Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


15. Kapitel
Alte Schatten

Das Jahr alterte in Stille, abgenutzt und grau, und es schien Lily, als ob ihr Vater dasselbe täte. Er verlor seinen Appetit und sie hatte mehr und mehr Schwierigkeiten, ihn aus dem Smial zu bringen; Anfang Dezember weigerte er sich schlichtweg, ihre täglichen Spaziergänge durch den winterkahlen Garten weiter fortzusetzen.

Lily nutzte jeden freien Moment, all seine Lieblingsrezepte zu kochen, an die sie sich erinnerte, aber sie hatte nur wenig Erfolg; Fredegar schob sein Essen hin und her und nahm nur ein paar Gabeln von dem köstlichen Schweinebraten und den eingesalzenen, grünen Bohnen aus dem Fass im Keller, reichlich in Butter geschwenkt und mit Knoblauch gewürzt. Er leerte seinen Teller nie ganz. Aber trotz seiner Hinfälligkeit verbrachten sie ein paar schöne, stille Abende miteinander, während Lily die Häubchen für die Babys vorbereitete, die im Januar zur Welt kommen würden. Fredegar sah ihr zu, wie sie den feinen, dünnen Stoff bestickte und nahm eines der alten Märchenbücher aus dem Regal. Er hatte sie auf einem seiner seltenen Ausflüge nach Bree gekauft, als Lily noch klein war, und die Geschichten hatten ihre Kindheit ebenso begleitet wie die ihrer Brüder. Und während Lily die Vorbereitungen für ihre Jul-Runde mit den Geschenken beendete, lauschte sie der vertrauten, geliebten Stimme, die ihr die Märchen erzählte, die sie noch immer Wort für Wort kannte.

Die letzte Woche vor Jul hatte angefangen, und es war spät abends, als Fredegar das letzte Buch schloss.

„Ich bin müde, Kind. Ich glaube, ich sollte jetzt ins Bett gehen.“

„Ich helf dir, Papa.“ Sie stand auf, stützte ihn, als er aus seinem Sessel aufstand und reichte ihm die Krücken, die Sam für ihn gemacht hatte. Er nahm sie und lächelte sie an.

„Weißt du, du hattest recht.“ sagte er plötzlich.

„Wieso?“

„Du hast mir gesagt, Sam liebt Rosie, an diesem Mittsommerabend vor vier Jahren. Und jetzt sind sie verheiratet und Rosie erwartet ihr erstes Kind. Du hattest recht.“

Er schaute sie an; sein Gesicht war von Falten durchzogen , aber nicht vom Alter, sondern durch Krankheit und Kummer. Aber sie wusste, dass diesem erschöpften, traurigen Hobbit an ihr lag, und ihr Herz weitete sich in einem plötzlichen Ansturm von Dankbarkeit.

„Ich liebe dich, Kind.“ Ihre Augen begegneten sich und sie schenkte ihm ein warmes Lächeln, „Ich wünschte, ich wäre ein besserer Vater gewesen.“

„Keine Tochter könnte sich einen besseren wünschen“, antwortete Lily mit schlichter Endgültigkeit. „Mach dir nicht mit solchen Gedanken das Herz schwer.“ Sie trat neben ihn und führte ihn den Gang hinunter in sein Zimmer. Er wollte nie, dass sie ihm beim Ausziehen half, selbst wenn er müde, schwach oder krank war, also verließ sie ihn, sobald er auf seinem Bett saß. Sie gab ihm einen Gute-Nacht-Kuss und kehrte in das kleine Wohnzimmer zurück, um die Häubchen zusammenzufalten und in ihren Korb zu legen. Danach ging sie schlafen.

Sie stand zeitig am nächsten Morgen auf und machte Frühstück für sie beide; sie hatte sich daran gewöhnt, ihm eine Tasse heißen, süßen Tee zu bringen, an dem er nippte, während er vollständig aufwachte und sich auf den Tag vorbereitete. Als sie die Tür öffnete, den dampfenden Becher in der Hand, bemerkte sie zwei Dinge: sie hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen und eine bleiche Sonne schickte ihre Strahlen durch das Fenster und berührte Fredegars stilles Gesicht auf dem Kissen. Und seine Augen waren noch immer geschlossen, obwohl er normalerweise mit dem ersten Licht aufwachte.

„Papa?”

Er rührte sich nicht, und der Raum war ruhig – viel zu ruhig.

Sie stand neben dem Bett und stellte den Becher auf den Nachttisch. Der starke, aromatische Duft von Pfefferminze füllte ihr die Nase, als sie sich herunterbeugte und sanft sein Handgelenk ergriff. Da war kein Puls, und der letzte Rest Wärme in seinem Fleisch war schon vergangen. Fredegar war tot; er musste irgendwann mitten in der Nacht gestorben sein.

Ich sollte Mama und den Jungen Bescheid geben, dachte sie plötzlich. Er musste erst sterben, um sie wieder nach Hause zu bringen.

Dann sank sie auf dem Stuhl neben dem Bett zusammen und starrte auf die leblose Hand ihres Vaters hinunter, bis die ersten Tränen darauf fielen.

*****

Fredegar Stolzfuß wurde an einem kalten Dezembertag im Jahr 1420 begraben. Trotz des unangenehm feuchten Wetters hatten sich die meisten Bewohner von Hobbingen auf dem kleinen Friedhof versammelt; zwar war Lilys Vater seit seinem Unfall nie mehr imstande gewesen, am öffentlichen Leben teilzunehmen, aber das hatte an seiner Beliebtheit nichts geändert. Lily stand neben ihrer Mutter, den Blick unverwandt auf den einfachen Sarg aus Fichtenholz neben dem offenen Grab gerichtet; zwischen ihr und Viola war ein kleiner, aber fühlbarer Abstand.

Bevor der Sarg hinab gelassen wurde, trat Odo Boffin, der sehr alt und traurig aussah, vor und räusperte sich.

„Fred war ein tapferer Hobbit.“ sagte er langsam. „Er hat seine Familie gut versorgt, bis er einen bösen Unfall hatte und vom Ernährer zur Last wurde. Aber das hat ihn nicht bitter gemacht. Er hat die letzten elf Jahre in Geduld ertragen, ohne zu hadern. Er hat seine Söhne geliebt und vermisst, und er war dankbar für seine Tochter.“

Odo wandte sich Lily zu; sie schaute in das verwitterte, gütige Gesicht und schloss für einen Moment die Augen. Lass es ihn kurz machen, dachte sie verzweifelt. Ich weiß nicht, wie viel ich aushalten kann.

„Lily ist hier geblieben, als die Zeiten böse wurden.“ sagte Odo. „Fred hätte sie gern seinen Jungen hinterher nach Bockland geschickt, aber er war krank und sehr froh, dass sie da war, um für ihn zu sorgen. Er hat dich sehr geliebt, Mädel, so wie wir alle. Und er wird mir fehlen.“

Damit trat er zurück. Die versammelte Trauergesellschaft wechselte heimliche Blicke und ein leises Gemurmel erhob sich. Auch dem langsamsten und begriffsstutzigsten aller Hobbits war aufgefallen, dass Odo Viola weder angesprochen noch erwähnt hatte. Er hatte sie einfach ignoriert.

