Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


12. Kapitel
Februarfrost

Der Oktober kam und mit ihm drei turmhoch beladene Karren mit all dem, was Lobelia Sackheim-Beutlin in ihr neues Heim mitzunehmen wünschte. Sie stellte ein halbes Dutzend Frauen aus Hobbingen an („um den Junggesellen-Gestank wegzuschrubben”, wie sie zitiert wurde), sie überwachte eifersüchtig jeden einzelnen Handgriff und schockierte Margerite Boffin und Chrysantheme Buchenblatt, indem sie die beiden beschuldigte, sie hätten einiges von ihrem besten Silberbesteck gestohlen. Chrysantheme, die aus ihrer herzlichen Abneigung gegen die ältere Frau keinen Hehl machte, zahlte es Lobelia mit gleicher Münze heim.

„Sie hat die Arme verschränkt und sie spöttisch angestarrt“, erzählte Rosie Lily, während sie an diesem bewölkten Sonntagnachmittag in dem kleinen Wohnzimmer im Stolzfuß-Smial saßen. „und dann hat sie gesagt: ,Selbst wenn wir's waren - und wir waren's nicht - dann wär es nicht das erste Mal, dass jemand versucht hat, sich mit Löffeln aus diesem Smial zu bedienen, nach allem was ich gehört hab.' Margerite hat gekichert und hinzugefügt: ,Obwohl es nett war vom alten Beutlin, dir die Kiste zum Einpacken dazulassen, ehe er sich aus dem Staub gemacht hat.' Und bevor die alte Spinatwachtel sich genügend erholt hatte, um zu antworten, waren Chrysantheme und Margerite schon halb den Bühl hinunter.“

Lily lachte und Rosie lachte auch, aber das Vergnügen schwand ziemlich schnell wieder aus ihren Augen. Seit Frodo Beutlin fort gegangen war - und ihr Sam mit ihm – lachte sie sowieso nicht sehr oft.

Lily bediente sich mit noch einer Tasse Apfelblütentee und war nicht sehr überrascht, als Rosie plötzlich herausplatzte: „Ich verstehe ihn nicht! Ich verstehe ihn kein bisschen!“

„Wen?“

„Sam!“ Rosie stützte die Ellbogen auf den Tisch. „Mehr als zwei Jahre lang folgt er mir wie ein Schatten, er kommt Tag für Tag auf den Hof, bis meine Brüder anfangen, Witze über ihn zu reißen und meine Mutter anfängt, diese wissenden Blicke mit meinem Vater zu wechseln... aber genau in dem Moment, als ich denke, dass er... ich meine...“ Sie hielt inne, sichtbar auf der Suche nach Worten. Endlich fuhr sie fort. „Weißt du... ich dachte, er liebt mich genug, dass er wenigstens darüber nachdenkt, mich als seine Frau mit nach Krickloch zu nehmen! Ich könnte Herrn Frodo das Haus führen und er wäre der Gärtner, und alles wäre einfach vollkommen. Aber er...“ Sie schluckte. „Zwei Tage, bevor die beiden mit Herrn Meriadoc und Herrn Fredegar weggegangen sind, kam er auf den Hof, und er fragte mich, ob ich mit ihm spazieren gehen will. Und ich... ich war so sicher, dass er fragen würde!“

Lily setzte sich gegenüber von Rosie; ihr Blick ruhte auf dem vertrauten, hübschen Gesicht ihrer Freundin. Rosies Ausdruck war eine Mischung aus Traurigkeit und Verwirrung.

„Er ging mit mir die Straße hinunter und zur Brücke über die Wässer, und da blieb er stehen, lehnte sich über das Geländer und starrte auf ein paar Enten hinunter, als hätte er noch nie eine Ente gesehen. Ich stand einfach da und hab gewartet. Dann drehte er sich um zu mir um und er machte den Mund auf und wieder zu, und dann fummelte er in seiner Tasche herum und zog meinen Handschuh heraus; ich hab gesehen, wie er ihn beim letzten Julfest aufgehoben hat. ,Hier, den nimmst du am besten wieder zurück', sagte er und drückte ihn mir in die Hand. Ich wusste nicht, was ich davon halten soll, also fragte ich, ob er ihn nicht behalten will, und er sagte, es wär bloß ein Ding mehr zum Mitschleppen, und ich sagte, so weit wär es ja nicht nach Krickloch, und ein Handschuh wär ja auch nicht so schwer, und er könnte ihn mir zurückgeben, wenn ich ihn besuchen komme, und er sagte: ,Nein, Rosie-Mädel, ich fürchte, du kannst mich nicht besuchen kommen.'“

Lily zog ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche; Rosie nahm es dankbar entgegen. wischte sich die Augen und putzte sich die Nase.

„Er wurde rot wie ein Zwanziger und starrte auf seine Zehen hinunter. Dann schaute er mich plötzlich an, und sein Gesicht war traurig und entschlossen und so... so voll von Liebe, dass ich dachte, mir bricht das Herz. Und er nahm mich in die Arme und küsste mich.“ Rosie seufzte, das feuchte Taschentuch zusammengeknüllt in ihrer Faust. „Weißt du, er hat mich schon früher geküsst, aber noch nie so. Ich dachte, ich würde die Sterne um mich herumwirbeln sehen, und dass die Sonne und der Mond einen Springelring tanzen, und ich wollte gleichzeitig lachen und weinen, Und dann hat er mich losgelassen und einen Schritt zurück gemacht, und er hat gesagt: ,Ich liebe dich, Rosie.“ Er machte eine Pause, und dann sagte er noch: ,Und wenn ich nicht zurückkomme, dann nicht, weil ich dich nicht wiedersehen will.´“

Die selben Worte, die Frodo gebraucht hatte. Es fühlte sich an wie ein plötzlicher, unerwarteter Schlag in den Magen. Lily musste um Fassung ringen, und es brauchte ein paar Augenblicke, bis sie wieder imstande war, ihrer eigenen Stimme zu trauen.

„Und dann?“

„Dann ging er weg und ich stand auf der Brücke und war fast blind, weil ich die Augen voller Tränen hatte, und dann hat es obendrein auch noch angefangen zu regnen, und als ich den Hof erreicht hatte, war ich nass wie eine ersäufte Katze.“

Sie holte tief Luft und richtete sich auf.

„Wie kann er sagen, dass er mich liebt und trotzdem weggehen?“ fragte sie. „Was hat ihn davon abgehalten, mich zu fragen, ob ich seine Frau werden möchte? Denn das möchte ich“, fügte sie in einem unglücklichen Tonfall hinzu. „Das möchte ich.“

Lily nahm ihre Hand und brachte ein zuversichtliches Lächeln zustande.

„Rosie... Sam betet den Boden unter deinen Füßen an. Ich bin sicher, der Tag wird kommen, an dem ich bis spät in die Nacht hinein dasitze und dein Brautmieder fertigmache, und er wird derjenige sein, den du heiratest. Ich bin mir sicher.“

Und erstaunlicherweise war sie das wirklich. Sie spürte Sams Gegenwart in Rosies Geist, stark wie schwere, sonnenwarme Erde und ein Garten voll reifer Früchte. Er war ebenso in ihrem Herzen verwurzelt wie sie in seinem, und es schien unmöglich, dass sie eines Tages nicht wieder vereint sein würden. Einen schmerzhaften Augenblick lang spürte Lily einen Stich von heißer, beschämender Eifersucht. Sie schloss die Augen, wütend auf sich selbst, und drückte beruhigend Rosies Hand.

