Verstreute Blätter (Scattered Leaves)
von Aratlithiel, übersetzt von Cúthalion

6. Oktober 1420

Der Wind dreht sich, die Zeit schwankt und die Erinnerung zerschellt vor meinen Augen unter dem Echo von grausamem Gelächter, das die Geister des Oktobers grüßt.

Ich fühle in Farben, und alle sind schwarz.

Hasst du Ihn? Verabscheust du Ihn? Jubelst du über Seine Zerstörung?

Ja. Oh ja.

Liebst du Ihn? Sehnst du dich noch nach Ihm?

… oh… ja.

Ich bin verloren in der Schwärze, in einem Meer des Verlangens, einem Ozean der Verzweiflung. Noch immer wiegt Er mich und flüstert von einem verlorenen Leben, einer verschwendeten, toten Seele. Er liebkost meine Stirn mit kalten Fingern, die meinen Geist in Brand setzen, Er rast durch meine Venen mit der Hitze geschmolzenen Eisens, Er spaltet mein weinendes Herz mit der Bresche von geschmiedetem Stahl. Er singt mir zu – eine Weise, zu der ich keine andere Wahl habe als zu tanzen, bis mein Herz zerreißt und ich ausgedörrt und leblos in die Zerstörung meines Geistes hineinfalle.

Er spricht zu mir und ich muss zuhören. Er befiehlt mir und ich muss gehorchen. Er will mich, Ihm gelüstet nach mir und ich muss...

Mit zitternden Händen biete ich Ihm meine zerbrochene Seele, und sehe, wie sie von knirschenden Zähnen und einer gierigen Zunge verschlungen wird. Ich sehe, wie das Lebensblut meines Geistes ausgetrocknet wird von aufgedunsenen, grausamen Lippen, die sich zu einem spöttischen Lächeln verziehen, während ich am Rande des Abgrundes taumele. Ich trauere um das Herz, das seinen leeren Rhythmus in meiner Brust schlägt und seine nichtige Hatz auf ein Leben fortsetzt, das jetzt außer Reichweite liegt, und ich verfluche es für seine sinnlose Hoffnung.

Er murmelt mir zu, sein kalter Atem in meinem Genick und – jenseits von Liebe, jenseits von Hass, jenseits jedem Verstand – rolle ich mich in Seiner Umarmung zusammen und lasse zu, dass Er mich besitzt. Ich kann Ihn jetzt nicht zurückweisen – das ist eine Wahl, die ich bereits getroffen habe, und ich zahle den Preis weiter mit dem erbarmungslosen Missbrauch meiner Seele. Ich gehöre Ihm, und ich werde Ihm gehören.

Der Wind dreht sich, die Zeit schwankt und die Erinnerung zerschellt vor meinen Augen unter dem Echo von grausamem Gelächter, das die Geister des Oktobers grüßt.

Graue Schatten dringen ein in meine Welt und der bleiche König spottet mit zischendem Gelächter und kaltem, schwarzen Stahl. Das Grau durchbohrt mich, ein Dolch aus brennendem Eis, und es macht den Weg frei für die Schwärze. Er lacht und denkt, dies sei mein Ende, und ich lache noch mehr, denn ich weiß, es ist nur der Anfang. Das Grinsen auf meinem Gesicht ist das eines kreischenden Kadavers, die Schreie, die sich meinem aufgerissenen Mund entringen, hallen wider von irrsinnigem Witz.

Lächerlich sind wir beide, mein König. Er ist ein grausamer Meister, der und in Seiner Macht hält.

Ich frage mich, ob die Worte, die ich verzweifelt hervorstieß und die dich um deinen Preis betrogen haben, mir die Zunge verbrennen würden, wenn ich versuchte, sie heute auszusprechen. Würde die Herrin mich hören, wie sie es zugesagt hat? Oder würde sie mich dafür niederstrecken, dass ich die Stirn habe, Worte der Gnade mit einer Zunge zu äußern, die schamlos und verrottet ist? Ich werde es nie wissen, denn ich wage den Versuch nicht.

„Weder mich noch den Ring sollt Ihr haben!“

Siehst du, ich hatte Recht... denn Er hatte uns schon, alle beide. Es ist die grausamste aller Ironien, dass du nun dahin bist, jenseits deines Elends, deiner Qual entronnen, während ich...

Der Wind dreht sich, die Zeit schwankt und die Erinnerung zerschellt vor meinen Augen unter dem Echo von grausamem Gelächter, das die Geister des Oktobers grüßt.