Sechs Hobbits hoben die Seile an, schwangen den Sarg zur Seite und ließen in langsam in das sauber ausgehobene Loch hinab. Lily stand sehr still, die Augen geradeaus gerichtet; sie vermied es, Viola anzuschauen. Sie fühlte sich kalt und elend; beim Gedanken, nachher nach Hause gehen und sich die Klagen ihrer Mutter über die Rücksichtslosigkeit und das Unverständnis der alten Nachbarn anhören zu müssen, zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen.

Eine Hand zupfte an ihrem Ärmel; sie schaute hinunter und sah ihren Bruder Falco neben sich stehen. Er war in dem Jahr, in dem sie ihn nicht gesehen hatte, gewachsen wie eine junge Pappel. Elf Jahre alt war er jetzt. Als ihr Vater vom Baum stürzte, war er ein Baby gewesen, ein rundliches, nach Milch duftendes Bündel in ihren Armen, und sie hatte sich um ihn gekümmert, genau wie um Marco und später auch um ihren Vater.

„Kommst du, Lily?“ Wie sie hielt er ein Sträußchen fest, aus Efeuranken und den letzten zerzausten Astern gewunden. Jetzt spürte sie Marco an ihrer anderen Seite, einen kräftigen, hübschen Zwanziger mit dem kastanienbraunen Haar, das sie beide von ihrer Mutter geerbt hatten. Er legte ihr eine warme, erstaunlich tröstende Hand auf die Schulter. Sie trat mit ihren Brüdern an das Grab, beugte sich vor und ließ die Blumen auf den Sarg fallen.

Ich liebe dich, Kind. Ich wünschte, ich wäre dir ein besserer Vater gewesen.

Sie spürte die Tränen in sich aufsteigen und für einen Moment sah sie nichts mehr.

Du warst ein guter Vater. Es tut so weh, dass du nicht mehr da bist.

„Schlaf gut. Papa.“ flüsterte sie, und sie konnte hören, dass Falco neben ihr leise zu weinen anfing. „Und wo immer du sein magst, wenn du aufwachst... ich hoffe, du kannst wieder auf Bäume klettern.“

Die drei Geschwister standen Hand in Hand, während immer mehr kleine Gebinde auf den Sarg geworfen wurden. Viola aber blieb, wo sie war, das Gesicht starr und ausdruckslos, den Blick ins Leere gerichtet.

*****

Lily kam spät am Nachmittag in den Stolzfuß-Smial zurück; sie hatte beide Jungen im Boffin-Smial zurückgelassen. Rose und Odo waren freundlich genug gewesen, einen Leichenschmaus zu Ehren von Fredegar vor zubereiten. Viele alte Freunde waren gekommen und hatten ihren Nachwuchs mitgebracht; Marco und Falco freuten sich, alte Spielkameraden wiederzusehen und wollten nicht so schnell nach Hause. Lily konnte es ihnen nicht übel nehmen. Viola hatte den Friedhof direkt nach dem Begräbnis verlassen, offensichtlich tief beleidigt, und bei den Gedanken, dass die Jungen den kalten Zorn ihrer Mutter würden ausbaden müssen, spürte Lily, wie ihr ein Schauer den Rücken hinunterlief. Also schlug sie vor, dass sie zuerst heimgehen würde; Odo bot ihren Brüdern an, über Nacht zu bleiben, wenn sie das wollten.

Viola hatte noch keinerlei Vorbereitungen für ein Abendessen getroffen; sie stand in dem Schlafzimmer, das sie sich einmal mit Fredegar geteilt hatte, vor einer offenen Truhe.

„Ich packe meine restlichen Kleider.“ sagte sie schroff über die Schulter, als sie merkte, dass Lily hinter ihr in der Tür stand. „Spätestens übermorgen gehe ich nach Bockland zurück, mit den Jungen oder ohne sie.“

Lily zwang sich selbst zur Ruhe. Erst jetzt begriff sie, um wie viel erträglicher auch die härtesten Zeiten innerhalb dieser letzten zwei Jahre gewesen waren... weil sie nicht von dem quälenden Missklang dieser verdrossenen, ständig fordernden Stimme begleitet wurden.

„Falco hat mir gesagt, er hat Freunde dort.“ sagte sie, so freundlich sie konnte. „Ich glaube nicht, dass er hier bleiben möchte. Und Marco arbeitet seit neuestem im Brandyschloss, nicht wahr?“

„Ja,“ sagte ihre Mutter und faltete ein Schultertuch zu einem sauberen Viereck zusammen. „Aber besonders gut bezahlen sie ihn nicht gerade.“

„Mutter...“ Lily versuchte ihr Möglichstes, ruhig und freundlich zu bleiben. „Darf ich dich etwas fragen?“

„Was?“ Viola sah sie nicht an; sie faltete einen Rock zusammen und legte ihn in die Truhe.

„Wieso bist du nicht mit Falco und Marco zurückgekommen, als die Schwierigkeiten vorüber waren? Lotho Pickel ist vor mehr als einem Jahr getötet worden, und seitdem hat sich das Auenland wieder erholt. Ich weiß, Vater hat mehr als ein Dutzend Briefe geschrieben, und ich habe fünf geschrieben, sobald der Botendienst wieder funktionierte, aber alles, was ich bekommen habe, waren ein paar vage Gründe, warum du in Bockland bleiben musstest.“

„Tante Esmeralda brauchte mich,“ gab ihre Mutter kurz zurück, „Onkel Mynto wurde während eines Handgemenges mit ein paar Grobianen verletzt, und sie hatte mehr als ein halbes Jahr keine Hilfe.“

„Aber sie war weder dein Ehemann noch deine Tochter“, erwiderte Lily still, „Und die Schwierigkeiten waren so gut wie vorbei, als sich Onkel Mynto beide Beine brach... und hast du wirklich im letzten Jahr für ihn gepflügt und gedroschen?“

„Nein, natürlich nicht,“ schnappte ihre Mutter. „Aber Marco hatte gerade angefangen, in den Ställen vom Brandyschloss zu arbeiten, und ich wollte nicht, dass er seine neuen Pflichten vernachlässigt.“

„Du wolltest nicht, dass...“ Lily hatte große Schwierigkeiten, die scharfe Erwiderung hinunter zu schlucken, die ihr auf der Zunge lag. Was ist mit deinen Pflichten? Du hast Vater zurückgelassen, und mich auch, und du bist selbst dann nicht zurückgekommen, als es keine Gefahr mehr gab. Aber sie sagte es nicht laut. Stattdessen sah sie ihrer Mutter dabei zu, wie sie die Truhe mit all den vertrauten Kleidungsstücken füllte, die unberührt im Schrank gehangen hatten, seit ihre Mutter vor der Finsternis im Auenland geflohen war.

„Wirst du jemals ganz nach Hobbingen zurückkommen?“ fragte sie endlich.

