immer.“

Lothíriel stellte plötzlich fest, dass sie die andere Frau sehr gern hatte. „Selbstverständlich gar keine,“ sagte sie und setzte ihr bestes Lächeln auf.

Éowyn lachte. „Wir haben es ohnehin leicht. Alles, was wir tun müssen, ist rechtzeitig dort zu sein und hübsch auszusehen, was nicht schwierig sein sollte. Faramir sagt, sein Truchseß ist einem Nervenzusammenbruch nahe, weil er versucht, alle Festlichkeiten zu organisieren. Tatsächlich befindet sich Faramir gerade in Emyn Arnen, aber er hat versprochen, für das Bankett heute Abend zurück zu sein.“

„Ich mache mir nur Sorgen, dass ich dich von oben bis unten mit Wein übergieße, während ihr Eure Versprechen austauscht,“ vertraute Lothíriel ihr an.

„Oh, mach dir keine Sorgen,“ entgegnete Éowyn spontan, „Faramir würde es wahrscheinlich nicht einmal sehen. Du weißt doch, wie die Männer sind. Sie bemerken nie, was du anhast.“

Unwillkürlich sah Lothíriel einen völlig vernarrten Faramir vor ihrem inneren Auge, der seine Braut anhimmelte, während sie da stand und mit Wein durchweicht war bis auf die Haut.

„Nun, das könnte ihm vielleicht auffallen, denke ich.“ Unwillkürlich gluckste sie.

Éowyn stimmte mit ein und bald lachten sie so heftig, dass Lothíriel beinahe ihr Glas umwarf... was nur dafür sorgte, dass sie umso mehr lachten.

„Da ist eine Sache, die muss ich dich allerdings fragen,“ sagte Éowyn, als sie wieder zu Atem gekommen waren. „Du weißt, es wird eine Prozession von Minas Tirith nach Emyn Arnen geben. Reitest du?“

„Allein, meinst du?“ fragte Lothíriel zurück.

„Ja.“

„Daheim in Dol Amroth habe ich ein Pferd,“ erklärte Lothíriel, und sie konnte die Bitterkeit nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen. „Es ist das älteste und friedlichste Tier im Stall meines Vaters, und schneller als im Schritt geht es nicht. Amrothos nennt es Blitz.“

„Ah!“ sagte Éowyn. „Das hatte ich schon vermutet. Und doch sagt Faramir, dass du Pferde liebst und eine gute Reiterin bist.“

„Das war ich,“ korrigierte Lothíriel sie.

Éowyn verfiel in Schweigen. „Ich denke, ich muss mit Éomer reden,“ murmelte sie halb zu sich selbst, und dann rief sie „Cadda!“, so laut, dass Lothíriel fast aus ihrem Sessel fiel.

„Frau Éowyn?“ antwortete einen Moment später eine neue Stimme.

„Lothíriel, das ist Cadda, der Barde meines Bruders,“ stellte Éowyn den Neuankömmling vor. „Cadda, würdet Ihr euch einen Augenblick um Prinzessin Lothíriel kümmern, während ich gehe und mir Éomer spreche? Ich bin sicher, sie liebt Musik. Alle Damen tun das, hier in Gondor.“

Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern war unter dem Geraschel von Kleidern verschwunden. Lothíriel war über den plötzlichen Aufbruch ihrer Gastgeberin sehr verblüfft, aber der Barde schien ganz locker damit umzugehen.

„Ihr liebt Musik, Herrin Lothíriel?“ fragte er nach einer kurzen Pause.

„Das tue ich in der Tat,“ stammelte sie, „aber bitte, ich bin ganz damit zufrieden, einfach hier zu sitzen. Einen Betreuer brauche ich nicht, und Ihr müsst Eure Zeit nicht mit mir verschwenden.“

„Zeit, die man in Gesellschaft einer hübschen Frau verbringt, ist nie verschwendet,“ wandte er ein. „Seid Ihr die Dame mit dem Pony?“

„Ja.“ Hatte denn jedermann von diesem unglückseligen Vorfall gehört?

„Ach so,“ war alles, was er sagte. „Lasst mich meine Harfe holen.“

Er kam eine kleine Weile später zurück und setzte sein Instrument mit einem leichten Bums ab.

„Dies ist Leofwen,“ sagte er; seine Stimme war sanft und liebevoll. „Sie unterscheidet sich dadurch von den meisten gondoreanischen Harfen, dass sie zwanzig Saiten hat, nicht nur zwölf.“

„Darf ich... sie... anfassen?“ fragte Lothíriel.

„Wenn Ihr möchtet.“

Lothíriel streckte eine Hand aus und strich mit der Hand über die Harfe. Das Holz war warm und seidenglatt, und die Saiten summten leise unter ihrer Berührung, tiefer und klingender als ihre eigene, kleine Harfe.