Eines Tages kommt er zu dir zurück. Ich verspreche es dir.“

*****

Zwei Wochen nach diesem Gespräch kam Fredegar Bolger zurück nach Hobbingen, und die Neuigkeiten, die er mitbrachte, waren die Sensation des Tages. Frodo Beutlin, sein Gärtner und seine Vettern Peregrin Tuk und Meriadoc Brandybock waren in den Alten Wald gegangen und nicht wieder herausgekommen. Bald zerfiel Hobbingen in zwei Lager - die einen, die dachten, dass sie alle unter den gefährlichen Bäumen ein grausames Ende genommen hatten, und die anderen, die überzeugt waren, dass Herr Beutlin endlich von der selben, schicksalhaften Wanderlust überwältigt worden sei wie sein berüchtigter Onkel, und dass er seine Gefährten dazu verführt hatte, ihm in irgend ein wahnwitziges Abenteuer zu folgen. Wenn sie Glück hatten, dann lebten sie jetzt wahrscheinlich allesamt bei den Zwergen - aber wer konnte das schon sagen, wenn es um Brandybocks und Tuks ging!

Es war immerhin ein fröhlicheres Thema als die Geschichten von großen, unheimlichen Menschen in schwarzen Gewändern, die das Haus in Krickloch überfallen und den armen Herrn Fredegar in die Flucht geschlagen hatten. Ohm Gamdschie murmelte hinter seinem Humpen etwas von seiner eigenen Begegnung mit einer von diesen eigenartigen Kreaturen. Aber die gesamte Angelegenheit klang allzusehr nach der Art Spukgeschichten, die sich die Leute in Herbstnächten erzählten,wenn die Luft außerhalb von ihren Smials kalt und unangenehm war und die Zimmer im Licht des Kaminfeuers warm und friedlich. Also hörten die Gerüchte über diese Menschen rasch wieder auf, und Lily behielt ihr Wissen für sich. Sie versuchte, Rosie zu trösten, ohne zu verraten, was Frodo ihr erzählt hatte, und in der Stille von mehr als einer schlaflosen Nacht erinnerte sie sich an seine Worte:

Ich komme zurück ins Auenland, wann immer ich kann. Und wenn ich nicht zurückkomme, dann nicht, weil ich dich nicht wiedersehen will.

*****

Der November kam und mit ihm Lotho Sackheim-Beutlin, und er kam mit mehreren beglaubigten Kaufverträgen und mit großen Plänen. Es stellte sich heraus, dass er Timm Sandigmanns Mühle gekauft hatte, dass ihm überraschenderweise plötzlich der Efeubusch gehörte, und dass er eifrig darauf bedacht war, noch mehr zu kaufen... Häuser, Höfe und Felder. Die Leute rätselten über seine Absichten, und der Schankraum vom Efeubusch summte von Gerüchten wie ein Bienenstock.

„Ich begreif nicht, wieso er so viel Land kaufen muss und alles", grummelte Ohm Gamdschie, sein Gesicht hinter seinem halbleeren Humpen verborgen. „Ein anständiger Hobbit hat es nicht nötig, mit glänzenden Münzen herumzuschmeißen, als wär er eine Hausfrau, die im Hinterhof Futter für ihre Hennen verstreut!“

„Nun, nun, Meister Gamdschie", sagte der Alte Eichler und klopfte ihm auf den Rücken. „Schon schön, eine Handvoll Silber in der Hosentasche zu haben, und dieser Tage geht eine Menge Silber herum... diesen Herbstmarkt wird's viele glückliche Händler geben, würde ich sagen."

„Nur zu wahr!" schnappte Hamfast Gamdschie und leerte seinen Humpen mit einem einzigen, langen Zug. „Aber Herr Frodo, der war ein echter Edelhobbit, mein ich, und er hat mit seinem Zeug nie herumgeprahlt wie ein Großmaul!"

Aber Lotho tat noch mehr, als mit seinem „Zeug“ herumzuprahlen und so viel Land zusammen zu raffen wie möglich; er kaufte auch Tonnen von Weizen, Kohl, Kartoffeln und Pfeifenkraut. Nichts davon blieb jedoch im Auenland, und endlose Reihen von Karren ratterten die Straßen nach Süden hinunter, und als sie leer zurückkamen, wurden sie von Menschen begleitet, mehr und mehr großen Menschen mit lauten, unfreundlichen Stimmen und schlechten Manieren, und langsam verloren die Leute um Hobbingen herum ihre gute Laune.

Das Bier im Efeubusch wurde zu einem armseligen Gebräu, dünn und sauer; es war kaum trinkbar und viel zu teuer und selbst die ältesten Stammgäste blieben allmählich weg. Lothos Menschen fingen an, Bäume abzuhauen, sie gruben vertraute Wiesen und fruchtbare Obstgärten um und bauten sich hässliche Steinhäuser und rohe Schuppen. Und sie fingen an zu stehlen... Geschichten gingen herum über Banden, die in Smials in Hobbingen und Wasserau eindrangen, die verängstigten Familien belästigten und ihre gesamten Wintervorräte wegschleppten.

Zuerst war Lotho ganz Bedauern. Er zahlte für die verlorenen Güter und die abgeschlagenen Bäume und stellte ein liebenswürdiges Lächeln zur Schau, wann immer die Leute den Bühl hinaufkamen, um sich zu beschweren. Dann, kurz vor dem Julfest, bekam die Einwohner des Beutelhaldenweges Post von dem neuen Besitzer von Beutelsend. Mit dürren Worten wurde ihnen mitgeteilt, dass sie ihre Siebensachen zusammenpacken und ihre Heime verlassen sollten. Die meisten Leute hatten zu viel Angst, um zu widersprechen; es war nicht leicht, mutig zu sein, wenn ein halbes Dutzend Menschen mit grinsenden Gesichtern im Garten herumstanden, beinahe doppelt so groß wie jeder von ihnen. Aber die alte Witwe Rumpel war nicht so rasch eingeschüchtert; sie nahm ihren Krückstock, humpelte den langen Weg zum Kattunhof hinunter und bat Rosie, für sie einen Brief an den Bürgermeister zu schreiben (sie hatte nie richtig lesen und schreiben gelernt). Rosie rief ihren Vater, und die Witwe diktierte eine wütende Zusammenfassung der Ereignisse, der letzte Absatz eine energische Forderung, einzugreifen. Rosies Vater geleitete die alte Frau in die Küche, wo sie sich nach dieser erschöpfenden, ungewohnten Aufgabe mit Kuchen und Tee erfrischen konnte. Dann beschloss er, die wichtige Nachricht persönlich zu übergeben, sattelte sein Pony und ritt den ganzen langen Weg nach Michelbinge.

Der Bürgermeister hatte dem Ärger eine ganze Weile zugesehen, ohne sich einzumischen, aber jetzt wachte er auf. Er versprach Tolman Kattun, Lotho anständig den Kopf zurechtzusetzen und machte sich ein paar Stunden später auf den Weg. Aber er kam nie in Beutelsend an – Folco Gutleib sah vier Rabauken, die den unglückseligen Will Weißfuß am Efeubusch vorbeizerrten, begleitet vom brüllenden Gelächter ihrer Kumpane aus dem Fenster des Gasthauses. Lily war sehr froh zu hören, dass Sams Ohm und Marigold erst einmal eine mehr oder weniger sichere Zuflucht auf dem Kattunhof gefunden hatten.

