Ein anderer Abschied (Another Way of Leaving)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel 2
Heil dir, Stich

Das Problem mit dem Reiten war, dass es ihm zuviel Freiheit zum Nachdenken ließ. Er stellte sich die Szene am Morgen vor, wenn Sam seine Tür verriegelt fand. Er würde sich wahrscheinlich nicht viel dabei denken, wenn Frodo bis zur Mitte des Vormittages nicht auftauchte. Dann würde er kommen und klopfen, leise erst, dann laut und drängend, und er würde seinen Namen schreien. Endlich würde er Werkzeug holen und die Tür aus den Angeln hebeln, voller Angst, was er in dem stillen Zimmer finden mochte.

Und alles, was er finden würde, war die Notiz. Frodo hatte daran gedacht, ihm das Sternenglas zurück zu lassen – er hatte es nicht nötig, dort, wo er hinging! Und Sam würde es zu schätzen wissen, um seihet – als auch um seines Herrn willen. Aber das Sternenglas würde seine wahre Absicht preisgeben, denn er würde es sicher nicht zurücklassen, wenn er tatsächlich in die weite Welt auf Abenteuer auszog. Also war da für Sam nur die Notiz zu finden, diese mitleidige, lügnerische Notiz.

Und all seine Kleider. Er hatte vergessen, dass er ein paar Kleidungsstücke hätte einpacken sollen, um seiner Lüge Glaubwürdigkeit zu verleihen. Er hoffte, Sam würde sich nicht damit aufhalten, festzustellen, dass er nur das mitgenommen hatte, was er am Leib trug. Er war bereits drei Stunden weit weg von Hobbingen, als ihm dieser Gedanke in den Sinn kam - zu spät, um zurück zu gehen und den Fehler zu korrigieren.

Es war schwer, Sam zu verlassen. Aber er hatte Rose und Elanor, und Beutelsend würde ihm ebenfalls gehören. Die Papiere waren sämtlich aufgesetzt, rechtmäßig und sauber bezeugt, bei Merry zur Aufbewahrung hinterlassen. Merry wusste natürlich nicht, was sie enthielten. Er hatte ihm den großen, versiegelten Umschlag gegeben und ihn gebeten, gut darauf zu achten. Merry hatte ihn merkwürdig angeschaut, es aber unterlassen, ihn auszufragen; er hatte bloß bemerkt, dass er sich auf seine alten Tage so eigenartig aufführte wie Bilbo, und Frodo hatte gelacht und zugestimmt.

Sam würde eine Weile trauern – nicht zu lange, wie er hoffte, da er sich im Glauben befand, dass sein Herr auf eigenen Wunsch auf Abenteuersuche gegangen war. Sam hatte alles, was er zu seinem Glück brauchte, und die einzige Bedrohung dieses Glückes bewegte sich in stetigem Trab fort von Hobbingen.

Er zwang seine Gedanken von Sam fort.

Merry würde es gut gehen. Seine Begegnung mit der Finsternis hatte ihn stärker und weiser gemacht, so wie Aragorn es vorausgesehen hatte. Solange er nicht von irgend einem Schrecken überwältigt wurde – wie zum Beispiel, seinen Vetter im Brandywein ertrunken vorzufinden! – hatte Merry gute Aussichten auf ein langes, produktives Leben. Er würde einen würdigen Herrn vom Brandyschloss abgeben.

Und Pippin, gesegneter, unerschütterlicher Pippin! Er war beinahe unversehrt durch Gefangenschaft und Entsetzen gelangt, durch Schlachten und den knapp vermiedenen Tod unter einem Bergtroll. Sein Lachen war so ansteckend, sein Lächeln so strahlend wie an dem Tag vor zweieinhalb Jahren, als sie das Auenland verlassen hatten. Er hatte sicherlich gelitten, aber das hatte ihn umso mehr gefestigt, und kein Schatten hatte in ihm Wohnung genommen. Das Leid hatte ihn gehärtet wie ein gutes Schwert. Was für ein Thain er sein würde, wenn seine Zeit kam! Frodo dachte nicht, dass er sich, was Pippin anging, etwas auf das Gewissen laden musste.

Mit Bilbo war es eine andere Sache. Bilbos wegen drückte ihn sein Gewissen. Ende letzten Jahres war die Nachricht von seinem Tod aus Bruchtal gekommen. Frodo wäre zuvor fast hingereist, um ihn an seinem Geburtstag zu besuchen, aber seine Wunden schmerzten ihn und das Buch war beinahe fertig – er hatte es bis zum kommenden Frühling verschoben, und das war zu spät gewesen. Dann hatte er in seinem Herzen einen neuen Schmerz zu tragen, weil er nicht rechtzeitig zurück gegangen war, um Lebewohl zu sagen.

Oh Bilbo. Wenn es im Jenseits irgend etwas gibt – wenn es etwas gibt, dann sehe ich dich bald. Ich werde Hallo sagen, Bilbo, und niemals wieder Abschied nehmen.

Aragorn – er sagte, dass er denkt, es gäbe etwas im Jenseits. Ich nehme an, bis morgen früh werde ich es wissen.