„Nein.“ Mit einem Knall klappte Viola die Kiste zu. „Wieso sollte ich? Ich hatte nie ein enges Verhältnis mit den Nachbarn, und obwohl ich immer mein Bestes getan habe, war ich hier nie wirklich zu Hause. Ich werde immer ein Bockland-Mädel sein... und ich bin sicher, dein Leben ist jetzt viel einfacher, wo du nicht mehr die Bürde von Fredegars Pflege tragen musst.“

„Es war keine Bürde, für ihn zu sorgen“, sagte Lily; Schmerz und Zorn machten ihr langsam die Kehle eng. „Ich hab ihn geliebt.“

„Im Gegensatz zu mir... und das ist es doch, worum es hier eigentlich geht, oder nicht?“ gab Viola zurück. „Du kannst den Gedanken nicht ertragen, dass ich es gewagt habe, mein Elend hinter mir zu lassen, Lily, und dass ich die Gelegenheit genutzt habe, ein neues Leben anzufangen. Die Jungs sind glücklich in Bockland, und ich bin es auch.“ Sie zögerte. „Schau, Kind... es ist nicht mein Fehler, dass du und ich nie so miteinander ausgekommen sind, wie wir sollten... aber vielleicht ändert sich das ja mit der Entfernung. Manchmal schätzt man mehr, was man hat, wenn es nicht so nahe ist.“

„Dann musst du Vater und mich während der letzten zwei Jahre ungeheuer geschätzt haben“, erwiderte Lily, und nun war die Bitterkeit und die wachsende Wut deutlich in ihrer Stimme hörbar. „Und ich habe immer versucht, dir zu gefallen und zu gehorchen, deshalb kann die Tatsache, dass wir nicht sehr gut miteinander ausgekommen sind, auch nicht mein Fehler sein... es sei denn, du willst mich dafür anklagen, dass ich nie so gewesen bin, wie du mich haben wolltest.“

„Ich sehe keinen Sinn, weiter mit dir darüber zu reden“, sagte Viola in flachem Tonfall. „Ich fahre morgen zusammen mit den Jungs. Und wenn du mich besuchen willst, du weißt ja, wo ich bin.“

„Wieso sollte ich?“ antwortete Lily. „Du hast die ganze Zeit gewusst, wo ich war, aber du hast nie den Weg hierher gefunden. Es war sehr rücksichtsvoll von Vater zu sterben, nicht? Es muss schwierig gewesen sein, ein brandneues, sorgloses Leben zu genießen, während noch immer ein alter Krüppel und eine ungeliebte Tochter an deinen Schürzenbändeln baumelten und drohten, dich zurückzuziehen in dein altes... Elend.“

Viola zuckte zurück, den Mund halb offen. Sie starrte ihre Tochter an, als hätte sie sie noch nie zuvor gesehen.

„Was... was um Himmels Willen hat dich bloß so hart gemacht?“ flüsterte sie.

„Du, Mutter.“ Lily nahm ihr Schultertuch von dem Haken an der Wand. „Du hattest es immer in der Hand, mich ,weicher’ zu machen. Ein Wort, dass du mich liebhast, ein einziges ,Dankeschön’ für meine Bereitschaft, mich zwischen meinen Pflichten als Hebamme, die Sorge um Vater und die ganze Hausarbeit zu zerreißen, die du nicht tun konntest – oder wolltest – aber du hast es nie gesagt, Mama. Und eines Tages habe ich beschlossen, mir die Hoffnung auf eine Mutter, die ich nie haben würde, zu ersparen.“

Sie stand auf der Schwelle und schaute in Violas blasses, schockiertes Gesicht.

„Ich gehe jetzt zu den Boffins hinüber; Marco und Falco sind dort und Rose Boffin wartet mit einem Abendessen, das sie gekocht hat, um das Andenken an meinen Vater zu ehren. Ich bin sicher, du findest irgend etwas in unserer Speisekammer.“

Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

*****

Viola reiste gleich am nächsten Morgen ab. Lily und ihre Brüder hatten die Nacht im Boffin-Smial verbracht und es gab einen langen, tränenreichen Abschied, ehe Odo Boffin – der endlich eine Gelegenheit sah, Lily dafür zu danken, was sie für seine Tochter getan hatte – es auf sich nahm, Viola, Falco und Marco zurück nach Bockland zu fahren. Lily blieb bis kurz vor der Mittagszeit bei Rose; auf ihrem Heimweg wurde sie von einem heftigen Eisregen überrascht, und als sie den Stolzfuß-Smial erreichte, war sie völlig durchweicht.

Zwei Tage nach Jul kamen Sam und Rosie, um sie zu besuchen und ihr ein Geschenk zu bringen; Sam hatte ein Regal mit vielen geschlossenen Fächern gebaut, um Lilys getrocknete Kräuter darin aufzubewahren, und er hatte die Vorderseite mit geschnitzten Rosmarinzweigen und Kamillenblüten geschmückt. Als die beiden an die Tür klopften, machte Lily nicht auf; aber keiner von beiden wollte das Regal einfach auf ihrer Schwelle liegen lassen. Also gingen sie hinein; die Räume waren still, leer und staubig, und zum ersten Mal sah Sam, die Farbe, die in Streifen von den Wänden kam, die alten Möbel, die undichten, klappernden Fensterrahmen und einen allgemeinen Zustand der Vernachlässigung. Die Küche allerdings war sauber und gepflegt, ebenso wie Fredegars altes Zimmer. Rosie schluckte hart, als sie die reinliche Kammer sah, das alte Bett, mit frischer Leinenwäsche bezogen, und die Blumentöpfe mit goldgelben Chrysanthemen und Efeu auf dem Fensterbrett.

Sie fanden Lily in ihrem Schlafzimmer. Sie lag auf der Tagesdecke auf ihrem Bett, vollständig angezogen und besinnungslos. Ihre Stirn war brennend heiß, und jeder Versuch, sie zu sich zu bringen, war nutzlos.

„Sie kann nicht hier bleiben.“ sagte Rosie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Wir nehmen sie mit zu uns nach Hause.“

Sie wickelten sie in eine warme Wolldecke; Sam hob Lily auf seine Arme und trug sie hinaus. Fünf Minuten später waren sie auf dem Weg nach Beutelsend.

*****

Die Tür war angelehnt, und Sam hörte die leise, beruhigende Stimme von Rosie, und auch die von Lily; sie murmelte Worte vor sich hin, die er nicht verstand. Er ging hinein.

Die Lampen erfüllten den kleinen Raum mit einem warmen, gelben Licht. Die Vorhänge waren fest zugezogen und schlossen die nasse Januarnacht aus. Eine große Schüssel mit Wasser aus dem Brunnen stand auf dem Boden neben dem Bett, mit Pfefferminzöl versetzt. Der Geruch kitzelte Sam in der Nase und er nieste.

Rosie drehte sich um und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Sie sah müde und besorgt aus.

„Hallo, Sam.“

„Hallo, mein Mädchen.“ Er schaute zu der Frau hinüber, die im Bett lag. Lilys Hände öffneten und schlossen sich, und sie drehte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen. Ihre Lippen bewegten sich wortlos.

„Wie geht es ihr?“

„Nicht gut,“ entgegnete Rosie knapp. „Ich würde gern Umschläge mit dem Pfefferminzwasser machen, aber sie liegt nicht still genug. Es kommt mir vor, als würde sie gegen jemanden kämpfen... aber ich habe keine Ahnung, gegen wen.“

Sam nahm das hübsche Gesicht seiner Frau näher in Augenschein, und jetzt entdeckte er ein hellrotes Mal auf ihrem linken Wangenknochen.

„Hat... hat sie gegen dich gekämpft?“ fragte er, um Fassung bemüht.

Rosie seufzte.

„Sie wusste nicht, dass ich das bin, Lieber. Ich wollte ihr das Nachthemd aufknöpfen, um sie mit dem Wasser zu waschen, aber als ich sie angefasst habe, fing sie an, um sich zu schlagen.“Sie rieb sich die Stirn und streckte den Rücken, Sam schaute auf ihren gerundeten Bauch hinunter.