Jul kam und ging vorbei, und dieses Jahr war es eine stille Angelegenheit mit nur wenigen Festen. Lily ging zu der Feier der Boffins und kam ziemlich früh wieder nach Hause; ihr Vater wollte sie fragen, wie ihr der Abend gefallen hatte, aber sie schenkte ihm nur ein blasses, wenig überzeugendes Lächeln, vermied es zu antworten und verschwand in ihrem Zimmer. Drei Tage später erschien Odogar Boffin auf der Türschwelle des Stolzfuß-Smial and bat Lily um noch einen Besuch.

„Es ist meine Tochter, Margerite“, sagte er, während sie den Weg hinuntergingen. „Sie ist vorgestern mit tränenverschmiertem Gesicht und ohne ihren Mantel heimgekommen. Sie ist geradewegs in ihr Zimmer gegangen und hat die Tür zugemacht, und seit dem kommt sie nicht mehr heraus.“

Lily runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“ fragte sie. „Hat sie denn nichts gegessen?“

„Ihre Mutter hat sie zu ein bisschen Brot und Milch überredet, aber sie will nicht mit uns reden. Sie liegt in ihrem Bett, starrt an die Decke und kommt nicht aus ihrem Zimmer, und wir wissen nicht, was wir machen sollen. Meine Rose ist inzwischen ziemlich verzweifelt. “

Sie hatten Odogars Heim erreicht und gingen hinein. Rose Boffin saß in der Küche, ein Tablett mit Obst und Saatkuchen neben sich auf dem Tisch. Als ihr Mann auftauchte, die junge Hebamme im Schlepptau, fing sie an zu schluchzen und rieb sich die Augen mit dem Schürzensaum.

„Wieder kein Frühstück, Odo!“ jammerte sie, ohne seine Begleiterin zu beachten. „Und sie will kein Wort sagen – sie starrt geradewegs durch mich hindurch, als wär ich nicht da!“

„Lily ist hier.“ erwiderte Odo sanft. „Vielleicht hat sie Erfolg, wo wir keinen haben.“

Lily kannte den Weg; am Vorabend zum Julfest hatte sie die falsche Tür genommen, als sie nach ihrem Schal suchte, und Margerite und den jungen Tom Braunwald auf Margerites Bett vorgefunden. Margerites Mieder war wundersamerweise verschwunden und ihre feine Festbluse halb aufgeknöpft... und nach dem schweren Atem beider, der Unordnung von Toms Kleidung und seinem zerzausten, karottenroten Schopf zu urteilen, hatte Lily offensichtlich eine sehr private Julfeier unterbrochen.

Zum Glück war die Tür heute auch nicht abgeschlossen und Lily ging hinein; die Vorhänge waren zugezogen und der Raum düster, und er hatte dringend frische Luft nötig. Es war ein ganz anderes Mädchen, das Lily jetzt auf dem Bett vorfand; keine lachenden Augen und keine gerötete Haut mehr, und nichts war vom der schlagfertigen, jungen Frau übrig, die sich gegen Lobelia zur Wehr setzte, als sie beschuldigt wurde, sie hätte ihr Silber gestohlen. Margerites Locken waren wirr und schweißfeucht, ihr hübsches Gesicht mit den graugrünen Augen war bleich. Als sie Lily sah, drehte sie sich zur Wand.

Lily berührte ihr Handgelenk und fühlte den Puls; er ging schnell und flach. Die Hand war heiß.

„Du hast Fieber, Margerite“, sagte sie, ihre Stimme so warm und sanft wie möglich. „Du solltest viel trinken, um es herunterzubringen. Ich kann dir Weidenrindentee mit Honig geben, wenn du möchtest. Und du solltest etwas essen; deine Mutter macht sich große Sorgen um dich.“

„Ich hab keinen Hunger.“ Die Stimme war nur ein Flüstern. „Lass mich in Ruhe... bitte.“

„Dein Vater hat mich um Hilfe gebeten, Liebchen.“ erwiderte Lily. „Was ist passiert – hat Tom sich daneben benommen? Ich war ziemlich sicher, dass Ihr beide ganz schön... glücklich wart, als ich euch das letzte Mal zusammen gesehen habe.“

Tom zu erwähnen war offenbar ein schwerer Fehler. Margerite vergrub ihr Gesicht in dem bereits klammen Kissen und brach in einen Strom von Tränen aus. Lily setzte sich auf die Bettkante.

„Also ist Tom daran schuld?“ fragte sie sachte, aber Margerite schüttelte heftig den Kopf.

„Nein... nein...“ würgte sie unter Schluchzen hervor, „Er hat nichts damit zu tun. Ich hab ihn nicht mehr gesehen seit... seit dem Fest.“ Mehr Schluchzen und noch mehr Tränen.

Lily legte die Hände auf Margerites Schultern und versuchte, sie herumzudrehen. Das junge Mädchen fuhr zurück und krümmte sich so weit außer Reichweite zusammen, wie sie es fertigbrachte. Aber Lily sah flüchtig etwas hinter dem Ausschnitt von Margerites zerknitterten Nachthemd... etwas Rotes, Geschwollenes, halb verborgen hinter dem Stoff.

„Halt, Mädel. Lass mich das mal anschauen.“

Margerite saß reglos wie ein verängstigtes Kaninchen, die Augen weit aufgerissen und erfüllt von eisigem Entsetzen. Lily öffnete zwei Knöpfe des Nachthemdes und schob es zur Seite; da war es. Ein Mal von einem tiefen, zornigen Purpur, dicht über der linken Brustwarze, so aufgequollen, dass es beinahe rund aussah. Die Haut ringsherum war hässlich verfärbt, in allen möglichen Schattierungen von Schwarz und Blau. Lily kniff die Augen zusammen; so etwas wie das hier hatte sie noch nie gesehen.

„Himmel, Margerite.. was ist das?“

Keine Antwort. Das junge Mädchen wandte den Blick ab und stille Tränen liefen ihr über das Gesicht. Lily zog ein reines Stück Gaze aus ihrer Tasche, nahm das Fläschchen mit Branntwein, das sie immer bei sich hatte und träufelte Alkohol auf das Tuch.

„Es ist entzündet.“ sagte sie und kämpfte darum, so nüchtern wie möglich zu sprechen. „Es muss sauber gemacht und verbunden werden, und ich glaube, davon kommt auch das Fieber. Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?“

Margerite schüttelte langsam den Kopf und zuckte zusammen, als die Gaze mit dem Branntwein die geschwollene Stelle berührte, Lily säuberte die Verletzung, tupfte etwas Engelwurz-Salbe auf das wunde Fleisch und legte sorgsam einen Verband an. Dann seufzte sie und stand auf.

„Versuch zu schlafen, Margerite... und trink soviel du kannst. Du solltest deiner Mutter erlauben, dir etwas zu essen zu bringen. Und wenn es irgend etwas gibt, das ich wissen sollte, dann ruf mich, wann immer du willst, ja? Wann immer du willst, Margerite.“

Lily verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich, Sie fand Margerites Eltern in der Küche, wo sie ängstlich auf ihr Urteil warteten.