Das süß duftende Tuch auf meiner Stirn ist kühl und blau, der Kuss auf meine Schläfe wärmstes Rosa. Ach, dass du dich so besudelst – ein keuscher Kuss auf eine Fassade ermatteter Lust. Ich werde Ihn dich nicht berühren lassen, ich würde mich nicht unter deine Tröstungen beugen, wenn ich ihnen widerstehen könnte. Aber deine Berührung zerschmettert die Schwärze, wärmt das Grau und ich bin zu schwach an Leib und Seele, um den Verzauberungen der Farbe zu widerstehen, die du mir mit deiner zärtlichen Fürsorge bringst.

Ihn wirst du auch trösten, wenn ich gegangen bin. Er wird die Wärme deines strahlenden Herzens nötig haben, wenn der leere Geist, den er sich zu sehen weigert, ihn erst einmal verlassen hat. Er wird es nicht verstehen.

Deine Fingerspitzen auf meiner Wange sind kühles Grün; blasse Gräser, dunstig vom ersten, tastenden Glühen einer sanften Morgendämmerung. Ah, da – siehst du? Jetzt erinnere ich mich. Da ist eine Welt außerhalb dieser Finsternis, die in meine Seele hineinruft, und sie ist voll von vergessenen Farben und einer Schönheit, die einen entfernten Widerhall im Gedächtnis meines Herzens weckt – eine Erinnerung, die wie verwelkte Blätter in den Winden eines grausamen Oktobers zerflattert.

Ich höre Gelächter in diesem Wind, perlend und fröhlich. Apfelrunde Wangen, ein unbeflecktes Lächeln und Augen, die vom Feuer der Jugend strahlen, wenden sich mir zu aus entfernten Träumen von Liebe und Familie. Wer sind diese frohen Kinder, die mich mit Augen von goldenem Grün und gedämpftem Indigo anschauen, die von freigiebiger Liebe überfließen?

Wie ein Körper drehen sie sich um und sausen davon. Lachend renne ich hinter ihnen her. Wie der Wind rennen sie und verschwinden im Nebel, das Silber kindlichen Kicherns tanzt auf der Brise – glockenklare Musik für meine hungrigen Ohren. Meine tastenden Hände finden ihr Ziel; wir liegen alle drei auf dem Boden, und Gelächter sprudelt unter meiner Haut.

Die Noten der Musik verändern sich, das fröhliche Grinsen verzerrt sich zu Grimassen der Pein, das Gelächter zu qualvollen Schreien. Gedämpftes Indigo ertrinkt in Schwarz, goldenes Grün ist blutig und tropft Karmesin über hagere, bleiche Wangen hinunter. Ich klammere mich voll Entsetzen an sie und versuche mit zerrissener , kreischender Stimme ein beruhigendes Wiegenlied. Sie winden sich in meiner Umarmung und schreien auf unter dem Schmerz meiner Berührung.

Ich muss sie freigeben, sonst bin ich ihr Ruin.

Ich weiche zurück, das Gefühl ihrer Haut unter meinen Fingerspitzen ein süßer Schmerz, der durch meine Venen und in mein entstelltes Herz strömt. Sie schauen zu mir herüber und rufen nach mir. Sie begreifen nicht, dass ich es bin, der sie mit meiner schwächlichen Nachahmung der Liebe zerstört. Ich kann ihnen jetzt nichts anderes als Schmerz geben, und sie würden es als ihren Lohn ansehen und mich dafür lieben.

So will ich es nicht haben.

Ich weiche zurück.

Der Wind dreht sich, die Zeit schwankt und die Erinnerung zerschellt vor meinen Augen unter dem Echo von grausamem Gelächter, das die Geister des Oktobers grüßt.

Rot kriecht in meine Welt der Farben und ich sehe zu, wie brennendes Scharlach aus dem Abgrund in meiner Brust hervortropft, wo Er einst geruht hat. Ich schaue auf meine Hand, an der triumphierend ein Goldreif thront, verächtlich in seinem Verrat, verführerisch in seiner Verderbtheit. Er hat mich die ganze Zeit besessen, er musste nur warten.