„Das tut dir nicht gut, Mädel,“ sagte er sanft, „und dem Kleinen auch nicht. Du solltest dich jetzt hinlegen und schlafen. Ich setz mich zu Lily und übernehme deine Wache.“

„Aber wir müssen sie waschen, um das Fieber herunterzubringen!“ protestierte Rosie, „Und sie ist jetzt gerade verwirrt und verängstigt und ganz und gar nicht sie selbst, und ich bin nicht völlig sicher, ob sie dich erkennt.“ Sie schüttelte den Kopf, und jetzt enthielt ihre Stimme mehr als nur einen Hauch Bitterkeit. „Das hier ist etwas, was ihre Mutter tun sollte.“

„Viola hat Hobbingen vor drei Tagen verlassen, zusammen mit den Jungs.“ sagte Sam. „Und selbst wenn sie bereit wäre, zurückzukommen – was ich schwer bezweifle – dann käme sie niemals rechtzeitig, um ihrer Tochter jetzt zu helfen.“ Er fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das Haar. „Hör zu – ich stecke ein paar heiße Steine unter deine Kissen und Decken. Und wenn ich wiederkomme, dann gehst du ins Bett.“

*****

Eine halbe Stunde später kroch Rosie zwischen die warmen Falten ihrer Bettdecke. Sam hatte die Steine schon wieder herausgenommen, und sie war ehrlich dankbar, dass sie sich hinlegen und ihrem strapazierten Rücken Ruhe gönnen konnte. Mit einem erleichterten Seufzer rollte sie sich auf den frischen Laken zusammen und betrachtete die ersterbende Glut des kleinen Feuers im Schlafzimmerkamin. In letzter Zeit konnte sie nicht mehr auf dem Rücken schlafen; das Kind in ihrem Leib wuchs jetzt schnell. Wie gewohnt strich sie mit beiden Händen über ihren gerundeten Bauch und wurde mit dem schläfrigen Tritt eines winzigen Fußes gegen ihre linke Handfläche belohnt. Sie lächelte in das dämmrige Zimmer und glitt langsam in ein friedliches Vergessen hinüber, als ihr Blick auf das sauber zusammengefaltete Nachthemd auf dem Stuhl fiel. Sie hatte es für Lily ausgesucht; wenn es Sam gelang, sie zu waschen, würde er ihr zerknittertes, schweißfeuchtes Nachthemd wechseln müssen. Rosie war ziemlich sicher, dass Lily sich unwohl fühlen würde und dass es ihr peinlich wäre, wenn sie am nächsten Morgen aufwachte, mit nichts anderem bekleidet als mit ihrer eigenen Haut.

Sie seufzte erneut, hievte ihren schweren Leib aus dem warmen Bett, hüllte sich in ein Schultertuch und nahm das Hemd. Sie öffnete die Tür und stahl sich den Korridor hinunter; sie wollte Sam nicht über den Weg laufen, dem der Gedanke nicht gefallen würde, dass sie immer noch herumwanderte. Auf lautlosen Sohlen glitt sie an der Küchentür vorbei; zu ihrer Überraschung sah sie, dass das Herdfeuer noch immer hell brannte. Sam kniete neben dem Rost und füllte getrocknete Kamillenblüten in eine Teekanne. Er pfiff leise vor sich hin.

Rosie beschloss, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; bald hatte sie Lilys Zimmer erreicht. Die Tür war geschlossen, aber der Klang einer Stimme drang nach draußen. Jemand sang. Aber wer...?

Sie öffnete die Tür so leise wie möglich... und bei dem Anblick, der sich ihr bot, fror sie ein, die Augen geweitet.

Herr Frodo kniete neben dem Bett und beugte sich über die bewusstlose Frau. Lilys Nachthemd war aufgeknöpft und bis zu ihren Hüften heruntergestreift. Der Herr von Beutelsend hielt ein feuchtes Tuch in der Hand und ließ es in sanften Kreisen über Lilys Haut gleiten. Rosie sah eine Seite seines Gesichtes; er schien sich in der Situation völlig wohl zu fühlen. Jetzt konnte sie seine Stimme deutlicher hören... er sang in einer unbekannten Sprache, melodische Silben und Worte wie schimmernde Perlen auf einer Schnur. Elbisch, dachte Rosie, froh, dass sie in ihrer völligen Verwirrung wenigstens irgend etwas begriff, das muss Elbisch sein. Sie stand so still, wie sie konnte und wagte kaum zu atmen, und nun fielen ihr noch ein paar Dinge auf.

Lily lag ganz still; sie schlug nicht mehr um sich, wie sie es zuvor getan hatte, und ihr Gesicht war ruhig und friedlich. Und während Frodo ihren Oberkörper mit der Linken wusch, berührte er Lilys Kopf mit der vernarbten Rechten, liebkoste sanft ihre Stirn und strich mit seinen langen Fingern durch ihr zerzaustes Haar. Rosie begriff, dass dies viel mehr war als die großzügige Hilfe für einen hochgeschätzten Diener, oder für einen Gast in elender Lage. Dies war eine herzzereißende Zärtlichkeit, süß und geduldig, jede Bewegung eine Geste von solch großer Intimität, dass Rosie die Augen niederschlug. Aber ehe sie wieder hinausging, hob sie den Blick noch einmal und sah, dass Herr Frodo damit fertig war, Lily zu waschen. Er knöpfte Lilys Nachthemd zu und setzte sich auf das Bett; der Rahmen knarrte, als er Lily’s Körper mitsamt allen Decken von der Matratze und in seinen Schoß hob. Ihr Kopf fiel gegen seine Schulter; er legte die Arme um sie und lehnte sich an die Wand. Dann stützte er sein Kinn auf ihr Haar und schloss die Augen.

Rosie legte das frische Nachthemd auf einen kleinen Hocker neben der Tür und schlich sich mit angehaltenem Atem hinaus. Es gelang ihr, die Tür ohne ein Geräusch zu schließen und hastete hinüber in die Küche. Sam stellte gerade die dampfende Teekanne auf ein Tablett.

„Rosie! Ich dachte, du schläfst!“

„Ich bin bloß noch mal aufgestanden, um dir ein frisches Nachthemd für Lily zu bringen,“ bemerkte Rosie, ihre Stimme erfüllt von einer gewissen Schärfe. „Und als ich in ihr Zimmer kam... rate mal, was ich gesehen habe!“

Sam seufzte tief.

„Würdest du mir das bitte mal erklären? Was geht hier vor... oder besser, wie lange geht das schon?“

Sam seufzte wieder.

„Ich nehm an, es gibt da was, das ich dir erzählen muss.“ gestand er.

Rosie entspannte sich ein wenig.

„Nehm ich auch an.“ antwortete sie und setzte sich neben ihn. „Ich bin ganz Ohr, Lieber.“

*****

In den ersten Träumen dieser verwirrenden Nacht rennt sie im Dunkeln durch etwas, dass der lange Flur von Beutelsend zu sein scheint, und jemand kommt hinter ihr her, mit knurrender Stimme und grapschenden Händen. Als sie ihre Berührung spürt, hört sie sich aufschreien und gleitet hinein in den nächsten Traum, in dem sie durch eine leere Landschaft stolpert, kahl und unfruchtbar, und es ist heiß dort, so heiß. Sie sehnt sich verzweifelt nach Wasser, nach einem einzigen Schluck, der ihr die Kehle hinunter rinnt, und dann wird sie wieder gejagt, und unwillkommene Finger halten sie niedergedrückt und versuchen, ihr das Nachthemd auszuziehen. Sie wehrt sie ab, und dann ändert sich die Szene erneut, zu einem von Bäumen beschattetem Ort; sie hört das leise Plätschern von Wasser, das rasch über Steine fließt, aber später hat sie große Schwierigkeiten, sich an weitere Einzelheiten zu erinnern.