„Mit mir will sie auch nicht reden.“ sagte sie besorgt. „Lasst sie in Frieden, bis sie bereit ist, euch zu sagen, was sie quält, und ruft mich, wenn sie mich sehen möchte.“

Sie sah, wie Rose Boffin ihre Schürze mit beiden Händen zerknitterte und fügte hinzu: „Ich glaube nicht, dass sie ihr Zimmer oder den Smial verlassen wird, wenn sie es vermeiden kann, aber ihr solltet es sowieso verhindern, dass sie hinausgeht. Ich habe keine Ahnung, was genau passiert ist, aber ich glaube, sie ist überfallen worden. Und nein...“ Sie hob die Hand, als Odogar Boffin den Mund öffnete. „Ich weiß nicht, wer es war.“

Sie ging nach Hause, bereitete ein schnelles Essen für ihren Vater und ihre Brüder vor und brachte ihrer Mutter einen Kamillentee; Viola litt unter einem ihrer Anfälle von heftigen Kopfschmerzen. Dann machte sie den täglichen Spaziergang im Garten mit Fredegar und absolvierte ihre übliche Runde; aber sie ertappte sich dabei, dass sie sich von Zeit zu Zeit umsah und bei jedem verdächtigen Geräusch stehen blieb. Margerites bleiches, verzweifeltes Gesicht blieb ihr im Sinn und verfolgte sie den ganzen Tag über.

*****

Mitte Januar erhielt Viola eine Einladung aus Bockland; die Post wurde nicht so regelmäßig zugestellt wie in der Zeit, bevor Lotho alles durcheinander brachte, aber ein langer Brief von Tante Esmeralda kam durch und Lilys Mutter zitterte vor Aufregung.

„Tante Esmie schlägt vor, dass wir nach Neuburg kommen.“ sagte sie. „Es ist Platz genug auf dem Hof, und Marco kann in den Ställen von Brandyschloss helfen, wenn er will. Wir sollten gehen, so schnell wir können; Herr Brandybock hat eine starke Hand, und ich bin sicher, er kann seine Leute viel besser beschützen als wir uns hier selbst beschützen können.“

Lily musste zugeben, dass ihre Mutter wahrscheinlich Recht hatte; im Augenblick gab es nur wenige schwangere Frauen in Hobbingen und sie erinnerte sich mit bohrender Deutlichkeit daran, was Frodo zu ihr gesagt hatte: Mir ist nicht wohl dabei, dich hier zu lassen.

Vielleicht konnten der Herr von Bockland und der Thain Lotho daran hindern, noch mehr Unheil anzurichten, und Fredegar machte bereits Pläne, wie er Onkel Myntos Hilfe dazu nutzen würde, entweder die Groß-Smials oder Brandyschloss aufzusuchen, um über die Lage in Hobbingen zu berichten... eine Lage, die ihn um so mehr quälte, da er so sehr seinem schwachen Körper ausgeliefert war.

Aster Straffgürtel versprach, sich um die zukünftigen Mütter zu kümmern. Kisten und Taschen wurden gepackt, ohne großes Aufsehen zu erregen; Lily wusste, dass ihre Familie nicht die einzige war, die so unauffällig wie möglich die Flucht antrat, und der Gedanke machte sie sehr traurig. Hobbingen hatte sich seit Frodos Abreise zusammen mit Sam verändert, und es war keine Veränderung zum Besseren. Es würde gut sein, fortzukommen; mit einem kurzen, sengend heißen Stich wünschte sie sich, Frodo würde tatsächlich in Krickloch leben, und dass sie dorthin gehen und die Fäden ihrer heimlichen Liebe wieder aufnehmen könnte, als wären die letzten neun Monate nie gewesen.

Zwei Tage, bevor Onkel Mynto kommen und seine Stolzfuß-Verwandtschaft abholen sollte, bekam Fredegar hohes Fieber. Er hatte seit Wochen gehustet, es aber verborgen, weil er Angst hatte, ihre Abreise zu verhindern. Doch an diesem Abend fand Lily ihren Vater im Schaukelstuhl; er murmelte mit geschlossenen Augen unverständliche Worte vor sich hin, seine Hände zitterten und seine Stirn war brennend heiß. Mit Violas Hilfe schaffte sie ihn ins Bett, wo er eine ruhelose Nacht verbrachte und sich unter den Decken hin und her warf.

Für eine Nachricht nach Bockland war es zu spät; sie mussten eine rasche Entscheidung treffen. Und so waren es am Ende Viola, Marco und Falco, die auf den Karren kletterten, als Mynto Wühler eintraf. Lily umarmte Marco und empfing eine heftige Umarmung von Falco; sie küsste ihn auf die runde Kinderwange und spürte, wie sich seine Arme um ihren Hals legten, und ein paar Sekunden lang musste sie schlucken, um nicht zu weinen. Dann fühlte sie Violas Kuss auf ihrer Stirn und für einen kurzen, süßen Augenblick die Arme ihrer Mutter um sich, bevor sie zurücktrat.

„Pass auf dich auf, Kind“, sagte Viola. „ich weiß, du willst deine Runden lieber selber machen, aber bring dich nicht selbst in Gefahr. Geh abends nicht hinaus, ja?“

„Ich werde mein Bestes tun, Mama.“ antwortete sie und beugte sich vor, um den Kuss ihrer Mutter zu erwidern. Mama riecht, wie sie heißt, dachte sie plötzlich, wie ein Strauß Veilchenblüten. Und dann sah sie zu, wie Viola sich auf dem Sitz neben Onkel Mynto niederließ, und sie winkte und sah die winkenden Hände ihrer Famlie, während der Karren den Weg hinunterrollte und um die Biegung verschwand.

Als der Karren schon lange fort war, stand Lily noch immer an der selben Stelle, und sie fühlte sich furchtbar allein und verwundbar. Als sie endlich wieder in den Smial zurückging, fing es an zu regnen, und Hobbingen verschwand hinter einem grauen Schleier.

Sie hatte keine Ahnung, dass es mehr als zwei Jahre dauern würde, bis sie ihre Mutter und ihre Brüder wiedersah.

*****

Die beiden Kerle erwischten die junge Hebamme in der Abenddämmerung fast einen Monat später, als sie, eng in ihren Mantel gehüllt und einen Wollschal um den Kopf geschlungen, gerade von Dora Straffgürtel zurückkam. Er würde Doras erstes Baby sein, und sie hatte Angst... vor allem jetzt, da die im Herbst so reichlich zusammengetragenen Vorräte „dank“ Lothos Männern allzu schnell zusammenschmolzen. Über eine Woche hatte es ununterbrochen geregnet, eisige Tropfen, mit vereinzelten Schneeflocken durchsetzt. Lily freute sich auf ein heißes Bad, selbst wenn seine Zeit brauchte, genügend Wasser zu erhitzen, um die Wanne zu füllen.

Plötzlich tauchten die beiden Männer hinter den Bäumen auf, als sie gerade auf der schlammigen Straße in Richtung Stolzfuß-Smial abbiegen wollte.