Das Land rings um ihn her stieg jetzt an, wogend gerundete Hügel, wie Meereswellen im Mondlicht. Wie die Wellen um das Elbenschiff, das er von den Grauen Anfurten hatte fortsegeln sehen, das Schiff, das Gandalf und Elrond und Galadriel in den Westen trug, in das Land, wohin Sterbliche nicht gehen konnten. Mittelerde kam ihm sehr düster vor, als sie fort waren.

Das Pony verlangsamte seinen Gang zum Schritt; es kletterte bergan. Frodo hatte mehrere Male angehalten und das Tier ausruhen lassen. Das Pony war ein leichtes Problem; was sollte er mit ihm tun? Wenigstens hatte es keine besonderen Kennzeichen, nicht wie der weiße Streifen an Merrys Pony. Streicher war von einem schlichten Braun, stark und gutherzig, aber es gab nichts an seiner Erscheinung, das ihn hervorstechen ließ.

Wenn ich ihm Sattel und Zaumzeug abnehme und ihn im Wald freilasse, dann wird er seinen Weg in irgend einen Stall finden. Er wird kaum den ganzen Weg nach Hause zurücklaufen, wo man ihn erkennt. Aber ich mache das am besten, bevor ich dort hinkomme und achte darauf, dass er verschwindet, bevor ich zu der Höhle wandere. Ich will nicht, dass er am Eingang herumsteht und darauf wartet, dass ich wieder herauskomme!

Eine Stunde noch, vielleicht weniger. Er berührte Stich in seiner Scheide. Bald.

Wie Turin Turambar würde er durch sein eigenes Schwert sterben. Diese Geschichte hatte ihn immer erschaudern lassen. Herauszufinden, dass alles, was im Leben gut war, auf den Kopf gestellt wurde, niedergeworfen zu werden in der Stunde des Triumphs, die geliebte Frau nicht nur tot, sondern die einzige Frau auf der ganzen Welt, die man nicht hätte heiraten sollen---! Nun, wenigstens war ihm bei all seinen Erlebnissen dieses Übel erspart geblieben. In all seinem Versagen und seiner Schande war er nie zu der Erkenntnis gekommen, dass er mit seiner Schwester vermählt war! Natürlich hatte er gar keine Schwester.

„Heil dir, Gurthang,“ murmelte er, als er sich an das Ende der Geschichte erinnerte, „Vor keinem Blut schreckst du zurück. Wirst du mich rasch erschlagen?“

Der Mond sank hinter die Hügel. Er war fast da. Er zügelte das Pony und schwang sich aus dem Sattel. Er löste den Gurt, hob den Sattel hinunter und nahm das Zaumzeug ab. Das Pony stupste ihn fragend gegen die Brust.

„Nein, ich habe nichts für dich. Es tut mir Leid, ich hätte daran denken und einen Apfel mitbringen sollen oder so etwas." Er lehnte sich gegen den seidigen Hals und seine Hand spielte mit der Ponymähne. „Sam hätte daran gedacht, dir einen Apfel mitzubringen, Streicher, selbst wenn er die Absicht hätte, sich in sein Schwert zu stürzen. Ich fürchte, du hast Pech mit deinen Herren. Ich hoffe, wer auch immer dich findet, wird gut zu dir sein.“

Er wich zurück und gab dem Pony einen Klaps auf den Rumpf. „Los jetzt! Ab mit dir, und finde einen neuen Herrn – und pass auf, dass es jemand ist, der daran denkt, dir einen Apfel mitzubringen!“

Er wartete zehn oder fünfzehn Minuten, während Streicher langsam davon zockelte, bis er das Pony in dem schwachen Licht nicht mehr sehen konnte. Dann legte er sich Zaumzeug und Satteltaschen um den Hals und hob den Sattel auf. Die Höhle war vielleicht eine halbe Meile weiter, und es war mühselig, den Sattel zu schleppen und sich gleichzeitig den Weg auf dem rauen Gelände zu suchen.

Als er die Höhle endlich erreichte, schwitzte er und keuchte vor Anstrengung. Er ließ den Sattel hinein fallen und kletterte hinterher in die Tiefe. Dann bewegte er sich weiter in den unterirdischen Raum hinein und zog das Sternenglas heraus, um seine Schritte zu erleuchten. Er legte den Sattel ab, setzte sich darauf und lehnte sich nach hinten an die Wand. Er war erschöpft – er hatte seit Monaten nicht mehr so viel Bewegung gehabt.

Er hatte keine Ahnung gehabt, dass es so mühsam war, zu sterben. Ich werde erst zu Atem kommen müssen, bevor ich mich umbringen kann, dachte er. Das kam ihm komisch vor, und er lachte leise.

Endlich erhob er sich und knöpfte sein Hemd auf. Bald würde es Morgen sein, und er war entschlossen, keinen weiteren Morgen mehr zu erleben. Er ließ das Hemd zu Boden fallen und zog sein Schwert.

Wie sollte er dies tun? Die Höhlenwand war rau und zerklüftet – er tastete mit seinen Fingern darüber hin, bis er eine Vertiefung fand, die die richtige Größe zu haben schien, und er drückte Stichs Griff hinein.