Der letzte Traum allerdings ist anders, und sehr deutlich. In diesem letzten Traum lebt sie in einem kleinen Smial, mit einem Kräutergarten auf der Rückseite und Blumenbeeten davor. Natürlich ist er da, bei ihr, und sie plaudern in der Küche, während er seine Bücher führt oder einen Brief schreibt, und sie starrt auf sein Haar, das ihm in die Stirn fällt, und auf die unruhige Sichel seiner dunklen Wimpern, und sie streicht ihm eine Haarlocke hinter das Ohr, und das Mehl auf ihrem Finger hinterlässt ein weißes Mal auf ihrer Wange, aber er fängt ihre Hand ein, zieht sie dicht an sich und dann küssen sie sich.

Die Küche in ihrem Traum ist viel schlichter als die von Beutelsend, den Ort so vieler bitterer und schöner Erinnerungen. Aber es ist auch nicht ihre Küche, in der die Stimme ihrer Mutter widerhallt. Sie ist allerdings sonnig, diese Küche, und sein Lachen macht alles noch wärmer und süßer. In ihrem Traum gleitet er hinter sie und liebkost ihren Nacken, und Streifen aus Mehl wandern überall hin, in sein Haar (dunkel, ohne das beredte Silber des Leidens), auf seine Kleider (über einem Körper, sehnig und stark, nicht schwach und erschreckend dünn), in sein Gesicht (strahlend, ohne den gehetzten Ausdruck, der es seit seiner Rückkehr anscheinend nie verlässt). Und als er den Brotteig beiseite räumt und sie sanft auf den Tisch drängt, als ihre Küsse länger dauern, als er sie mit einem Ausdruck tiefer Bewunderung in den Augen entkleidet, da sind ihre Körper makellos. Es gibt keine Narben.

Und sie spürt den unschuldigen Jubel einer Jungfrau in ihrer ersten Liebesnacht, die die Entdeckungen von Leib und Seele mit dem Einzigen teilt, dem sie je ihre Unschuld schenken wollte, und für eine gesegnete Zeitspanne, in diesem unerwarteten Traum, ist sie wieder vollständig, unversehrt und unverändert, genau wie er. Und dann sind sie nackt, und er hält sie an sich gedrückt, er küsst und liebkost ihre Haut so eifrig wie ein Zwanziger, und sein Duft steigt ihr in die Nase... Moos, grün und frisch, das schwache Aroma von Pergament und Tinte und ein Hauch Pfeifenkraut. Sie sind gebadet in einem klaren Licht, das durch die Fenster hereinströmt, und ihr Kopf und Oberkörper sinken zurück auf die Tischplatte und sie lacht, ein atemloses, glückliches Geräusch, das aufgenommen wird von seiner Stimme, als er mit einer raschen, unwiderstehlichen Bewegung in sie eindringt.

Sie stützt sich auf die Ellbogen und ihr Blick verbindet sich mit dem seinen; sie sieht sein strahlendes Lächeln, als er sie mit sich in einen intensiven Rhythmus der Leidenschaft zieht, der ihren Körper erzittern und sie in wachsendem Entzücken nach Luft ringen lässt. Jeder andauernde, freudig empfangene Stoß bringt sie näher hin zur Ekstase, und sein Gesicht verwandelt sich in eine Maske der Konzentration, zutiefst bekannt und wundervoll vertraut. Er öffnet den Mund und sie hört ihren Namen, ein dunkles, unbeherrschtes Stöhnen. Und dann erreichen sie den Gipfel gemeinsam und ihr Körper schießt nach vorne in seine Arme, und plötzlich verschwindet die Küche und sie sind wieder im Fluss, wie in jener unvergesslichen Nacht vor drei Jahren. Und sie spürt seinen Höhepunkt tief in sich, ihr Körper schaudert und zieht sich um ihn zusammen, erfüllt und gesättigt über alle Maßen. Und seine Haut ist kühl und besänftigend wie die Wassertropfen überall auf seinem Leib, und er ist Silber und Marmor und so schön wie der Mond, und sie flüstert verlass mich nie wieder, versprich mir, dass du es nicht tust und sie schwelgt in seiner Antwort ich verspreche es dir, ich verlasse dich nie.

*****

Sie wusste, dass es ein neuer Tag war, weil sie das übliche Hin und Her vernahm; ihr Feuer wurde sorgsam geschürt, die Vorhänge zurückgezogen, die Tassen und Krüge unter dem Geklapper von Geschirr und Tablett entfernt, um Platz für eine Wanne mit warmem Wasser für ihr Bad zu machen. Der Geruch der weichen Seife erreichte ihre Nase gemeinsam mit den flüchtigen, scharfen Düften des Morgens. Und sie lag da, zu entspannt, um die Augen zu öffnen, erhoben von ihrem letzten Traum, der sie mit sich in einen weichen, seidigen Strom aus Liedfetzen gezogen hatte, gesungen von einer dunkeln, weichen Stimme, und zärtlichen Händen auf ihrer Stirn und ihrer fiebrigen Haut. Und da war sogar noch mehr gewesen... lang vergessene Freuden, die ein Lied des Verlangens und der Leidenschaft in ihren Adern anstimmten, und all das so lebhaft, so herzzerbrechend echt.

Die Tür knarrte. Sie öffnete die Augen und sah Sam, der ein kleines Tablett trug; ein dampfender Becher mit Kamillentee, ein Butterbrötchen mit Rosies Erdbeermarmelade und ein kleines Schüsselchen Haferbrei, großzügig mit braunem Zucker bestreut.

„Morgen, Mädel!“ Sein Gesicht wurde von einem breiten Lächeln erhellt. „Du siehst viel besser aus als gestern. Ich helf dir jetzt, dich richtig hinzusetzen, und dann schauen wir mal, wie viel von dem hier du essen kannst.“

„Wie geht es Rosie?“

Ihre Stimme war heiser und müde.

„Sie schläft noch.“ erwiderte Sam und stellte das Tablett auf den Tisch neben ihrem Bett. „Das war eine ziemliche Nacht, weißt du... und ich dachte, sie sollte sich ein bisschen ausruhen. Aber sie kommt später und hilft dir bei deinem Bad.“

„Tut mir leid.“ Lily seufzte. „Ich wollte nie eine Last sein. Ich hatte so viele Alpträume...“

„Du bist keine Last, kein bisschen.“ Sam stützte sie und stopfte ihr die Kissen in den Rücken, damit sie aufrechter sitzen konnte. Er reichte ihr die Tasse. „Hier... ich hab ein bisschen Honig hinein getan. Und ich bin sicher, die Alpträume gehen vorbei, jetzt, wo das Fieber weg ist.“

Sie nahm den ersten Schluck; der Tee war stark, aromatisch und süß, er beruhigte ihren schmerzenden Hals. Und noch immer dauerte die Erinnerung an den letzten Traum an... der Frieden, die Freude, die leicht entflammte, vertraute Leidenschaft. Sie stellte den Becher hin und begegnete Sams Blick.