„Bleib stehen, Mädel!“ sagte der eine; er trug einen struppigen, ungepflegten Bart und hatte eine heisere Stimme. „Der Baas will mit dir reden!“

„Ach tatsächlich?“ Lily kniff die Augen zusammen. „Wenn er das möchte, kann er morgen früh zu mir kommen, gegen zehn. Abgesehen davon bin ich für Frauenleiden zuständig. Wenn Eurem Baas etwas fehlt, dann soll er sich an Dolgo Straffgürtel in Wasserau wenden.“

Der andere, ein dürrer Kerl mit einem fuchsähnlichen Gesicht, musterte sie von oben bis unten, als versuche er unter den dicken Stoffschichten ihren Körper zu erkennen.

„Er will aber dich sehen.“ sagte er; seine Stimme klang hoch und pfeifend, und das Grinsen darin gefiel ihr gar nicht. „Du hast gegen die Ausgangssperre verstoßen, Mädel - und die gilt für alle, auch für dich!“

„Was für eine Ausgangssperre?“ Sie blickte zu ihm auf. „Was ist denn das für ein Blödsinn?“

„Neue Idee vom Baas – um Euch kleine Ratten davon abzuhalten, sich spät Abends auf der Straße herumzutreiben. In Zukunft dürft Ihr schön brav zu Hause bleiben, denn bald gibt’s auch keine Gasthäuser mehr.“ Der mit dem Bart lachte.

„Soso... dann will der Baas in Zukunft auch darüber bestimmen, wann die Kinder auf die Welt kommen? Die richten sich nämlich nicht nach seiner so genannten Ausgangssperre, und ich auch nicht... es sei denn, Euer sauberer Baas möchte, dass die Leute in Hobbingen langsam, aber sicher aussterben.“

Lily war müde, sie fror und wurde langsam wütend. Allerdings war ihr klar, dass es wenig Zweck hatte, sich zur Wehr zu setzen. Es würde den beiden ein Leichtes sein, sie auch gegen ihren Willen nach Beutelsend zu schleppen.

Sie dachte an das Julfest, zu dem sie vor der Jahreswende eingeladen worden war. Gegen Mitternacht, gerade als sie gehen wollte, war Lotho aus einem Winkel des Zimmers aufgetaucht, in dem die Mäntel der Besucher lagen. Er hatte sich umgeschaut, und als er feststellte, dass sie allein waren, hatte er sie gegen die Wand gedrängt. Bei der Erinnerung an seinen biergeschwängerten Atem und seine hastig grapschenden Hände wurde ihr unwohl; nur das plötzliche Eintreten von Odogar Boffin hatte ihr noch mehr Ärger erspart. Seit Frodo fortgegangen war, hatte Lotho sie nie ganz in Ruhe gelassen. Immerhin – sie würde nicht allein mit ihm sein. Lobelia war sicherlich zu Hause... und mit einer Grimasse begriff Lily, dass sie sich zum ersten Mal darauf freute, Othos missgünstiger Witwe zu begegnen.

Also ging sie mit, den vertrauten Weg um den Bühl herum und zum Gartentor hinauf. Sie hatte den Garten, der immer Sam Gamdschies ganzer Stolz gewesen war, seit Monaten nicht mehr betreten; natürlich wäre er auch dann winterkahl gewesen, hätte sich Sam noch darum gekümmert. Aber sie hätte sauber abgegrenzte Beete und Rabatten vorgefunden, gegen die Kälte abgedeckt mit Fichtenzweigen und Rindenmulch. Was sie aber jetzt vor Augen hatte, war ein Trampelpfad, der mitten durch Sam’s größtes Gemüsebeet führte, hin zu einem Bretterverschlag, den Lotho offenbar für seine Rüpel hatte errichten lassen. Lily war froh, dass Sam diese Vernachlässigung nicht mehr mitbekam – sie hätte ihm das Herz gebrochen.

Die grüne Tür, früher regelmäßig nachgestrichen, war zerkratzt und stumpf, der früher sorgsam polierte Messingknauf trübe. Der Kerl mit dem Bart bückte sich tief und trat vor ihr ein, während der mit dem Fuchsgesicht ihr folgte.

Sie trat in die schlecht beleuchtete Eingangshalle von Beutelsend und sah sich erschrocken um. Alles hatte sich verändert, sogar der Geruch. Früher hatte es hier nach dem Bienenwachs und dem Orangenöl geduftet, mit dem schon Bell Gamdschie die Holztäfelungen und die Möbel poliert hatte, nach Blumen, Büchern und gutem Essen. Jetzt roch es unsauber und muffig; der früher schimmernde Steinboden hatte seinen satten, rotbraunen Schimmer verloren und der schön gewebte, runde Teppich wirkte farblos und verdreckt. Lily schüttelte den Kopf. Es war ihr ein Rätsel, wie Lobelia eine solche Vernachlässigung dulden konnte. Sie mochte eine Seele und eine Zunge haben wie eine Natter, aber sie war eine ausgezeichnete Hausfrau.

„Baas!“ rief der Fuchsgesichtige. „Baas! Wir haben sie!“

„Gut gemacht!“ kam Lothos Stimme aus dem Studierzimmer. „Komm rein, Lily... ich habe schon auf dich gewartet!“

Die beiden Männer gingen geräuschvoll wieder hinaus; beide warfen ihr anzügliche Blicke zu und einer von beiden murmelte etwas, das sie nicht verstand, das aber gröhlendes Gelächter auslöste; es brach erst ab, als die Tür hinter ihnen zufiel. Lily blieb einen Moment lang auf der Schwelle des Studierzimmers stehen; es fiel ihr unendlich schwer, diesen Raum zu betreten. Mehr als jedes andere Zimmer in Beutelsend war dies Frodos Reich gewesen. Hier hatte sie die ersten tengwar-Buchstaben auf Pergament gemalt, hier hatte sie zum ersten Mal das Begehren in seinen Augen entdeckt.

Sie holte tief Luft und schüttelte die Erinnerungen ab, dann trat sie ein.

Das Zimmer war gepflegter als die Halle, wenn auch staubig. Wo einst Frodos Bücher die Regale gefüllt hatten, lagen jetzt zusammengerollte Karten, und an einem der Borde hing ein großer Bogen mit dem gezeichneten Modell eines Gebäudes, das wie eine riesige Mühle aussah. Die Portraits von Bungo und Belladonna Beutlin waren ersetzt worden durch wenig schmeichelhafte Bilder von Otho und Lobelia. Lotho saß hinter dem Schreibtisch; seine Ärmel waren hochgekrempelt und vor ihm stand ein halbvolles Glas Wein. Als er ihren Blick bemerkte, ließ er einen Brief in der geöffneten Schublade verschwinden; Lily sah schweres, teures Papier, das mit einer Rune gekennzeichnet war... ein S, wie sie dank Frodos Unterrichtsstunden erkennen konnte. Wer schrieb Lotho solche Briefe?

Der neue Besitzer von Beutelsend stand auf und kam ihr mit einem breiten Lächeln entgegen. „Schön, dass du da bist!“ sagte er. „Komm, zieh den nassen Mantel aus!“

„Ich komme nicht freiwillig.“ sagte sie kurz. „Du hast mich von deinen Halunken hierher schleppen lassen wie eine Geisel.“ Trotzdem legte sie den Mantel ab, richtete sich sehr gerade auf und sah ihm in die Augen. „Was soll das, Lotho? Und wie sieht es hier aus? Du hast jahrelang darauf gewartet, dass der schönste Smial von Hobbingen dir gehört, und jetzt scheint es, als hätte seit Wochen niemand mehr saubergemacht. Hast du den Spaß an deinem neuen Spielzeug schon verloren? Und wo ist Lobelia?“

Er zuckte zusammen wie ein getadelter Grünschnabel, und ein bockiger, böser Ausdruck trat in seine Augen. Er ist wie ein verzogenes Kind, dachte sie, aber ein gefährliches Kind.