„Sie mag Euch,“ stellte der Barde fest. „Was soll ich für Euch spielen?“

Das war eine leichte Frage. „Irgendetwas über Rohan.“

Als er anfing zu spielen, schloss sie die Augen. Es war eine alberne Angewohnheit, da sie ohnehin nichts sehen konnte, aber irgendwie half es ihr, sich zu sammeln. Er war sehr gut, und sie überließ sich einfach der Musik und ließ sich von ihr davon tragen. Als er zuerst mit ihr gesprochen hatte, hatte sie ihn für ziemlich jung gehalten, aber jetzt wurde seine Stimme voller und kräftiger; manchmal rau und gnadenlos wie die Berge, und im nächsten Moment leise und sanft wie die weiten, offenen Ebenen. Sie verstand die Worte seines Liedes nicht, aber das war auch nicht nötig.

Gleich kostbaren Perlen fielen die letzten Noten in die Stille, und für einen Augenblick war alles ruhig. Lothíriel seufzte, und dann fingen die Leute an zu klatschen, und sie erschrak. Ihr war überhaupt nicht klar gewesen, dass eine Menschenmenge sich um sie versammelt hatte, um dem Spiel des Barden zuzuhören.

„Das war wunderschön,“ sagte sie zu Cadda.

„Ich danke Euch. Was würdet Ihr gern als nächstes hören?“

Lothíriel zögerte, nicht sicher, worum sie bitten sollte. Hinter sich hörte sie, wie die beiden jungen Männer, die Frau Wilwarin begleitet hatten, miteinander redeten.

„Worum ging es denn da?“ fragte einer von ihnen. „Ich habe kein Wort davon verstanden.“

„Wahrscheinlich um ein Pferd,“ antwortete der andere. „All ihre Lieder handeln von Pferden.“

Bei dem erstickten Gelächter, das darauf folgte, erstarrte sie, verärgert über eine solche Unhöflichkeit; sie hoffte, dass der Barde die beiden nicht gehört hatte.

„Ein Liebeslied!“ rief jemand in der Menge. „Sing uns ein Liebeslied!“

„Meine Herrin?“ fragte Cadda. Trotz seiner beherrschten Stimme war sich Lothíriel sicher, dass sie eine Spur Ärger darin hören konnte.

„Singt zu uns von Liebe.“ Sie nickte.

Er stimmte eine der Saiten nach und spielte ein paar einleitende Noten, dann brachte er die Harfe zur Ruhe.

„Dies ist eines unserer Lieder, das ich ins Westron übersetzt habe,“ erklärte er. „Es heißt Herzensbrecher.“

Die Menge wurde still; sie erwartete wunderschöne, goldhaarige Maiden und sanfte Worte von Liebe und Hingabe.

Statt dessen bekam sie Pferde, die in verzweifelter Not über die Graslande dahin donnerten, Hörner, die tapfer unter einem Morgenhimmel bliesen, der hinter einer Decke aus schwarzen Wolken verborgen lag und die rauen Klänge von Schlachten und Tod. Er erzählte die Geschichte, wie König Théoden seinem Schicksal entgegen ritt, und wie er den Häuptling der Haradrim bezwang, auf dessen Banner die schwarze Schlange flatterte. Lothíriel stockte der Atem, als der Barde davon berichtete, wie der Schatten des Nazgûl des Königs Schild verfinsterte und Théodens Reittier fiel, wobei es seinen geliebten Herrn unter sich zerschmetterte. Als Cadda die letzten Zeilen sang, hatte sie Tränen in den Augen.

Als er das Lied beendete, herrschte vollkommene Stille, dann fing jemand langsam an zu klatschen. Lothíriel musste sich die Augen mit dem Ärmel abwischen, ehe sie einstimmen konnte.

„Es tut mir Leid, meine Herrin,“ flüsterte der Barde ihr unter dem Schutz des donnernden Beifalles zu. „Ich wollte Euch nicht zum Weinen bringen.“

„Ihr habt Recht daran getan, diese Narren daran zu erinnern, wie viel wir den Rohirrim schulden!“ erwiderte Lothíriel heftig, und Cadda lachte überrascht.

„Prinzessin Lothíriel?“ Wie üblich hatte der König von Rohan sich ihr unbemerkt genähert, aber sie fing an, sich daran zu gewöhnen.

„Mein König?“

„Meine Schwester dachte, Ihr würdet gerne sehen, wie es Galador geht,“ sagte er. „Und da ist noch etwas, das Éowyn Euch gern zeigen möchte.“

Lothíriel setzte sich aufrechter hin. „Liebend gern!“ rief sie aus. Sie stellte ihren Teller auf die Erde und wandte sich dem Barden zu, um ihm zu danken.

„Es war ein Vergnügen, für eine Dame zu spielen, die ebenso tiefsinnig ist wie schön,“ erwiderte er.

Lothíriel lief rot an und musste sich selbst streng daran erinnern, dass den Rohirrim jeder mit schwarzen Haaren exotisch erscheinen musste.


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