„Er war hier, oder nicht?“

Sams Augen waren wachsam.

„Wer?“

„Du weißt, wer.“

Sie konnte sich nicht einmal dazu überwinden, seinen Namen zu sagen, und dieser Kontrast zu dem glücklichen Traum peinigte ihr Herz und erfüllte sie mit hilflosen Zorn. Sam nickte.

„Ja, Mädel, er war hier. Ich hab ihn gerufen, als die Alpträume am schlimmsten waren.“

„Das hättest du nicht tun sollen.“ Sie warf ihm einen zornigen Blick zu. „Du hättest mich gar nicht erst hierher bringen sollen. Ich will nach Hause.“

„Also, Lily, sei nicht kindisch. Als wir dich gefunden haben, hattest du rasendes Fieber, und du warst kaum bei dir. Wir konnten dich dort nich alleine lassen. Nebenbei... dein Smial ist in einem elenden Zustand. Die Hälfte der Räume ist feucht, die Kamine müssen gefegt werden, viele der Bodenfliesen sind gesprungen, wenigstens drei Fensterrahmen müssen ersetzt werden und die Wände brauchen einen frischen Anstrich.“

„Ich war ziemlich... beschäftigt in den letzten zwei Jahren.“ Sie wandte den Kopf ab. „Und ich war allein.“

„Das musst du jetzt aber nicht mehr sein, Mädel, und das weißt du.“ Sam lächelte sie an, sein Blick voller Besorgnis angesichts ihrer kalten Bitterkeit. „Wir möchten dir helfen, Lily.“

„Ich weiß, Sam... es tut mir leid.“ Lily schloss die Augen und wappnete sich gegen sein Mitgefühl. Sie konnte ihm nicht gestatten, ihren Schutzwall zu durchbrechen; sie wusste, irgendwo tief innen lebte noch ein schwacher Überrest des jungen Mädchens, das sie einst gewesen war, das Mädchen, das die Fragen stellen wollte, die sie sich selbst verbot: Ist er nur ein paar Minuten geblieben oder hat er die ganze Nacht neben meinem Bett verbracht? Und wieso ist er gegangen?

„Danke für den Tee, Sam“, hörte sie sich selbst sagen, „ich fürchte, ich bin noch nicht sehr hungrig. Und ich bin schrecklich müde – würdest du mich jetzt ein Weilchen schlafen lassen?“

„Natürlich.“

Sie hörte das Klappern von Geschirr und Besteck, und dann das leise Geräusch der Tür, als sie sich hinter ihm schloss.

Wieso ist er hergekommen? fragte die leise Stimme in ihrem Herzen, immer noch nicht bereit, aufzugeben. Ich bin sicher, dass er es war, der diese Träume von beängstigenden Alpdrücken in helle Erinnerungen an Liebe und Freude verwandelt hat. Es gibt immer noch Hoffnung.

Lily schüttelte den Kopf und biss die Zähne zusammen.

Nein. Ich werde das nicht zulassen. Ich wage es nicht.

*****

Lily blieb vier weitere Tage in Beutelsend; sie hatte keine Schwierigkeiten, Frodos Gegenwart zu vermeiden. Er vergrub sich in seinem Studierzimmer, schrieb im Roten Buch und Rosie brachte ihm Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendessen. Sie versuchte nicht, ihn heraus zu locken. Es war ein kalter, sonniger Tag, als Lily nach Hause ging; Sam hatte gewollt, dass sie blieb, aber sie weigerte sich mit höflicher Sturheit.

Rosie sah zu, wie ihre Freundin durch den Garten davonging, begleitet von Sam, der ihre Tasche trug; sie folgte ihnen mit den Augen, bis sie hinter den kahlen Hecken verschwanden. Eine Viertelstunde später stand sie noch immer am Küchenfenster, überraschend wütend auf sich selbst... als hätte sie etwas unternehmen sollen, um Lily zu helfen – und ebenso Sams geliebtem Herrn – aber sie hätte es nicht getan. Wieso um Himmels Willen reden die beiden denn nicht miteinander? Wenn Sam Recht hat und sie lieben sich, dann haben sie eine ziemlich merkwürdige Art, es zu zeigen. Und ich habe nie etwas bemerkt!

Aber nun wusste sie Bescheid, und Rosie war nicht die Frau, die die Dinge so ließ, wie sie waren, wenn es wenigstens eine kleine Möglichkeit gab, sie zu verbessern. Sie bereitete einen üppigen Elf-Uhr-Imbiss mit Rosinenkuchen, Tee, mit Butter bestrichenen Haselnussbrötchen, Pflaumenkompott und Schlagsahne zu und klopfte an die Tür des Studierzimmers.

„Herein.“

Frodo saß und schrieb wie üblich, halb verborgen hinter einem Bücherstapel. Als er sie erkannte und sah, was sie trug, sprang er auf und kam um dem Tisch herum.

„Rosie, das ist zu schwer für dich. Lass mich das nehmen.“

„Oh, danke schön!“ Sie lächelte. „Aber das war kaum eine Last. Du hättest den Korb Wäsche sehen sollen, den ich gestern aufgehängt habe...“

Er setzte das Tablett auf einer leeren Ecke des Schreibtisches ab und drehte sich zu ihr um, die Augen voller Besorgnis.

„Du solltest auf dich acht geben.“

Jetzt musste sie lachen. „Oh bitte! Du klingt fast so wie Sam... er flattert dauernd um mich herum, wie eine große Henne. Und ich bin nicht krank. Ich erwarte ein Kind, Herr, und wenn ich Hilfe brauche, dann rufe ich Lily.“ Eine lange Pause. Sie beobachtete mit einer gewissen Faszination, wie das Flackern eines tiefen Gefühls bezähmt, verborgen und von der wohl geübten Maske höflicher Freundlichkeit überdeckt wurde, die sie bereits kannte... und all das während eines Wimpernschlages. Ohne die Erinnerung an das, was sie gesehen hatte, wäre es ihr überhaupt nicht aufgefallen. „Sam hat sie vor einer halben Stunde nach Hause gebracht.“

„Oh?“ Ein kleines Lächeln und vollkommen gespielte Gleichgültigkeit. „Also ging es ihr gut genug, um nach Hause zu gehen?“

„Wenn du damit meinst, dass das Fieber weg ist, und dass sie zu ihren täglichen Pflichten zurückkehren kann, ohne dabei Schaden zu nehmen – ja, du hast wahrscheinlich Recht. Aber angesehen davon weiß ich nicht sehr viel über ihr Wohlergehen.“Sie nahm ihr Herz in beide Hände. „Und nach dem, was ich vor ein paar Nächten gesehen habe, bin ich nicht sicher, ob ich überhaupt etwas über sie weiß.“

Ein schneller, wachsamer Blick in ihre Richtung, bevor er hinter seinen Schreibtisch zurückkehrte. Aber er sagte nichts, und Rosie fuhr fort, ihren Blick unverwandt auf sein undurchdringliches Gesicht gerichtet.