„Meine Mutter ist in Hartbuddel, bei ihrer Base, schon seit dem Julfest.“ sagte er. „Und da bleibt sie auch noch ein, zwei Wochen.“

Lotho trat an einen Beistelltisch und goss sich Wein nach. Sie fragte sich, wie viel er schon getrunken haben mochte.

„Darf ich dir etwas anbieten, Lily?“ fragte er höflich.

„Nein.“ erwiderte sie. „Ich will nichts trinken, ich will nach Hause. Ich habe einen langen Tag hinter mir.“

„Und ich möchte, dass du bei mir bleibst, meine Liebe.“ sagte er. Seine Augen glitzerten, als habe er ein köstliches Geheimnis. „Wir haben eine Menge zu besprechen, du und ich.“

„Zu besprechen??“

„Dass man mir jahrelang mein Recht vorenthalten hat.“ sagte er. Er schlenderte langsam zur Tür; der Feuerschein reichte nicht bis dorthin und sie konnte nicht genau sehen, was er tat. Sie hörte nur ein leises Kratzen, dann kam er zurück, ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht und eine Hand in der Westentasche. „Frodo war ein versponnener Bücherwurm, genauso wie sein Onkel. Von Fortschritt hatte er keine Ahnung.“ Er fing an, vor ihr auf und abzugehen; es sah so aus, als wollte er ihr einen Vortrag halten. „Jetzt, wo ich hier das Heft in der Hand habe, wird sich einiges ändern. Ich werde Neuerungen einführen, die allen zu Gute kommen, und das hätte schon viel eher passieren sollen. Dieser Smial hat mir zugestanden, nicht dem adoptierten Wechselbalg vom verrückten Bilbo.“

Sie starrte ihn an.

„Du bist der, der verückt ist." erwiderte sie. „Du reißt nieder, was wir haben und ersetzt es durch etwas Schlechteres. Die Mühle, die wir hatten, war alles, was wir für unser Mehl gebraucht haben.... gar nicht zu reden vom Beutelhaldenweg! Du bist ein kleiner, billiger Despot, der närrische Verordnungen erlässt, wie diese lächerliche Ausgangssperre. Es hat nachts nie eine Gefahr gegeben, bis du diese Menschen hergebracht hast. Sie sind grob und kaum imstande, sich nützlich zu machen. Ich hab die Geschichten gehört - deine Männer haben angefangen, die Hobbits hier in der Gegend zu bestehlen. Was glaubst du - wie lange wirst du sie noch unter Kontrolle haben?"

„Die tun nur, was ich ihnen sage.“ entgegnete er. „Und das solltest du auch, Lily.“ Er sah ihr in die Augen und grinste. Dann hob er sein Glas, trank es in einem Zug aus und stellte es mit einem Knall auf den Tisch. Er trat dicht vor sie hin und jetzt merkte sie, dass er zwar nicht mehr nüchtern war, aber auch nicht richtig bezecht - jedenfalls nicht nur vom Wein.

„Du hast recht, meine schöne Lily.“ sagte er. „Die Ausgangssperre habe ich erfunden... aber irgendeinen Grund mussten meine Männer dir ja sagen, nicht wahr? Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet – genauso genommen seit letztem April.“

„Wie meinst du das?“ fragte sie leise und spürte, wie ihr Mund trocken wurde.

„Weißt du... ich habe Euch damals gesehen, dich und ihn, auf dem Frühlingsfest. Ich bin Euch nachgegangen, als Ihr euch davongemacht habt, und ich habe Euch beobachtet. Er hat es dir besorgt, auf der Waldlichtung. Er hat es dir ordentlich gegeben, oder?“ Lotho kam einen Schritt dichter heran. „Ich konnte euch ausgezeichnet hören. Ihr habt es beide genossen, du kleine Schlampe."

Ihr wurde eiskalt; ihre Finger waren plötzlich taub. Sie musste hier hinaus, und zwar schnell. Mit wenigen Schritten war sie bei der Tür, griff nach dem Knauf und drehte ihn. Die Tür öffnete sich nicht, obwohl sie kräftig daran rüttelte. Endlich begriff sie – er hatte sie eingeschlossen. Und er hatte den Schlüssel in der Tasche.

„Was soll das?“ fragte sie scharf.

„Hast du dich nachts von Zuhause fortgeschlichen, damit er auch hier mir dir schlafen konnte? Wo, Lily? In der Küche? In seinem Bett? In diesem Zimmer?“

Sie wirbelte zu ihm herum.

„Ist es das, worum es geht, ja, Lotho?“ sagte sie. „Wahllos alles zu stehlen, was sein war? Seinen Smial, seine Ländereien, seine anderen Besitztümer... und sie dann mutwillig zu zerstören? Um dich dafür zu rächen, dass er der Bessere und Klügere ist? Dass er ein guter und freundlicher Edelhobbit ist, während du dich aufführst wie ein gieriges Ferkel, das alles beschmutzt, was es anfasst?“

Ein mörderisches Licht blitzte in seinen Augen auf.

„Er kommt nicht wieder.“ sagte er böse. „Er hat dich sitzen lassen und ist mit seinem feinen Gärtner nach Krickloch abgehauen, und von dort aus wer weiß, wohin. Er hatte seinen Spaß mit dir, und irgendwann hat er die Nase voll gehabt. Besser, du hältst dich an mich, mein Mädchen.“

„An dich?“

Lily lachte, und für ein paar Sekunden zuckte er vor der ätzenden Heftigkeit ihrer Verachtung zurück. „Ein Mädchen muss schon sehr verzweifelt sein, um sich an dich zu halten, du schmieriger, kleiner Halunke!“

Er starrte sie einen Moment mit geballten Fäusten an, dann nahm er sich wieder zusammen. Sein flackerndes Lächeln wurde zu einem Grinsen und seine Augen klebten hungrig an ihrem Ausschnitt, mit einem Licht darin, an das sich sich noch vom letzten April erinnerte. Aber damals war Frodo zu ihrer Rettung erschienen, und jetzt konnte er nicht kommen. Sie war auf schreckliche, unerträgliche Weise allein.

„Lass mich gehen, Lotho.“ sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen, das Gesicht sehr weiß. „Mach diese Tür auf und lass mich hinaus.“

„Oh nein.“ sagte er leise, und dann packte er sie und presste seine Lippen auf ihren Mund. Sie hielt einen Moment still, trotz ihrer bösen Vorahnungen fassungslos und eigenartig überrascht. Sie spürte seine Zunge und die harte Schwellung, die gegen ihren Oberschenkel gedrückt wurde... dann hob sie die freie Hand und zog ihre Fingernägel über seine Wange.

Mit einem Aufkeuchen wich er zurück; sie befreite sich mit einem Ruck aus seinem Griff, drehte sich um und brachte mit ein paar Schritten den Schreibtisch zwischen sich und ihn.