Ich wirble in Seinen Tiefen, ersticke in Seiner Finsternis. Die Sterne haben Stimmen, und jede einzelne schreit... ihre Lieder hallen wider mit dem Wahnsinn von Seelen, die für immer in dem eisigen Abgrund gefangen sind, den Er in Ewigkeit im Kreise dreht. Schlängelnde Kreaturen kriechen aus dem Schleim zu meinen Füßen und nicken mir wissend zu. Wir sind jetzt Brüder. Sie sprechen zu mir in einer dunklen Zunge und meinem Mund entströmen Antworten wie dunkles, verklumptes Blut.

Die Feuer tanzen, ein perverser Walzer, dem meine Füße mit gedankenloser Hingabe folgen. Ich bewege mich zum wahnwitzigen Lied der Sterne und weine vor Entsetzen um meine Seele. Der Ring streichelt mich, Seine zügellose Liebkosung beansprucht meinen Geist und meine Hüften zucken... einmal... zweimal. Erlesener Schmerz oder angeekelte Ekstase?

Ich bedecke meine Ohren mit meinen verräterischen Händen. Ich verschließe meine Augen vor dem Wahnsinn, der dahinter schreit. Er hat mich, Er besitzt mich, Er hat mich ausgelöscht... doch noch immer bewegen sich meine Füße auf den Abgrund zu. Ich habe noch immer eine Tat zu tun. Noch eine Chance, meine Seele zu retten.

Der Wind dreht sich, die Zeit schwankt und die Erinnerung zerschellt vor meinen Augen unter dem Echo von grausamem Gelächter, das die Geister des Oktobers grüßt.

Ich sehe meine Hand an – ein leerer Zwischenraum, wo einst für einen kurzen Moment siegreich ein goldener Reif saß. Eine Spiegelung meiner selbst, ein Symbol meines Versagens. Ich starre in den Abgrund mit Augen, die grau vernebelt und vom Wissen befleckt sind.

Er tritt ein, eine strahlende Aureole aus goldenem Licht, die meine farblose Welt durchdringt. Ich schaue in gesprenkeltes Haselnussbraun und sehe das Spiegelbild eines vielgeliebten Freundes. Ah ja – dieses Bild von Wahrheit und guten Absichten ist, was ich einst war. Ich werde ihn noch ein Weilchen länger daran festhalten lassen.

Ich werde seine Illusionen nicht mit der Wahrheit über mich zerschmettern. Ich werde ihm nicht die Asche dessen zeigen, an den er sich noch immer klammert. Ich werde ihm nicht erzählen, dass ich den, den er liebt, ermordet habe, mit kaltem Blut, mit der Hitze der Leidenschaft, die meinen Geist durchschüttelte und die Feuer des Schicksalsberges beschämte. Ich werde ihm nicht sagen, dass er an einem Leichnam festhält.

„Was ist los, Herr Frodo?“

Ich öffne den Mund und würge an einem Schrei, der sich scharf und brutal in meiner Kehle fängt. „Es geht mir gut, Sam“, möchte ich sagen, aber statt dessen höre ich meine Stimme krächzen: „Ich bin verwundet, verwundet; es wird niemals wirklich heilen.“

Ich schaue ihn an und versuche zu lächeln. Er zuckt zusammen und ich begreife, dass mein Versuch gescheitert ist. Also stehe ich auf, stolpere in mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Ich breche auf dem Bett zusammen, und Tränen quellen aus Augen, die die Geister schreiender Sterne sehen.

Ich betrachte die zerbrochenen Scherben meiner Seele und versuche eine Auslese der süßesten Erinnerungen aus ihnen zu treffen – ich versuche, mein leeres Herz mit ihnen zu durchbohren, damit ich vielleicht wieder lernen kann, was es heißt zu lieben, was es heißt zu fühlen. Ich lange nach den verstreuten Blättern meines Geistes und sammle sie an meiner Brust mit Händen, die in elender Erschöpfung zittern.

Er hatte mich.

Er hat mich.

Aber ich werde nicht zulassen, dass Er mich behält.

Der Wind dreht sich, die Zeit schwankt und die Erinnerung zerschellt vor meinen Augen unter dem Echo von grausamem Gelächter, das die Geister des Oktobers grüßt.

Ich fühle in Farben und sie kommen langsam wieder und bannen die Schwärze eine kleine Weile länger. Ich weise die Oktobergeister zurück und schicke sie fort, seelenlos und weinend. Sie werden mich nicht bekommen. Noch nicht.

Wenn sie zurückkehren, um mich wieder heimzusuchen, werde ich fort sein.


ENDE


Top          Stories          Home