„Ich kenne Lily, seit ich ein kleines Mädchen war; wusstest du, dass meine Mutter sich nach ihrer Geburt fast ein Jahr lang um sie gekümmert hat? Und danach kam sie sehr oft auf unseren Hof; ihre Mutter hatte eine gute Hand mit ihren Brüdern, aber nicht mit ihr. Lily war nie ein Mädchen, die zu jedem Tanz ging und Spaß hatte, und sie hatte nur wenige Freunde: mich, Merle Hornbläser und Magnolia Gutleib. Wenn sie je Bewunderer hatte, dann hab ich sie nie bemerkt – oder sie hat mir nichts davon gesagt. Es gab eine Zeit vor zwei Jahren, da dachte ich, sie würde vielleicht Folco Gutleib heiraten, aber jetzt glaube ich, ich hab mich geirrt.“ Sie straffte den Rücken, begegnete Frodos Blick zum ersten Mal und hielt ihn fest. „Ich hab beobachtet, wie du ihren Körper gewaschen hast“, sagte sie leise, „und ich habe gehört, wie du ein elbisches Lied für sie gesungen hast. Ich mag noch nicht lange verheiratet sein, aber ich erkenne Liebe, wenn ich sie sehe.“

Er setzte sich hin.

„Ich habe dich nicht bemerkt.“

„Oh, natürlich.“ gab Rosie mit einem kleinen Lächeln zurück. „Du warst ziemlich... beschäftigt.“

Er seufzte.

„Also gut, Rosie... ich habe angefangen, ihr Elbisch beizubringen, Ende 1416. Und während die Zeit voranschritt, merkte ich, dass es... mehr zwischen uns gab. Eines Abends im Februar 1417 kam sie zu mir und ich hatte die feste Absicht, sie wegzuschicken... ich wusste, ich begehrte sie, und ich hatte Angst, sie in Schwierigkeiten zu bringen. Aber sie... sie weigerte sich zu gehen. Sie hatte in dieser Angelegenheit ihren eigenen Kopf.“

Ein schwaches Lächeln, schwer von heimlichen Erinnerungen. Rosie sah seine Hände, die mit der Feder spielten, und für einen schwindelerregenden Moment stellte sie sich vor, wie sie Lilys Haut mir langen, kundigen Fingern liebkosten. Der Gedanke erfüllte sie mit einem plötzlichen, überraschenden Zorn.

„Das muss ziemlich bequem gewesen sein für dich“, sagte sie, und jetzt war ihr Ton grimmig. „Hat sie sich nie gewünscht, dass du ihr anständig den Hof machst? Wolltest du, dass sie über Eure... Affäre still schweigt? War es deine Idee, dass sie ihre Familie und ihre Freunde zum Narren hält und einen dicken Bauch in Kauf nimmt, für nicht mehr als ein paar gedankenlose Balgereien in deinem Bett?“ Sie brach ab, leicht entsetzt über ihre eigene Kühnheit. Er war immerhin noch der Herr.

Er warf ihr einen scharfen Blick zu.

„Glaubst du wirklich, dass ich sie auf diese Weise benutzt habe, Rosie?“

Sie ließ den Kopf hängen, beschämt von dem Anblick seines stillen, traurigen Gesichtes... beschämt bei dem Gedanken daran, was er durchgemacht hatte, um hier zu sitzen und mit der Niederschrift seiner Erinnerungen zu kämpfen – nur um von der Frau seines besten Freundes und Dieners rüde herausgefordert zu werden.

„Es tut mir leid“, murmelte sie. „Aber ich weiß nicht, was ich denken soll – ich bin Lilys Freundin, seit ich meinen ersten Schritt an der Hand von meiner Mama gemacht habe, und nun finde ich heraus, dass ich keine Ahnung von ihrem Leben hatte!“

„Die hatte ich auch nicht, Rosie.“ sagte er. „Komm her, setz dich.“

Sie gehorchte.

„Ich nehme an, dass keiner von uns beiden am Anfang irgend einen Gedanken an Freunde oder Nachbarn verschwendet hat“, sagte er.“Ihre Großzügigkeit und ihre Zärtlichkeit waren überwältigend, sie waren ein kostbares Geschenk... und ich habe mich gesegnet gefühlt.“

Er hielt inne und suchte sichtbar nach Worten.

„Aber trotzdem... du hast wahrscheinlich recht mit deinem Misstrauen. Ich habe sie für selbstverständlich genommen – ihre Liebe, ihr Lachen, und die... die Süße und Wärme ihrer Hingabe. Eines Nachts kam sie zu mir, nachdem ihre Freundin gestorben war.“

„Merle.“ flüsterte Rosie. „Merle Hornbläser. Nein... Merle Dornbusch.“

„Merle, ja. Und zum ersten Mal habe ich sie weinen sehen, ich habe ihren Schmerz gesehen und die Tatsache, wie verletzt sie war, und ich war zutiefst erschüttert. Ich war auf Merles Beerdigung und sah zu, wie sie Toms Töchter tröstete. Sie hielt sie in den Armen wie eine Mutter, und plötzlich hatte ich den Gedanken, dass ich ihr viel mehr verweigerte als ich ihr zu geben imstande war.“

Rosie schaute ihn an.

„Ich weiß nicht, ob sie jemals eigene Kinder wollte“, hörte sie sich selbst sagen. „Manchmal hatte ich das Gefühl, sie war heimlich erleichtert, dass sie sich um Mütter und Kinder kümmern konnte ohne die Last echter... Elternschaft. Ihre... ihre eigenen Eltern waren nicht sehr glücklich miteinander. Und... und ich glaube nicht, dass ihre Mutter sie je so geliebt hat, wie sie es hätte tun sollen.“

Rosie schluckte, plötzlich sehr traurig.

„Viola liebt ihre Söhne sehr, das hat sie immer schon getan“, sagte sie, ohne den Blick von seinem Gesicht zu nehmen. „Lily muss gesehen haben, wie sie bekamen, was ihre Mutter ihr nicht gab, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Vielleicht war sie irgendwann davon überzeugt, dass sie nicht mehr verdient hatte als eine heimliche Liebe ohne Versprechen oder Schwüre.“

Frodo seufzte.

„Sie hat nie darum gebeten, dass ich ihr den Hof mache oder sie heirate.“ Er legte die Feder hin und rieb sich die Schläfe. „Vielleicht wollte sie das Versagen ihrer Eltern nicht wiederholen? Denkst du, das ist möglich?“

Rosie zuckte die Achseln. „Vielleicht, ein bisschen. Aber ich denke immer noch, dass sie dich nicht verlieren wollte. Es wäre so leicht für dich gewesen, sie loszuwerden, wenn du entschuldigst, dass ich das sage, Herr.“

„Frodo“, verbesserte er mit einem schiefen Lächeln. „Wirst du dich jemals daran gewöhnen, mich Frodo zu nennen?“

„Wieso hast du dich geweigert, sie zu heiraten?“ fuhr sie fort, nicht bereit, sich ablenken zu lassen.

„Wer sagt, dass ich mich geweigert habe?“

Sie starrte ihn an.

„Weißt du, Rosie... das ist eine sehr lange Geschichte. Aber ich denke, ich sollte erst mit Lily reden, falls es dir nichts ausmacht, denn ihre Geschichte ist es auch.“ Trotz seiner Höflichkeit war seine Weigerung, ihr mehr zu sagen, so deutlich sichtbar wie ein Riegel an der Tür, der sie ausschloss. „Würdest du mir jetzt ein paar Fragen beantworten?“

„Natürlich, H... Frodo. Wenn ich kann.“

„Was ist mit Folco Gutleib? Ich weiß nicht sehr viel, aber während ich der Bürgermeister war, sind mir ein paar Gerüchte zu Ohren gekommen. Und ich habe ihn mit Lily gesehen, auf deiner Hochzeit. Er liebt sie, nicht wahr?“

„Ja, das tut er.“ Es hatte keinen Sinn, ihm etwas vorzumachen.