„Ich hatte Recht.“ flüsterte sie; sie konnte vor Schrecken und Zorn kaum atmen. „Du hast wirklich den Verstand verloren... wie kannst du es wagen!“

Er kam näher und stützte beide Hände auf die Tischplatte. Als er sich vorbeugte, wich sie an die Wand zurück. Du hast es gewusst, flüsterte eine verzweifelte, kleine Stimme in ihrem Kopf. Du hast es gewusst. Er hat es schon einmal versucht, und jetzt hat er dich endlich in seiner Falle gefangen.

„Ich wollte dich immer schon.“ Sein Gesicht war mindestens ebenso blass wie das ihre, und die Kratzer von ihre Nägeln zeichneten ein gleichmäßiges, tiefrotes Muster über seine Wange. „Aber du hast mich nicht mal angesehen. Statt dessen bist du mit diesem Brandybock-Emporkömmling ins Bett gestiegen, und obendrein noch heimlich. Zum Heiraten warst du ihm wohl nicht gut genug, was?“

„Das geht dich nichts an, Lotho Pickel.“ Ihre Augen flammten. „Was er und ich gehabt haben, würdest du nie verstehen. Und du kannst ihm nicht das Wasser reichen, nicht in tausend Jahren. Ich liebe ihn, und was immer du auch heute Abend vorhast, es wird nichts daran ändern.“

Er grinste; es sah aus, als fletschte ein Wolf die Zähne.

„Frodo ist weg. Wahrscheinlich ist er sowieso tot, und das weißt du. Jetzt bin ich an der Reihe.“

Er umrundete den Schreibtisch, und bevor sie ausweichen konnte, presste er sie gegen das Regal. Wieder spürte sie das harte Glied an ihrem Leib und kämpfte verzweifelt die Panik nieder, die sie zu überschwemmen drohte. Der Schlüssel... wo war dieser Schlüssel? Wenn sie doch nur an seine Westentasche kommen könnte! Ihre Gedanken jagten im Kreis, auf der Suche nach irgend einem Ausweg.

Er packte in ihren Ausschnitt und zerrte; der alte, abgetragene Stoff ihres Mieders gab nach und riss. Überrascht taumelte er ein paar Schritte zurück, und Lily vergaß den Schlüssel, als sie ihre Chance sah, zu entkommen. Sie versetzte ihm einen Stoß mit dem Ellbogen und schoss an ihm vorbei. Aber sie kam nicht weit.

Der Teppich unter dem Schreibtisch war während ihres Kampfes verrutscht; Lily blieb mit dem Fuß in einer tiefen Falte hängen und stürzte. Sie versuchte noch, das Gleichgewicht zu halten, aber es geschah zu schnell. Ihr Kopf schrammte am der Tischkante entlang und erweckte einen weißglühenden, blendenden Schmerz in ihrer Schläfe. Ihr Schädel dröhnte heftig und ihre Wahrnehmung war getrübt durch einen dichten, grauen Nebel; verschwommen spürte sie, wie ihr warmes Blut seitlich über den Kopf sickerte.

Sie fühlte mehr als sie sah, wie er sich über sie beugte. Dann strich kühle Luft über ihre bloßen Beine; Lotho hatte mit einem Ruck ihre schweren, regenfeuchten Röcke hochgeschlagen, und eine Hand wanderte über ihre Schenkel, während die andere die zerfetzten Überreste ihres Mieders beiseite zerrte.

Sie gab einen dünnen, verzweifelten Laut von sich und versuchte, sich aufzurichten – vergebens. Bei der geringsten Bewegung wurde ihr schwindelig und speiübel. Es hatte keinen Zweck. Sie konnte sich kaum rühren, sie konnte nicht einmal wegkriechen.

Bitte, lass es schnell vorbei sein.

Er zog sich zurück und sie hörte das Rascheln von Stoff, während sie den Kopf zur Seite drehte und blicklos ins Leere starrte.

„Das wollte ich tun, seit ich dich mit ihm gesehen hab, damals im Wald.“ Er war wieder über ihr; sein Atem strich heiß und schnell über ihre Wange und er presste den geöffneten Mund auf ihre Haut. „Ich wollte ihn niederschlagen und dich nehmen, gleich da, an diesem verdammten Baum.“

Dann waren seine Hände und sein Mund auf ihren Brüsten und er grub die Finger lieblos in ihr entblößtes Fleisch. Lily stieß einen leisen Schmerzensschrei aus und bäumte sich auf, ohne sich wirklich wehren zu können; ihre Hände tasteten hilflos ins Leere. Sie versuchte sich unter ihm hervor zu winden. Er genoss ihre vergebliche Abwehr sichtlich; sie hörte, wie sein Atem sich beschleunigte, dann stieß er ein leises, knurrendes Lachen aus und biss sie in die Brust.

Der Schmerz war entsetzlich, und für einen Moment verlor die Welt ihre Konturen. Aber dies war kein Fluchtweg, der ihr offenstand... sie kann wieder zu sich und spürte, dass er zwischen ihren Beinen kniete. Der Alptraum war noch nicht vorüber – vielleicht würde er nie enden.

Plötzlich kam ihr das Kräuter-ABC von Amaranth Brockhaus in den Sinn. Amaranth hatte relativ spät lesen gelernt, und sie hatte sich viele Buchstaben gemerkt, indem sie die Kräuternamen zum Üben verwendete. Die Auflistung war Lily immer ein wenig wie ein Lied vorgekommen, und jetzt klammerte sie sich krampfhaft an die Erinnerung, um zu entkommen, um sich dahinter zu verbergen... und um nicht an ihn zu denken. An alles, aber nicht an ihn.

Ackerschachtelhalm für Verletzungen... Arnika für wund geriebene Haut...

Lotho tastete grob und ungeschickt herum, bis er sein Ziel gefunden hatte.

Baldrian zur Beruhigung...Frauenmantel für den Monatsschmerz...

Sein Becken drängte vorwärts und dann stieß er zum ersten Mal zu, und ihr erstickter Aufschrei ging unter in seinem keuchenden Triumph.

Holunder gegen das Fieber...Johanniskraut für den betrübten Sinn...

Der dumpfe Schmerz in ihrem Kopf wurde verdrängt von einer neuen Pein; seine Härte war ein quälender Pfahl in ihrem empfindlichen Fleisch, und sein Gewicht nahm ihr den Atem. Dann stützte er sich auf die Hände und für einen Augenblick war sie ihm beinahe dankbar, dass sie wieder Luft bekam.

Königskerze gegen Entzündungen... Melisse für ein entspannendes Bad...

Er bewegte sich schneller und stieß noch tiefer in sie hinein, als wollte er sie für die niederschmetternde Erkenntnis strafen, dass sie sich ihm noch immer entzog.

Pfefferminze und Rosmarin für den erfrischten Geist... ich ertrage das nicht mehr, es tut so weh... Sauerampfer für reines Blut... oh bitte, ich kann nicht mehr denken... ich will nicht mehr fühlen...

Zuletzt, nach einer qualvollen Ewigkeit, begannen seine Hüften krampfhaft zu zucken. Er stieß einen kurzen, scharfen Schrei aus, sackte über ihr zusammen und lag endlich still.

*****

Als Lily an diesem Abend nach Hause kam, war es stockfinster. Sie schloss die Tür hinter sich, entzündete die Kerzen in dem alten Messingleuchter auf dem Küchentisch und sah sich um. Teller, Becher und Besteck, die ihr Vater für das vorbereitete Abendessen benutzt hatte, standen sauber im Abtropfkorb auf der Steinspüle. Sie nahm den Leuchter, ging hinüber zu seinem Zimmer und trat leise ein.