Spielte es eine Rolle, ob er tatsächlich sein Herz durchbohrte? Es mochte ein wenig verzwickt sein, auf den Punkt zwischen seinen Rippen zu zielen. So lange es sauber durch ihn hindurch ging, sollte es wirksam genug sein. Er hielt die Seitenteile des Hefts so gut er konnte fest und bog leicht den Rücken durch, damit die Klingenlänge zwischen seinen Körper und die Wand passte – gleich unter seinem Brustkorb.

Er presste seinen Körper leicht gegen die Spitze, um sie zu stabilisieren, und ein Blutstropfen erschien.

„Heil dir, Stich,“ sagte er; er erinnerte sich an die Geschichte und zog den Augenblick in die Länge, „Wirst du Frodo, den Sohn des Drogo nehmen? Wirst du mich rasch erschlagen?“

Er holte tief Atem und stählte sich, bereit nach vorne in die Klinge zu fallen, und ein kaltes Flüstern antwortete ihm.

Gurthang bin ich nicht! Beschäme mich nicht, Ringträger!

Er zitterte vor Schrecken und Kälte – die Höhle war zugig ohne sein Hemd – und die Spitze drang ein wenig tiefer und brachte mehr Blut zum Vorschein. Da war keine Stimme gewesen: es war nur seine Einbildung. Hierbei darfst du nicht versagen, Frodo. Du kannst doch wenigstens sterben, wenn du schon sonst nichts tun kannst!

Bisher habe ich noch niemals unschuldiges Blut getrunken, sprach das Flüstern. Beschäme mich nicht!

Er zuckte zusammen und wich vor dem Stahl zurück; das Schwert klapperte auf den felsigen Fußboden. „Ich bin nicht unschuldig!“ protestierte er und starrte darauf nieder. Aber das Flüstern hing in der Luft. Beschäme mich nicht! Blut rann aus der oberflächlichen Wunde an seinem Körper hinunter.

Endlich bückte er sich und hob sein Hemd auf; er benutzte einen Zipfel, um den Blutfluss einzudämmen, dann nahm er das Schwert und wischte mechanisch die Spitze sauber.

Wieso hatte er geglaubt, dass er Stich benutzen konnte? Das Schwert hatte ihn gegen Kankra und gegen die Orks in Moria verteidigt – es war fast, als würde er Sam bitten, ihn zu töten. Es war uralt, in dämmernder Vergangenheit von den Eldar geschmiedet, die Zeit, da es ihm gehörte, ein knapper Augenblick in seiner langen Geschichte. Aber es war eine ehrenvolle Klinge, und sie würde beschämt sein, wenn sie den Herrn erschlagen sollte, den sie verteidigt hatte. Er polierte das Schwert und achtete darauf, dass keine Spur von seinem Blut darauf zurück blieb. Dann steckte er es zurück in die Scheide.

Wie aber dann? Bald würde es Morgen sein.

Er hatte kein Seil, aber er hatte das Ponyzaumzeug. Er konnte einen Weg finden, sich damit zu erhängen, falls er einen Vorsprung entdeckte, an dem er es befestigen konnte. Er hielt suchend das Sternenglas hoch, aber das Dach der Höhle war weit außerhalb seiner Reichweite, und er konnte keine Unregelmäßigkeit in der Wand finden, die seinem Zweck dienlich war.

Es gab genügend Bäume. Draußen, aber das würde seine Leiche für jeden sichtbar machen, der vorbei kam. Es würde Untersuchungen geben, und die Nachricht würde früher oder später Sam und seinen Vettern zu Ohren kommen. Er brauchte eine Möglichkeit, in der Höhle zu sterben.

Endlich setzte er sich hin, frierend und ausgepumpt, und zog sein Hemd wieder an. Wie typisch, dachte er bitter, dass er nicht einmal seinen eigenen Tod zuwege brachte! Die Satteltaschen lagen neben ihm und er zog das Brot und das Fleisch heraus, das er, wie es ihm jetzt vorkam, vor einem ganzen Zeitalter eingepackt hatte, nicht erst gestern Abend.

Zu dumm, dass er nicht daran gedacht hatte, Gift mitzubringen – nicht, dass er gewusst hätte, wo man welches fand. Gift wäre ideal – tief in die Höhle zurück kriechen und es hinunter schlucken, und er würde niemals gefunden werden und niemals mehr Kummer über eine lebende Seele bringen. Und dann wurde ihm klar, dass er doch wusste, wo man Gift finden konnte. In den Wäldern, unter den Blättern. Es war Frühling. Es würde Pilze geben. Bilbo hatte ihn vor langer Zeit gelehrt, die zu erkennen, die man sicher essen konnte – aber natürlich hieß das auch, dass er die anderen genauso gut kannte. Die, die zu essen den Tod bedeutete.

Es war noch dunkel, aber bald würde der Morgen kommen. Wenn es hell genug war, um etwas zu sehen, würde er ein letztes Mal auf die Jagd nach Pilzen gehen. Er legte sich hin, den Kopf auf seiner Satteltasche; er zog die Decke über sich und wartete auf das Tageslicht.


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