„Haben sie...“ Er zögerte. „Haben sie jemals...“

Sie kam ihm zu Hilfe. „ich bin ziemlich sicher, dass sie ihn nicht in ihr Bett gelassen hat, wenn es das ist, was du mich fragen möchtest... oder dass sie irgend etwas miteinander hatten. Er hat sie auf ihren Runden begleitet, er hat sie zu Müttern und Babys gefahren und er war so eine Art Leibwache für sie.“ Sie lächelte. „Wir haben ihn immer Lilys Schatten genannt, und es gab auch keinen Klatsch, solange die Schwierigkeiten den Leuten genug verschafften, wovor sie Angst haben konnten. Hinterher war es natürlich etwas anderes.“

„Oh?”

„Natürlich“, wiederholte sie geduldig. „Jetzt wurden die Zeiten wieder besser, und die Leute hatten mehr Zeit, sich den Kopf über Sachen zu zerbrechen, die ganz und gar nicht ihre Angelegenheit waren. Und sie fingen an sich zu fragen, wann Folco Gutleib wohl endlich die schicksalhafte Frage stellen würde.“

„Und – hat er?"

„Ich bin ganz sicher.“ antwortete Rosie behutsam. „Wahrscheinlich kurz nach meiner Hochzeit. Eine Woche später habe ich nämlich gehört, dass er Tom Braunwald darum gebeten hat, ihn auf dem Hof zu vertreten, und dass er in die Tukländer ging, um ein paar Monate bei seiner Schwester zu bleiben. Magnolia ist jetzt mit einem der Tukhang-Pausbackens verheiratet.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das klingt nicht gerade nach einem erfolgreichen Antrag, oder?“

„Nein.“

Er stand auf.

„Da ist noch etwas anderes“, sagte er ruhig. „Als ich sie in dieser Nacht gewaschen habe, habe ich eine Narbe auf ihrer Brust gesehen. Und du darfst mir glauben: ich kenne ihren Körper sehr gut, Rosie, und diese Narbe war noch nicht da, bevor ich fort ging.“

„Was, glaubst du, ist passiert?“ fragte Rosie; sie mochte die Richtung nicht, die ihre Gedanken nahmen.

„Sie könnte überfallen worden sein, Rosie...“ erwiderte er. „Das, oder etwas noch Schlimmeres. Und ich muss es wissen. Wenn ich je die Möglichkeit haben soll, ihr zu helfen, dann muss ich es wissen.“

„Genau wie ich, und ich werde versuchen, es herauszufinden.“ sagte Rosie in einem sehr entschlossenen Ton. „Es ist nicht das Erste, was ich gerne über Lily wissen möchte, und ganz sicher nicht das Letzte. Also... kannst du mir sagen, wie die Narbe ausgesehen hat?“

*****

Nachdem Rosie gegangen war, kehrte Frodo zu seiner selbst auferlegten Pflicht zurück. Er nahm die Feder und hatte die beste Absicht, die Beschreibung seiner Tage in Lórien fortzusetzen, aber die Vision von den Mallornbäumen und dem goldenen, friedlichen Licht der Herrin weigerte sich, deutlich zu werden; jedes Mal, wenn er versuchte, sich die zeitlose Schönheit von Cerin Amroth vorzustellen, erschien statt dessen Lilys Gesicht vor seinem inneren Auge... und die Erinnerung an die Nacht in der letzten Woche hielt ihn davon ab, sich auf seine Geschichte zu konzentrieren.

Sam hatte ihn in seinem Studierzimmer gefunden; er klappte gerade das Rote Buch zu und wollte sich zurückziehen.

„Was ist denn?“

„Es ist wegen Lily“, sagte Sam, und Frodo bemerkte die tiefen Linien der Sorge in dem vertrauten, breitflächigen Gesicht. „Wir bringen ihr Fieber nicht herunter, und als Rosie versucht hat, ihr einen Umschlag zu machen, da hat sie um sich geschlagen und ihr weh getan. Ich hab Rosie ins Bett gesteckt, und jetzt setz ich mich zu Lily, aber ich bin nicht sicher, ob ich’s besser mache. Sie... sie hat anscheinend Angst davor, angefasst zu werden.“

Frodo senkte den Kopf, holte tief Luft und sah wieder auf.

„Und du meinst, ich könnte helfen?“

„Also...“ Sam zuckte die Achseln, und ein winziges Lächeln hob seine Mundwinkel. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Angst hat vor dir.“

Du solltest dir da nicht gar so sicher sein, mein Freund.

Aber er folgte Sam aus dem Studierzimmer und in den Raum, wo Lily unruhig unter ihren Decken lag. Er setzte sich auf die Bettkante und öffnete die obersten zwei Knöpfe ihres Nachthemdes.

Lily stöhnte; sie warf den Kopf hin und her, und eine ihrer Hände kam hoch. Er fing das Handgelenk ein und streichelte langsam den empfindlichen Punkt, wo er ihren rasenden Puls fühlen konnte. „Schsch...“ murmelte er, „Lieg still, meleth-nin, ich bin’s. Ich bin doch da.“

Er spürte, wie sich die Finger ihrer anderen Hand in seine Schulter gruben, aber er ignorierte den Schmerz und öffnete die letzten Knöpfe. Als er sich vorsichtig zurückzog und sich über die Schüssel beugte, um das Tuch zu befeuchten, schoss sie plötzlich hoch und schüttelte Decken und Leinentücher ab. Glücklicherweise rutschte dabei auch das Nachthemd von ihren Schultern. Er setzte sich wieder gerade hin und zog sie an sich, und als es ihm endlich gelungen war, seine Arme ganz um sie zu legen, entspannte sie sich plötzlich. Er spürte den heftigen Schauder, der durch ihren Körper rann, und ihr langes, zerzaustes Haar fiel ihm über die Brust. Für einen unerträglich süßen Moment berührte ihre Wange die seine, ehe ihr Kopf einen Ruheplatz auf seiner Schulter fand. Er saß da und hielt sie in seiner Umarmung, sein Geist und sein Herz taub vom Schock tausender Erinnerungen.

„Meleth-nin“, flüsterte er, die Stimme bebend vor Staunen und einer plötzlichen, tiefen Trauer, „Meine Indil.“ Und er merkte kaum, wie Sam sich auf Zehenspitzen hinaus schlich und leise die Tür hinter sich schloss.

Frodo schüttelte den Kopf und kehrte mühsam in die Wirklichkeit zurück. Er stellte fest, dass er lustlos auf Rosies gewaltigen Elf-Uhr-Imbiss hinunter starrte, sein Geist erfüllt von Bildern der jungen Frau, die ihn damals in jenem April, als sein Leben auf den Kopf gestellt wurde, um Haaresbreite geheiratet hätte.

Damals warst du mein, dachte er und schloss die Augen, und wie sehr ich jetzt auch verändert sein mag, du bist es immer noch. Ich kann deine unsichtbaren Verletzungen spüren und den bitteren Schmerz in dir... und ich wage nicht daran zu denken, wie viel davon ich zu verantworten habe. Wirst du mir je erlauben, dir zu helfen?


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