Er schlief fest. Sein Gesicht war blass, aber als sie seine Stirn berührte, war sie kühl. Neben ihm auf dem Nachttisch stand der Sirup aus Spitzwegerich und Mohn, den sie für ihn zubereitet hatte, und neben der Flasche lag ein Löffel. Das hieß, er würde heute Nacht nicht husten müssen und sich besser erholen.

Lily stand neben seinem Bett und betrachtete ihn.

Papa... sie haben mir aufgelauert heute Abend... sie haben mich nach Beutelsend geschleppt und dort hat Lotho auf mich gewartet... Ich werde nie wieder dort hingehen können, nie wieder... oh Papa...

Aber sie weckte ihn nicht auf. Sie verließ das Zimmer und schloss leise die Tür; dann ging sie in die Küche und hing den großen Kessel über das Feuer. Ihr ganzer Körper war wie zerschlagen, und in ihrem Unterleib spürte sie ein unaufhörliches, dumpfes Pochen. Aber wenigstens die Kopfschmerzen hatten nachgelassen, jetzt da die Beule mit dem tiefen Kratzer, die sie sich beim Sturz gegen den Tisch zugezogen hatte, nicht mehr der kalten Winterluft ausgesetzt war.

Sie dankte dem Schicksal, dass der Stolzfuß-Smial eine Küchenpumpe besaß, und sie füllte methodisch einen Krug nach dem anderen, bis sie den Kessel bis fast zum Rand vollgegossen hatte. Während sie darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde, zog sie die kleine Sitzbadewanne, die immer in einer Ecke der Küche wartete, in die Mitte des Zimmers. Glücklicherweise hatte sie das schon so oft getan, dass sie nicht mehr darüber nachdenken musste. Sie holte Handtücher, Seife, einen kleinen Tiegel mit Ringelblumensalbe und ein paar sauber zurechtgeschnittene Gazestücke, die sie immer für Verbände bereithielt.

Endlich hatte sie genug heißes Wasser und sie fügte kaltes hinzu, bis sie die Temperatur angenehm fand. Dann streifte sie ihre noch immer feuchte Kleidung ab und ließ sich vorsichtig in die Wanne sinken. Es war lange nach Mitternacht und alles war so still, dass sie das leise Fauchen der Flammen im Kamin hören konnte und das gedämpfte Plätschern der kleinen Wellen gegen den Rand der Wanne.

Lily saß fast eine Viertelstunde regungslos im dampfenden Wasser, bevor sie sehr methodisch daran ging, sich mit der Lavendelseife zu waschen, die sie im letzten Sommer gemacht hatte... parfümiert mit ein paar Tropfen aus dem Fläschchen, das ihr Frodo aus Bockland mitgebracht hatte... am Abend des Frühlingsfestes.

Ich bin Euch nachgegangen, als Ihr euch davongemacht habt, und ich habe Euch beobachtet. Er hat es dir besorgt, auf der Waldlichtung. Ich konnte euch ausgezeichnet hören. Ihr habt es beide genossen, du kleine Schlampe.

Sie stand auf, seifte ihre Arme ein, ihren Bauch und ihre Beine. Die Innenseiten ihrer Schenkel waren wund und die Seife brannte auf der empfindlich gereizten Haut. Dann spülte sie sich mit der Kanne ab, stieg aus dem Wasser und wickelte sich in ein großes Handtuch.

Sie holte den silbernen Spiegel, den ihr einst Bilbo Beutlin geschenkt hatte, trug ihn ans Feuer, suchte ihr Verbandszeug zusammen und kniete sich auf den kleinen Wollteppich vor dem Kamin. Der Spiegel zeigte ihr ein totenblasses Gesicht mit undurchdringlichen Augen. Die Beule an ihrer Schläfe hatte aufgehört zu bluten. Sie kippte den Spiegel, und sah die Kratzer auf ihrer Haut und das dunkle, blaurote Mal auf der linken Brust.

Er hatte sich aus ihr zurückgezogen, war aber noch nicht aufgestanden. Er lag über ihr, auf einen Arm gestützt, als sie ihm endlich ihr Gesicht zuwandte.

„Lass mich in Ruhe.“ sagte sie leise. „Du hast gehabt, was du wolltest. Jetzt lass mich gehen.“

„Und wenn ich es wieder tue? Du weißt, ich krieg dich!“ Seine Stimme klang trotzig und herausfordernd, aber sie konnte die enttäuschte Wut darin hören.

„Wozu?“ sagte sie müde. „Was willst du dir beweisen? Dass du imstande bist, noch mehr Schande über dich zu bringen?“

Lily tupfte vorsichtig Salbe auf das Mal und legte ein Gazetuch darüber, bevor sie steifgliedrig in ihr Nachthemd schlüpfte. Es würde heilen. Es musste heilen.

„Du musstest Gewalt anwenden, um zu bekommen, was ich Frodo mit Freuden gegeben habe.“ sagte sie leise und stützte sich mühsam auf die Ellbogen. „Lass mich gehen – du machst mich krank.“

Hass glomm in seinen Augen.

„Wenn er wirklich zurückkommt, kann er dich ja zurückkriegen... wenn er überhaupt noch will, was ich ihm übrig gelassen habe."

Er stand auf, brachte mit brüsken Bewegungen seine Beinkleider in Ordnung und warf ihr den Mantel zu. Einen Moment blieb er noch stehen und starrte sie an; wieder sah sie die Wut in seinen Augen und etwas, das beinahe aussah wie Furcht. Dann ging er mit schnellen Schritten hinaus.

Sie lag in ihrem Bett und starrte mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit. Das zerfetzte Mieder hatte sie unter einem Haufen Schmutzwäsche versteckt; sie würde es morgen verbrennen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, ihrem Vater diesen Alptraum aufzubürden. Er war schwach und krank. Und der einzige, der sie vielleicht verteidigt haben würde, war fort.

Oh, mein Liebster, mein Liebster...

Bilder zogen vor ihrem Inneren vorbei, hell und freundlich... Erinnerungen an kerzenerleuchtete Abende, an den Geruch nach Tinte und den ruhigen, sanften Klang einer geliebten Stimme. Hände, die zärtlich streichelten und Lippen, die ihre Haut liebkosten...

Frodo ist weg. Wahrscheinlich ist er sowieso tot, und das weißt du. Jetzt bin ich an der Reihe.

Lotho hatte auf grausame Weise Recht. Und nicht nur Frodo war fort, Fort war jetzt auch das Mädchen, das mit leuchtenden Augen dem Herren von Beutelsend beim Tanzen zugesehen hatte, fort war die Jungfer, die sich aus ganzem Herzen verschenkte, freudig und bei aller Lust voller Unschuld.

„Wenn er wirklich zurückkommt, kann er dich ja zurückkriegen... wenn er überhaupt noch will, was ich ihm übrig gelassen habe.“

Selbst wenn er zurückkam... was sollte er jetzt noch mit ihr anfangen? Die Verletzungen mochten heilen, aber Lotho hatte nicht nur ihrem Körper sein Siegel aufgedrückt, sondern auch ihrer Seele.

Sie krümmte sich zusammen, vergrub das Gesicht in ihrem Kissen und erstickte darin den qualvollen Schrei nach dem, was gewesen war und nie wieder sein würde.


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